Bonnie und Clyde

Originaltitel
Bonnie and Clyde
Land
Jahr
1967
Laufzeit
111 min
Genre
Regie
Bewertung
von Frank-Michael Helmke / 4. Juni 2010

Wie in der Welt-, so kommen auch in der Filmgeschichte Revolutionen meistens dann, wenn ein Staat (bzw. seine nationale Filmkultur) am schwächsten ist und in einer tiefen Krise steckt. Für die amerikanische Filmindustrie begann ihre größte Malaise in den 1950er Jahren: Zunächst machte das sich immer weiter verbreitende Fernsehen den Lichtspielhäusern die Zuschauer abspenstig, dann wurde schließlich von einem Anti-Trust-Urteil des Verfassungsgerichts das Studiosystem aufgelöst (bis dahin hatten die großen Studios ihre Filme selbst produziert, vertrieben, und in eigenen Kinos aufgeführt - eine "vertikale Integration" aller Aspekte der Filmvermarktung unter einem mächtigen Dach).
Hatte die amerikanische Filmindustrie in ihrer Hochzeit in den 30er und 40er Jahren noch über 40 Millionen Menschen pro Woche in die Kinos gelockt, blieben die meisten Anfang der 60er zuhause. Die geschwächten Produktionsfirmen verharrten in alten Mustern und hatten dem neuen "Feind" Fernsehen nur formelle Neuerungen entgegen zu setzen: Breitbild- und schließlich Cinemascope-Format wurden als Reaktion aufs Fernsehen entwickelt, um ein größeres visuelles Erlebnis präsentieren zu können als die Flimmerkiste in 4:3. Inhaltlich klammerte man sich risikoscheu an Bewährtes, und versuchte letztlich fast ohnmächtig die Protz- und Glamour-Schraube immer weiter anzuziehen (was zu spektakulären Hohlgefäßen wie dem legendären Mega-Flop "Cleopatra" mit Elizabeth Taylor führte). Das Publikum antwortete mit Desinteresse.
Das System am Ende, die Mächtigen ratlos - die Zeit war reif für eine Revolution. Sie kam in Gestalt einer Bewegung, die mit dem nahe liegenden Namen "New Hollywood" in die Filmgeschichte einging. Ab Ende der 60er Jahre schafften wagemutige Produzenten die Möglichkeiten für rebellische junge Filmemacher, neues Terrain zu erkunden, mit den alten Strukturen und Konventionen zu brechen und dem amerikanischen Kino ein völlig neues Gesicht zu geben. Regisseure wie Martin Scorsese, Robert Altman, Dennis Hopper, Francis Ford Coppola, George Lucas und Steven Spielberg zählen zu den Erneuerern der "New Hollywood"-Bewegung. Sie alle folgten einem neuen Weg, den vor allem ein Film maßgeblich frei getrampelt hatte: Arthur Penns "Bonnie und Clyde".

Die längst legendäre Gangsterballade um das reale Ganoven-Paar Clyde Barrow (Warren Beatty) und Bonnie Parker (Faye Dunaway), die in den 30er Jahren zusammen mit Clydes Bruder Buck (Gene Hackman), dessen Frau Blanche (Estelle Parsons) und dem Automechaniker C.W. Moss (Michael J. Pollard) als "Barrow Gang" den von der großen Depression geschüttelten Südwesten der USA unsicher machten, ließ in Penns Leinwand-Fassung schon mit ihrer Erzählung die Sicherheit des Altbekannten hinter sich: Der Regisseur entwickelte aus den faktischen Vorgaben (Herkunft, "Karriere" und Ende von Bonnie und Clyde) eine freie Interpretation des Gangster-Pärchens, die gar kein Interesse daran hat, ein realgetreues Abbild der echten Ganoven zu schaffen. Sein enormer Erfolg und Einfluss lässt sich auch daran absehen, dass das populäre, romantisierte Image von Bonnie und Clyde (kongenial in der Werbezeile des Films zusammengefasst: "Live hard. Die young. Love eternally.") direkt zu diesem Film zurückverfolgt werden kann.
Romantisierung des Gangsterlebens: Auch hier beging Penn einen filmhistorischen Tabubruch. Die ambivalenten, tragischen Titelhelden sind Räuber und Mörder, und trotzdem die Sympathieträger in diesem Film, dessen wahre Schurken ein zusammengebrochenes Wirtschaftssystem und hinterhältige Staatsdiener sind. Bonnie und Clyde folgen einer gänzlich naiven Sehnsucht nach Aufregung und Abenteuer, einem Weg raus aus ihrem perspektivlosen Kleinstadtleben ("If you come with me, you won't have a minute's peace" warnt Clyde seine Bonnie zu Beginn. Ihre Antwort: "You promise?"). Ihre Serie von Raubüberfällen auf Tankstellen und Banken beginnt mit einer spontanen Mutprobe, und wird von den beiden auch im Folgenden eher wie ein "Trau dich doch"-Spiel betrieben - bis sie zum ersten Mal jemanden erschießen.
Und schon kommt der nächste Bruch mit den alten Konventionen. Gemeinsam mit den Western von Sam Peckinpah revolutionierte Penn die Darstellung von Gewalt im amerikanischen Kino: Frontal, direkt, blutig, teilweise sogar ästhetisiert ("Bonnie und Clyde" gilt als der erste Film, der Gewalthandlungen in Zeitlupe zeigte). Seinem ersten Opfer schießt Clyde durch eine Autoscheibe direkt ins Gesicht. Für das damalige Kinopublikum ein unerhörter Schock.
Und es blieb nicht der einzige: "Sex & Crime" bilden auch hier ein untrennbares Paar. Von Beginn an, wenn Bonnie erregt über Clydes Pistole streichelt, durchzieht "Bonnie und Clyde" eine prägnante sexuelle Metaphorik. Raubüberfälle werden zum Vorspiel, dem der Höhepunkt versagt bleibt: Clyde ist impotent (eine nie direkt ausgesprochene, aber offensichtliche Tatsache). Während Bonnie von Aufregung und Abenteuer genug "angeturnt" wird, kann sich Clyde erst dann von seinen psychischen Komplexen befreien, als er die Gewissheit hat, berühmt geworden zu sein - und damit einem bedeutungslosen Leben entkommen ist. Dass Bonnie und Clyde tatsächlich für einen kleinen Moment ihr Glück (auch sexuell) finden, wird nur minimal angedeutet. Kurz danach stirbt das Paar in einem wiederum beispiellos blutigen Kugelhagel der Polizei - mit wilden Zuckungen, die manche Leute schon als orgiastisch bezeichnet haben.

Zur inhaltlichen Revolution gesellte sich bei "Bonnie und Clyde" auch eine stilistische: Mi tiefen Zoom-Effekten, visuellen Filtern und Jump Cuts setzte sich der Film über die Bildsprache des klassischen amerikanischen Kinos hinweg, die mit klaren Anschlüssen, einem "unsichtbaren" Schnitt und stringenter perspektivischer Logik immer versucht hatte, dem Zuschauer möglichst gar nicht aufzufallen. Die Regisseure des "New Hollywood" begannen, offensiv mit den Möglichkeiten der Bildgestaltung und der modernen Kameratechnik zu experimentieren, und verliehen damit dem amerikanischen Kino eine völlig neue Dynamik und psychologische Tiefe.
Zu seiner Zeit ein ungeheures Wagnis, wäre "Bonnie und Clyde" beinahe an den alten Strukturen gescheitert, die er aufzubrechen versuchte. Hauptdarsteller Warren Beatty nahm als Produzent große Risiken auf, um den Film überhaupt herausbringen zu können, und die alteingesessenen amerikanischen Kritiker verrissen "Bonnie und Clyde" zunächst. Bis sich die parallel zum "New Hollywood" entwickelnde Avantgarde der US-Filmkritiker (angeführt von der "New Yorker"-Autorin Pauline Kael) zu Wort meldete und den Film zum Meisterwerk erklärte. Und schließlich stimmte auch das Kinovolk mit seinen Füßen zugunsten von "Bonnie und Clyde" ab - der Film wurde ein gigantischer Triumph. Warren Beatty und Arthur Penn hatten bewiesen, dass man alle Gesetze brechen und trotzdem davon kommen kann. Im Gegensatz zu "Bonnie und Clyde", deren Aufbegehren gegen das System scheiterte, entzündeten Beatty und Penn eine Revolution, die Hollywood innerhalb des nächsten Jahrzehnts von Grund auf erneuern sollte.
Angesichts der historischen Leistung von Penn und den denkwürdigen Vorstellungen von Beatty, Faye Dunaway, Gene Hackman (die hier jeweils den Grundstein für ihre Weltkarriere legten) und Michael J. Pollard ist es geradezu ironisch, dass bei zahlreichen Nominierungen (unter anderem waren alle fünf Hauptakteure für einen Darstellerpreis vorgeschlagen) lediglich die Kameraarbeit und Nebendarstellerin Estelle Parsons mit einem Oscar ausgezeichnet wurden - obwohl man sich bei Parsons' kolossal hysterischer und nerviger Darstellung beizeiten einen gesonderten Aus-Knopf für ihre Tonspur wünscht.

Trotz aller bahnbrechenden Neuerungen und filmhistorischen Relevanz gehört "Bonnie und Clyde" aber vor allem deshalb zu den größten und bekanntesten Klassikern des Kinos, weil er auf seine ganz eigene Art eine der tragischsten Liebesgeschichten aller Zeiten erzählt. Die Geschichte von zwei vom Leben geschlagenen Adrenalin-Junkies, von zwei naiven Träumern, die der einzigen möglichen Erfüllung des amerikanischen Traums nachliefen, die in den Zeiten der großen Depression überhaupt realisierbar war - einem Leben als berühmte Gesetzesbrecher.
Kriminelle waren die großen Helden der Boulevard-Presse jener Zeit, Namen wie Ma Baker oder John Dillinger sind bis heute legendär. Bonnie und Clyde waren - zumindest in der Interpretation von Arthur Penn - keine "richtigen" Gangster. Sie waren fasziniert von den toughen Sprüchen und Posen, vom Leben am Limit und auf der Überholspur, geblendet von einer medialen Image-Inszenierung, wie ihr auch heute alle verfallen, die oberharte Rap-"Gangster" bewundern (bezeichnenderweise stammt der aktuell letzte Pop-Song mit dem Titel "Bonnie & Clyde" vom HipHop-Superstar-Paar Jay-Z und Beyoncé Knowles). Sie wollten das Mehr in ihrem Leben, in einer Zeit, in der man sich das Mehr stehlen musste, weil es nicht genug davon gab, und man dafür mit dem Leben bezahlte. Vor allem deshalb sind Bonnie und Clyde die ultimativen Popkultur-Ikonen der romantischen Rebellion, der Liebe, die sich durch nichts aufhalten lässt: Abgesehen von Romeo und Julia gibt es wohl kein Paar, das derart denkwürdig für- und miteinander in den Tod gegangen ist. Live hard. Die young. Love eternally.


10
10/10

Klasse Film, wobei natürlich vieles erfunden ist (z.B. gab es die Person C.W. Moss nicht, und Bonnie und Clyde waren schon vorher ein Paar und begannen nach einer Haftstrafe von CLyde erst mit den Überfällen) aber dies gehört zur Interpretation des Mythos, was hier äußerst gelungen ist. Sehr gute Rezension mit dem nötigen Hintergrundwissen. Ich erkläre das Jahr 1967 zum innovativsten Jahr der Filmgeschichte...

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