Stellet Licht

Originaltitel
Stellet Licht
Land
Jahr
2007
Laufzeit
136 min
Genre
Release Date
Bewertung
10
10/10
von Patrick Wellinski / 5. Februar 2011

 

Lange mussten wir auf diesen Film warten. Seit seiner Welturaufführung bei den Internationalen Filmfestspielen in Cannes im Jahr 2007, wo er völlig zu recht den Großen Preis der Jury gewann, sind mittlerweile zwei Jahre vergangen. Dabei sollte man über diesen Umstand sogar noch glücklich sein, denn lange Zeit sah es so aus, als würde dieses Meisterwerk nie auf die deutschen Leinwände gelangen. Denn genau das ist Carlos Reygadas dritter Spielfilm - ein Meisterwerk.

"Stellet Licht" beginnt mit einem Sonnenaufgang, der nahezu in Echtzeit gezeigt wird. So simpel und gewöhnlich dies klingen mag, es ist in seiner Intensität einer der unvergesslichsten Momente des aktuellen Kinojahres. Zunächst ist die Leinwand noch schwarz. Wenn dann langsam die ersten Sternenlichter erscheinen, können wir noch nicht sagen, ob wir denn nun in den Himmel gucken, oder nur die Reflektion der Sterne in einem See betrachten. Erst allmählich verleiht die aufgehende Sonne der Landschaft ihre Konturen.
Reygadas erschafft so auf unglaubliche Weise die Welt, in dem er später seine Geschichte spielen lassen wird. Dabei geht er wie ein Maler vor. Nur wo dieser mit Farben hantiert, nutzt der mexikanische Regisseur das Licht, um seine Kinobilder zu gestalten. Bereits in den ersten Minuten von "Stellet Licht" wird man von der visionären Kraft dieses Werkes förmlich erschlagen. Nach dem Sonnenaufgang begibt sich die Kamera in ein kleines Bauernhaus, wo der Bauer Johan (Cornelio Wall) mit seiner Frau Marianne (Maria Pankratz) und ihren sechs Kindern wohnt und arbeitet. Sie gehören alle einer kleinen in Mexiko beheimateten Gemeinschaft der Mennoniten an.
Die Mennoniten sind eine stark protestantische Glaubensgemeinschaft, die immer noch einen so gut wie ausgestorbenen, alten plattdeutschen Dialekt spricht. Es ist wohl das erste Mal in der Filmgeschichte, dass ein Film fast völlig in dieser Sprache gedreht worden ist. In dieser Umgebung verliebt sich Johan in Esther. Man würde jetzt erwarten, dass der Film nun ein Versteckspiel inszeniert, in dessen Mittelpunkt die Frage steht, ob Johans Frau von dieser Liebe erfährt oder nicht. Aber Reygadas interessiert sich zum Glück nicht für solche konventionellen dramaturgischen Abläufe. In "Stellet Licht" weiß Marianne von der Liebe ihres Mannes zu Esther. Im Grunde beobachten wir hier einen Mann, der zwei Frauen liebt und den dieser Zustand völlig aus dem Gleichgewicht bringt. Ein wenig erinnert diese Konstellation an Valeska Grisebachs Film "Sehnsucht", wo ein Feuerwehrmann in Brandenburg an der Liebe zu zwei Frauen zerbricht. Carlos Reygadas Werk unterscheidet sich zu Grisebachs tollen Film aber durch eine fast perfekte Art der Inszenierung.
Es fällt zum Beispiel auf, wie sorgfältig Reygadas seine Figuren immer im Zentrum der Leinwand platziert. So erscheinen die Mennoniten bei ihrer Arbeit nicht nur sehr naturverbunden, nein, sie scheinen in der sie umgebenden Natur aufzugehen. Sie bilden eine Einheit. Unterstrichen wird das von Reygadas bewundernswert symmetrischer Bildkomposition. Als Johan immer stärkere Gewissensbisse bekommt und ihm die Situation immer weiter über den Kopf wächst, spiegelt sich dies auch in den Bildern des Films. Johan erscheint im weiteren Verlauf immer mehr an den Rand der Einstellungen gedrückt, als würde er sein bisheriges Gleichgewicht verloren haben. Immer mehr Schatten fällt auf sein stoisches Gesicht. Und trotz der Stille in diesem Film sieht man einen Mann, der unglaubliche Seelenqualen durchleiden muss.
Gesteigert wird dieses Gefühl, wenn man sich vor Augen hält, dass Reygadas ausschließlich mit Laien gedreht hat (alle samt Mennoniten). Schön sind deshalb auch jene Momente des Films, wo einige Darsteller aus ihren Rollen treten. Es gibt in "Stellet Licht" eine Szene, in der Johans Kinder in einem kleinen Fluss baden und spielen. Die jüngsten Kinder blicken dabei verdächtig oft in die Kamera - in einem fiktionalen Film eigentlich ein absolutes No-Go. Damit bekräftigt dieser exzellent fotografierte Film seinen semi-dokumentarischen Charakter.

Was "Stellet Licht" neben seiner Inszenierung und der technischen Umsetzung noch heraushebt, ist die unerklärliche Mystik, die das ganze Geschehen umgibt. Wie schon in seinem letzten Film "Battle in Heaven", der unterschwellig mit mittelalterlichen Prozessionsmythen spielte, bekennt sich Reygadas auch in seinem neusten Film zum erzählerischen Geheimnis, welches tief in den Alltag ragen kann.
So erlebt "Stellet Licht" seinen Höhepunkt im letzten Drittel, in dem das Schicksal Johans Problem scheinbar gelöst hat. Es kommt zu einem Unglück, welches für Johan aber im Endeffekt nicht eine Strafe darstellt - obwohl es zunächst so aussieht - sondern eine Erlösung. In schlicht und einfach betörenden Bildern verbeugt sich Reygadas dabei vor niemand geringerem als dem dänischen Kinomeister Carl Theodor Dreyer. Dreyer hat mit seinen Filmen (z.B. "The Passion of Joan of Arc" oder "Vampyr - Der Traum des Allan Grey") nicht nur den Stummfilm revolutioniert, sondern auch im Tonfilm große Erfolge gefeiert. "Stellet Licht" verweist insbesondere auf Dreyers Film "Ordet" aus dem Jahr 1955. Wenn man beide Filme gesehen hat, erkennt man, dass Reygadas einige Szenen fast eins zu eins übernommen hat.

Am Ende entlässt uns der Regisseur konsequenterweise mit einem Sonnenuntergang in Echtzeit zurück in unsere Welt. Sicherlich ist "Stellet Licht" kein Film der Millionen von Menschen ins Kino locken wird. Aber das muss er auch nicht. Man kann ohne zu übertreiben sagen, dass er auf formaler Ebene eine neue Dimension erklommen hat und mit vielen unvergesslichen, vor Schönheit nur so strotzenden Momenten ausgestattet ist. Dieser Film tut richtig gut. Dieser Film weckt wieder die Hoffnung auf eine andere Art von Kino. Es fällt schwer zu glauben, dass es in diesem Jahr noch zu einer intensiveren Kinobegegnung kommen wird. "Stellet Licht" ist pure Leinwandmagie. Punkt.

Bilder: Copyright

10
10/10

Danke für die Kritik.
Ohne Euch wäre ich nie auf diesen fantastischen Film gestoßen.

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