Denis Villeneuves "Die Frau die singt" ist eine Detektivgeschichte, ein Thriller, ein Familiendrama und eine Überlebensgeschichte in einem und dabei ein gleichzeitig zarter wie brutaler Film. Elegant erzählt und in moderne Bilder gehüllt, entspricht er inhaltlich einem Faustschlag in den Magen des Betrachters und ist eine hervorragende Spielfilmumsetzung vom Bürgerkrieg im Nahen Osten. Vergleicht man diesen 2011 Oscar-nominierten Film mit dem Gewinner der Kategorie Bester Fremdsprachiger Film, "In einer besseren Welt" der Dänin Susanne Bier, so hätte der Frankokanadier Villeneuve die Trophäe nach Hause tragen müssen. Beide zeigen Geschichten, in denen es um Gut und Böse, Rache und Vergebung geht, doch wo Bier nicht wirklich Stellung beziehen will, ist "Die Frau die singt" eine einzige Anklage gegen Gewalt, die zeigt, dass auch die nachfolgenden Generationen stets weiter leiden werden, wenn immer nur Rache geübt wird.
"Die Frau die singt" beginnt mitten in der Wüste. Die Kamera fährt zurück, bis der Zuschauer sieht, dass seine Perspektive, in der Wüste stehend, falsch ist, denn die Kamera steht in einem Fenster, in einem Haus, in dem gerade ein paar bewaffnete Männer einer Gruppe Jungen im Grundschulalter die Köpfe kahl scheren. Die Jungen haben nackte Füße und einige blutige Gesichter. Die Kamera fährt immer näher auf das Gesicht eines Jungen, wie angezogen von seinem zornigen Blick, während "You and whose Army?" von Radiohead gespielt wird. Schon in dieser einen Anfangsszene sieht man, dass "Die Frau die singt" ein überaus modern inszenierter und ausgeklügelter Film ist, der immer wieder darauf hinweisen wird, dass die eigene Perspektive davon geprägt ist, was man weiß oder auch nicht weiß.
Die erwachsenen frankokanadischen Zwillinge Jeanne (Mélissa Désourmeaux-Poulin) und Simon (Maxim Gaudette) bekommen vom ehemaligen Chef ihrer verstorbenen Mutter, dem Notar Jean Lebel (Rémy Girard) bei der Testamentseröffnung zwei Briefe ausgehändigt, einen für ihren Vater, von dem ihnen bisher gesagt wurde, dass er tot sei, und einen für ihren Bruder, von dessen Existenz sie bisher nicht wussten. Beide ahnen nichts von der Lebensgeschichte ihrer Mutter, bevor diese aus dem Nahen Osten nach Kanada auswanderte. "Der Tod ist nie das Ende der Geschichte" sagt der Notar. Und so macht sich Jeanne auf die Suche nach ihrem Vater. Ab dieser Stelle wird die Suche in der Neuzeit verwoben mit Rückblenden in das Leben der Mutter Nawal (Lubna Azabal).
Welches Land es genau ist, in dem die Mutter den Krieg zwischen Muslimen und Christen erlebte, auf dem beide Seiten schuldig an Massakern waren, wird ausgeklammert (alle Ortsnamen sind fiktiv), doch ist aufgrund der Darstellung, der Handlungszeit und der Herkunft des Autors der Theaterstück-Vorlage der Libanon klar erkennbar, in dem von 1975 bis 1990 Bürgerkrieg herrschte. Die Familie von Theaterregisseur Wajdi Mouawad floh 1977 vor diesem Bürgerkrieg nach Frankreich und später nach Kanada. Der Sohn hatte da aber schon Gräuel gesehen, die er auch in seinem Stück "Incendies" ("Verbrennungen") 2003 verarbeitete.
Dem Film sieht man seine Theatervergangenheit nur im letzten Teil an, der eine klassische Tragödie abbildet mit viel Voiceover, ansonsten wurde hier von Villeneuve mutig massiv der poetische Text gestrichen und ein monolog-basiertes Theaterstück umgebaut unter optimaler Einsetzung filmischer Mittel. Im Film werden hauptsächlich dialoglos die entsprechenden Bilder gezeigt, es wird viel geschwiegen, geseufzt, geweint oder geschrien und doch bleibt der Zuschauer nicht auf der Strecke, sondern begreift alle Zusammenhänge. Dass die Logik jedoch gerade zum Ende hin langsam an einen Emmentaler Käse erinnert, sich die Zufälle häufen und die Jahreszahlen hinten und vorne nicht passen, ist zwar schade, doch den Zuschauer hat dieser Film da schon mit Massakern und Folterszenen durchgeprügelt und emotional derart durchgerüttelt, dass man gar nicht mehr die Kraft aufbringt, sich über die holprige Logik aufzuregen.
Das wirklich herausstechende Merkmal an "Die Frau die singt" ist jedoch die schauspielerische Leistung von Lubna Azabal, die auch schon in "Paradise Now" beeindruckte. Ihre großen Augen zeigen alle schrecklichen Dinge, die sie miterleben und ansehen musste, ihre Würde bleibt in ihrer Haltung sogar dann noch erkennbar, wenn sie sich auf dem Boden krümmt, und ihr ausdrucksstarkes Gesicht genügt, um ihre Emotionen auch ohne Worte sofort verständlich zu machen. Eine so kraftvolle Darstellung einer Frau, die in entsetzliche Situationen geworfen wird, sah man lange nicht mehr.
Die Kameraarbeit von André Turpin ist so einprägsam, dass man noch lange einzelne Bilder im Kopf behält. Besonders die Aufnahmen in Jordanien sind episch und geben den Figuren noch mehr Tiefe. Musik, Schnitt und Kamera greifen hier sauber ineinander und schaffen den notwendigen Raum für eine nicht einfach zu begreifende Episoden-Geschichte, die über Jahrzehnte und verschiedene Personen nahtlos hin- und herwechselt.
Eine kleine Besonderheit von "Die Frau die singt" ist zusätzlich, dass hier Mitglieder eines Berufsstandes als Helden gezeigt werden, auf die in dieser Rolle wohl noch keiner gekommen ist: Die Notare. So albern es auch zuerst klingen mag, die Betonung der ruhigen und gründlichen Rolle der Notare in der Auffindung von Dokumenten und der Zusammenführung von Familien gibt hier einen Rahmen für die finstere Familiengeschichte. Auch die Mathematik wird mit ihrer Logik angerufen, denn Jeanne ist die Assistentin eines Mathematikprofessors, doch das wahre Leben ist eben nicht wie eine Gleichung, sondern geprägt von Chaos und Zufällen, wie sie immer und immer wieder erfahren wird.
So bleibt von "Die Frau die singt" am Ende die Aussage, dass man vor dem Krieg und den eigenen Erinnerungen nicht fliehen kann. Sogar die Nachgeborenen leiden unter den Eltern mit ihren unverarbeiteten Traumata oder sie sollen im schlimmsten Fall sogar Rache üben für Taten, die den Vorvätern angetan wurden. Wie Wajdi Mouawad sagt: "Ohne dass es uns bewusst war, hat uns dieser Krieg beschädigt, hat uns das Exil beschädigt." Und so gibt es ohne Vergebung auch im Exil kein Entkommen.
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