Now it's dark - Nachruf auf David Lynch

von Marc Schießer / 17. Januar 2025

Die Dunkelheit erstickt das flackernde Licht, die letzten Nebelschwaden verfliegen, das saftige Grün der Gräser vergeht, während die Kamera ein letztes Mal in den Boden gleitet und vollständig vom Schwarz des Erdreichs verschluckt wird.

Gestern, am 16. Januar 2025, ist mit 78 Jahren David Lynch von uns gegangen, und mit ihm hat die Filmwelt eine ihrer größten Legenden verloren. Nur ganz wenige Regisseure haben es zu ihrem eigenen Adjektiv gebracht, und keines davon habe ich im Filmdiskurs der letzten Jahrzehnte auch nur annähernd so oft vernommen wie „Lynchig“, „Lynchian“ oder „lynchesk“. Was zugegebenermaßen häufig einfach als fauler Shortcut verwendet wird, um alles zu kategorisieren, was irgendwie „anders“, „seltsam“, „strange“ oder „weird“ ist, hat natürlich eine viel tieferliegende Berechtigung.

Denn seine Filme, seine Musik, Malerei und nicht zuletzt der Mann selbst waren so einzigartig, spezifisch und unnachahmlich DAVID LYNCH, dass die Notwendigkeit einer neuen Wortschöpfung auf der Hand lag, wie die Ameisen in Buñuels Un chien andalou, einem seiner erklärten Lieblingsfilme.

Denn ein Lynch-Film funktioniert vor allem über, wegen und für ein sehr spezielles Gefühl. Seine albtraumhaften Bilderwelten, untermalt von ungemein dichten, immersiven Tonspuren, entsprangen scheinbar häufig direkt seinem Unterbewusstsein und sollten dementsprechend auch in dem seiner Zuschauer andocken, anstatt sich auf Worte reduzieren zu lassen, und sich gerade wegen ihrer häufigen Unerklärbarkeit tief ins Gedächtnis brennen. Was ihm definitiv gelungen ist, wenn ich nur an all die unzähligen Szenen, Bilder, Momente, Farben und Töne denke, die einem nun anlässlich seines Todes vor dem geistigen Auge ablaufen:

Wie viele Filme gibt es schon, bei denen die Silhouette der Frisur (!) des Hauptdarstellers ausreicht, um sofort zu wissen, worum es sich handelt? Doch die Haarpracht von Jack Nance als Eraserhead ist bei weitem nicht das Seltsamste an Lynchs Debüt gewesen, den er mit sehr wenig Geld über einen Zeitraum von vier Jahren mit Freunden drehte und der so wahnsinnig neuartig, kompromisslos und ja, strange war, dass er seine verstörten Zuschauer praktisch zwang, sich wiederholt diesem Albtraum auszusetzen, um ihn verarbeiten zu können.

Weswegen die winzige Indie-Produktion dann einfach mal eines DER originalen Midnight Movies war, also eine ganz bestimmte Gattung an Kultfilmen, die eine eingeschworene Fangemeinde jahrelang (!) nach Mitternacht in angesagte New Yorker Kinos pilgern ließ, um ein Stück Gegenkultur zu zelebrieren. Man mag sich kaum vorstellen, wie originell und grenzüberschreitend der Film damals 1977 gewirkt haben muss, wenn zum düster-industriellen Sounddesign von Alan Splet grauenvolle Creature-Puppets geboren wurden, während eine deformierte Frau hinter der Heizung „In Heaven everything is fine“ säuselte. Ich hoffe, Mr. Lynch hat Recht behalten und blickt gerade guter Dinge auf uns herunter.

Ins Gedächtnis kommen mir als Nächstes die unendlich satten roten Rosen, die vor einem schneeweißen Palisadenzaun ihre Blüten in einen knallblauen Himmel strecken, während Bobby Vinton von Blue Velvet schmachtet – und damit ein gutes Beispiel für den ganz bewussten heimeligen Americana-Kitsch abgeben, mit dem Lynch seine düster-gewalttätigen Trips stets konterkariert hat.


 

Gewaltig wie Dennis Hopper, als einer der eindrucksvollsten Bösewichte der Filmgeschichte: Frank Booth. Das Atemgerät auf den mit Lippenstift grotesk verschmierten Mund pressend, der wie ein Baby nach dem blauen Samt bettelt, nur um Sekunden später seine sadistischen Tobsuchtsanfälle an einer verstört-betörten Isabella Rossellini auszulassen. Und der, wie so vieles in Lynchs Werk, bei aller Düsternis immer wieder einen sehr verschrobenen Humor offenbart, der mich oftmals laut zum Lachen bringt, wie mein Lieblingsdialog aus seinem Durchbruchswerk von 1986:

Frank Booth: Hey, you wanna go for a ride?

Jeffrey Beaumont: No thanks.

Frank Booth: No thanks? What does that mean?

Jeffrey Beaumont: I don’t wanna go.

Frank Booth: Go where?

Jeffrey Beaumont: For a ride.

Frank Booth: A ride! Now that’s a good idea!

Viel Humor ist auch in Wild at Heart, einer grotesken Mischung aus Heavy-Metal-Gewaltexzess und „Zauberer von Oz“-Symboliken, bei denen Nicolas Cage in seiner Schlangen-Lederjacke Elvis singend eine seiner absoluten Karrierebestleistungen ablieferte. Zusammen mit Laura Derns „Luna“ ist sein „Sailor“ eine der Kultfiguren aus Lynchs Werk und soll hier exemplarisch für eine bizarre Einzigartigkeit stehen, die für viele Zuschauer einfach nur befremdlich sein kann, andere aber genau deswegen wiederum so sehr ins Herz traf, dass die beiden „Lovers on the Run“ zu einem der meist tätowierten, filmbezogenen Spirit-Animals der ausgehenden 90er gehören dürften.

In kultischer Verehrung mit Sicherheit nochmal übertroffen von der Fangemeinde, die sich mit glühender Begeisterung um Twin Peaks scharte und die seit Jahrzehnten immer wieder abtauchen will in die so bedrohliche wie beruhigende Atmosphäre dieser fiktiven Kleinstadt mit ihrem Sägewerk, den Douglas-Kiefern, dem One-Eyed Jack‘s, dem Double R Diner und „Damn good pie & fine coffee“. Eine Sekunde des Main Themes von Angelo Badalamenti, dem Komponisten, mit dem Lynch über seine gesamte Karriere zusammenarbeitete, reicht aus, um all diese Dinge wieder auferstehen zu lassen, die sich tief in der Popkultur verankert haben.

Überhaupt Twin Peaks. Man kann den Einfluss dieser Serie gar nicht überschätzen. Mit ihrer fortlaufend immer neue Mysterien und Geheimnisse spinnenden Erzählweise, einer Tiefe in der Charakterzeichnung sowie der Komplexität der erdachten Welt hat der damalige Straßenfeger das Medium TV-Serie revolutioniert wie kein anderes Werk und praktisch alles, was danach kam, für immer verändert und beeinflusst.

Erst 2017 schloss Lynch die Serie mit einer The Return betitelten dritten Staffel und traurigerweise seinem nun finalen Werk ab und bewies damit auch im hohen Alter absolut ungezügelte Schaffenskraft und Normen sprengende Kreativität, was einer der Gründe dafür gewesen sein dürfte, dass das renommierte Cahiers du Cinéma die Serie zum „Besten Film“ des Jahres kürte.

Mein persönlicher bester Film des Jahres 1997 war wiederum schon immer einer meiner absoluten Favoriten: Lost Highway. Ich empfand den oft gehörten Vorwurf, David Lynch würde „einfach irgendwelchen zusammenhanglosen Unsinn drehen, im Wissen, seine Anhänger würden dem so oder so eine tiefere Bedeutung andichten“, immer schon ziemlich haltlos. Hier bei Lost Highway muss ich aber einmal auf diese Grundsatzdiskussion eingehen: Anders als bei vielen anderen seiner Filme kann ich auch nach unzähligen Sichtungen nicht ganz genau sagen, was der Plot eigentlich ist, was wirklich passiert und welche Aussage die kunstvoll verschränkten Traumebenen und Identitätswechsel evozieren wollen. Und für mich ist der Film das beste Beispiel, dass das nicht nur vollkommen egal ist, sondern sogar den eigentlichen Punkt verfehlt. Es geht gar nicht darum, den Film aufzuschlüsseln, seine Elemente genau zu sortieren, ihnen eine sachliche Bedeutung zuzuschreiben, um sie dann ordentlich wieder aufzureihen und wiedergeben zu können. Das sind Mittel der Sprache, und dazu hatte Lynch folgendes zu sagen:

„Cinema is a language. It can say things—big, abstract things. And I love that about it. I’m not always good with words. Some people are poets and have a beautiful way of saying things with words. But cinema is its own language. And with it you can say so many things, because you’ve got time and sequences. (…) And you can express a feeling and a thought that can’t be conveyed any other way. It’s a magical medium.“ — Aus seinem Buch Catching the Big Fish

Das Gefühl, der Rausch aus Bildern, Musik, Stimmungen und Assoziationen ist bei Lost Highway für mich auch nach Dutzenden Wiederholungen so intensiv und überwältigend, dass ich auch gar nicht wissen will, „worum es eigentlich geht“, weil das das Erlebnis nur kleinreden und seiner Wirkungsmacht berauben würde. Denn Worte können nicht so groß sein wie der Moment, in dem Patricia Arquette zu Lou Reeds „This Magic Moment“ von einem Auto ins andere geführt wird und es um uns Zusehende genauso hoffnungslos geschehen ist wie um die Hauptfigur Pete.

Überhaupt die Musik. Neben den unvergesslichen, berührenden Melodien des schon angesprochenen Angelo Badalamenti (als unzufriedener Espresso-Trinker auch vor der Kamera zu sehen in Mulholland Drive) hatte er auch schon immer ein wahnsinnig starkes Händchen für unfassbar gut zusammengestellte Soundtracks. So hat Lost Highway mal eben Rammstein in den USA bekannt gemacht und Trent Reznor lange vor seiner Zusammenarbeit mit David Fincher zu seinen ersten expliziten Filmkompositionen geführt. Wofür sich der Meister 2014 mit einem späten, gut als Stellvertreter für seine vielen verrückten Kurzfilme und Videoinstallationen herhaltenden Musikvideo bedankte.

1999 bekam Lynch dann die Möglichkeit, an den Erfolg von Twin Peaks anzuknüpfen und eine weitere bahnbrechende TV-Serie zu entwickeln. Die auftraggebenden Kleingeister von ABC waren jedoch derartig verstört von dem ersten Material (was haben sie denn bloß erwartet?!), dass die Serie unvollendet eingestampft wurde. Und was macht Lynch? Er montiert das Material neu als Spielfilm (auch diese Version wurde von ABC übrigens abgelehnt), findet schließlich neue Investoren bei den Franzosen von Canal+, dreht mit sieben Millionen weitere Szenen und erstellt aus der unglücklichen Produktion nicht weniger als sein absolutes Meisterwerk: Mulholland Drive. Ein Film von so unfassbarer Größe, Eleganz und monumentaler Kraft, dass er jetzt schon mehrfach (!) auf verschiedenen Kritiker-Durchschnitts-Listen zum besten Film des 21. Jahrhunderts. gewählt wurde. Und das mit Recht, denn so etwas wie Mulholland Drive hat es vorher noch nicht gegeben und wird es danach auch nie wieder geben.

Und hier können wir noch einmal zum Vorwurf der angeblich zufälligen Sinnlosigkeit seines Schaffens zurückkehren: Wenn man nach einer verwirrenden Erstsichtung einmal mit Hilfe der tausenden Interpretationen des Internets und einer mittlerweile sehr weit verbreiteten „Hauptlesart“ das Dickicht der Handlung entwirrt hat, wird man schnell feststellen müssen, wie nahezu glasklar der Film ist. Und dass jedes Detail keineswegs zufällig, sondern mit absoluter Intention Ausdruck einer niederschmetternd-tragischen Liebesgeschichte über die Traumfabrik Hollywood ist.

Die Größe des Films liegt nun aber wie gesagt darin, dass diese „Decodierung“ zwar möglich, aber keineswegs nötig ist, um den Film zu genießen. Denn jeder, der sich Lynch einfach nur hingibt und in seine traumhafte Welt fallen lässt, instinktiv fühlt und nicht versteht, wird ein individuell anderes und darum umso lohnenswerteres Erlebnis haben.

Und um dieses Erleben, genauso sehr aber um das eigene Machen, den Prozess Kunst herzustellen an sich, ging es ihm. Denn David Lynch war nicht „nur“ ein Regisseur und Drehbuchautor. Er war durch und durch Vollblutkünstler, der für und wegen der Kunst lebte und dabei stets so einen unbeschwerten Spaß zu haben schien, dass seine Interviews und knackigen Zitate für viele Fans genauso viel Kultstatus haben wie sein filmisches Gesamtwerk.

Auch für mich war (und wird er immer bleiben, gottverdammt) Lynch eine inspirierende Kraft, nicht zuletzt wegen seiner unverstellten, unverwechselbaren Art. Denn trotz seiner ausgesprochen surrealen und hochkünstlerischen Filme war der Mann kein bisschen prätentiös, sondern ein leicht verschrobener, dabei ursympathisch bodenständiger Visionär, der die Welt und alles in ihr einfach zwangsläufig aus seinem ganz eigenen und sehr speziellen Blickwinkel betrachtete und kommentierte. Oder wie sein Stammschauspieler Kyle MacLachlan und Dale Cooper himself in seinem rührenden Nachruf geschrieben hat: „Er war nicht an Antworten interessiert, weil er verstand, dass Fragen der Antrieb sind, der uns zu dem macht, was wir sind.“

Eigentlich wollte ich diesen Text mit einem finalen „Silencio“, dem letzten, obwohl geflüsterten, geradezu donnerhallendenden Wort aus seinem Opus Magnum Mulholland Drive beenden, aber das fühlt sich einfach zu traurig an. Stattdessen möchte ich den Meister sich lieber selbst verabschieden lassen, in der unnachahmlich optimistisch-skurrilen Art, mit der er seiner Fangemeinde in den letzten Jahren auf YouTube das Leben versüßt hat, und in der ich ihn in Erinnerung behalten möchte:


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