Die ersten Einstellungen sind wie eine Ohrfeige. Theo (Jürgen Vogel) vergewaltigt eine ihm unbekannte Frau. Er lauert ihr auf, reißt sie von ihrem Fahrrad, verprügelt sie und onaniert auf ihren nackten Körper. Die Bilder sind brutal direkt. Es ist eine furchtbare Eröffnung, die den Weg ebnet zur fast dreistündigen Beobachtung eines Vergewaltigers.
Theo kommt nach neun Jahren Maßregelvollzug wieder zurück in das öffentliche Leben. Er bekommt einen Job in einer Druckerei und findet mit der Zeit Gefallen an der Tochter seines Chefs, Nettie (Sabine Timotheo). Sie verliebt sich in ihn, doch Theo verschweigt ihr seine Vergangenheit. Allmählich wird ihm allerdings schnell bewusst, dass er seinen Trieb nicht kontrollieren kann. Er wird damit nicht nur zur Gefahr für Nettie, sondern auch für alle anderen Frauen in seiner Umgebung. Bald scheint ein Rückfall nur noch eine Frage der Zeit.
Bei der Berlinale schieden sich an diesem Film die Geister, und das nicht allein, weil man sich über seine gesamte Laufzeit unwohl fühlt. Die einen lobten ihn als mutiges und vielschichtiges Werk, das sich ganz behutsam einem der kontroversesten Themen des Rechtssystems nähert. Die anderen wiederum sehen in dem Film ein riskantes und letztendlich auch misslungenes Unterfangen, das Handeln eines Triebtäters zu erklären und somit nachvollziehbar zu machen. Beide Lager haben angesichts des heiklen Themas irgendwo recht, sich dem einen oder anderen Standpunkt komplett anzuschließen fällt bei tieferer Betrachtung des Films jedoch trotzdem schwer.
Ganz klar im Mittelpunkt steht bei "Der freie Will" die
Leistung von Jürgen Vogel, dieses Pfund unter den deutschen
Schauspielern. Er verkörpert den Vergewaltiger Theo mit einer
schier unglaublichen unterdrückten Gewalttätigkeit. Man
stellt sich zurecht die Frage, woher dieser Mensch diesen Drang
und diese Wucht nimmt. Dann
bekommt man sogar ein wenig Angst vor ihm. Vogel liefert dabei eine
schauspielerische tour de force ab, für deren Realisierung
er als Co-Autor und -Produzent lange und hart gekämpft hat.
Die erbarmungslos direkte Darstellung von Theo wirkt insgesamt aber
doch etwas einseitig. Natürlich muss der Ex-Knacki seine überschäumende
Gewaltbereitschaft mit ausgedehnten Krafttrainingseinheiten kompensieren.
Ob nun Karate oder Klimmzüge, Hauptsache man lenkt sich ab,
und die überschüssige sexuelle Energie wird dann rasch
per Masturbation abgebaut. Dem Publikum wird dies nicht etwa nur
dezent angedeutet: Die Kamera hält immer drauf und zeigt alles.
Da stellt sich dann schon die Frage: Muss das sein?
Als Antipode zu Theo soll die wunderbare Sabine Timoteo dienen.
Sie spielt eine einsame und zurückgenommene Frau, die zwanghaft
versucht, von ihrem dominanten Vater loszukommen. Diese Einsamkeit
hat sie mit Theo gemeinsam und glaubt in ihm einen Seelenverwandten
gefunden zu haben. Wie schon in "Gespenster" von Christian
Petzold spielt Timoteo wunderbar
erdig, ruhig, fast schon autistisch. Ihre Schreie, nachdem sie erfährt,
dass Theo ein Vergewaltiger war beziehungsweise immer noch ist,
durchzucken jeden Körper. Unglaublich beeindruckend.
Matthias Glasner hält die Stimmung seines Films konsequent bedrückt. Es wird dabei nicht klar, ob diese Sicht der Welt einzig der Wahrnehmung eines triebgesteuerten Perversen entspringen soll, oder sich dahinter auch eine Kritik an der Freizügigkeit einer Gesellschaft mit "Sex sells"-Mentalität verbirgt. Gegen diese Unklarheit nutzen nutzen auch kleine, psychologisch nachvollziehbare Akzente nicht viel, die das Drehbuch in einigen Momenten setzt. Wenn zum Beispiel Theo seinen Bewährungshelfer Sascha eines Nachts anruft und ihm gesteht, dass der Druck in ihm steigt und wohl doch nicht so ohne weiteres kontrollierbar ist, wird das Problem dieser Menschen bewusst und es wird deutlich, dass sie nicht ohne Betreuung in den Alltag entlassen werden dürfen. Diesen Punkt hätte der Film vielleicht deutlicher und direkter formulieren sollen, stattdessen verliert er sich in teilweise voyeuristischen Beobachtungen, die oftmals einfach nur gewollt eklig sind.
Man kann sich dieser Offenheit nur schwer ergeben. Deshalb gibt es wahrscheinlich viele Menschen, die sich "Der freie Wille" nicht bis zum Ende ansehen können. Zu schleppend das Tempo, zu undeutlich die Message. Gefährlich ist der Film für sein Publikum daher vor allem für die Gemütslage: ein dreistündiges, quälendes Unwohlsein muss man erst einmal verkraften.
Neuen Kommentar hinzufügen