
Es wäre ja einfach, zur Besprechung dieses Films sofort die Kalauer rauszuholen. Etwa, indem man meint, Lynch sei immer noch wild at art und übertreibe es sowohl mit der Wildheit als auch der Kunst. Oder er fahre noch immer auf dem lost highway umher und habe jetzt nicht nur die Straße, sondern auch den roten Faden und womöglich den Verstand verloren. Oder dass Lynch nun überhaupt nicht mehr an irgendeiner Art von straight story interessiert sei, sondern sich nur noch in Ellipsen und Fragmenten verkünstelt. Könnte man alles machen. Man kann aber auch gleich den Hammer rausholen, Butter bei die Fische, heilige Kühe auf den Tisch, und die unbequeme Wahrheit gleich dazu: "Inland Empire" ist schrecklich. Nicht schrecklich gut, nicht nur schrecklich anstrengend: Einfach schrecklich. Anstrengend aber auch. Und ein Film, für den man eigentlich in den Kinosessel gefesselt werden muss, um ihn durchzustehen.
Eines muss man Lynch dabei lassen: Man fragt sich, wann man so einen Film zuletzt auf der Leinwand gesehen hat - und ob überhaupt. Ein dreistündiges, in seine Einzelteile zersprengtes Werk, das direkt dem Bewusstseinsstrom seines Regisseurs entsprungen zu sein scheint. Lynch macht keine Zugeständnisse mehr, sondern genau den Film, den er im Kopf hat. Und deswegen macht der Rezensent auch keine Zugeständnisse und zieht sich nicht mit einer 5-Augen-geht-so-Rezension aus dem Dilemma. Lynch konfrontiert mit seinem sich nirgendwo zurückhaltenden Film - da gebietet es die Fairness, sich auch hier nicht der Höflichkeit halber zurückzuhalten. Denn die Frage muss schon gestellt werden: Lynch macht genau den Film, den er im Kopf hat, aber muss man sich das auch anschauen sollen oder wollen? Denn die ansonsten übliche Frage "Was bedeutet dies alles?" muss ja längst geändert werden in "Möchte ich mich damit beschäftigen, was dies alles bedeutet?" Und hier lautet die Antwort diesmal ganz klar "Nein".
"An access, I'm searching for an access."
Das wünscht sich ein polnischer Mann während eines offensichtlich von Samuel Beckett inspirierten Dialoges am Anfang des Films, aber es drückt auch den Wunsch des Zuschauers aus: Einen Zugang möchte man doch bitte haben, einen Zugang zu den Geschehnissen in "Inland Empire". Unwissend denkt man, man habe nach der Anfangsviertelstunde das Schlimmste schon hinter sich, nachdem erst eine hysterische Grace Zabriskie als prophezeiendes Orakel an den Nerven zerrte und dann einer von Lynchs "Rabbits"-Kurzfilmen seinen Auftritt hat.
Denn dann gibt es tatsächlich so etwas wie eine Geschichte: Die alternde Schauspielerin Nikki Grace (Laura Dern) bekommt eine ersehnte Rolle. An der Seite des Frauenhelden Devon Berk (Justin Theroux) soll sie unter Regie des renommierten Kingsley Stewart (Jeremy Irons) eine Ehebrecherin spielen, was Graces Gatten (Peter J. Lucas) wenig gefällt. Zudem wird die Filmproduktion "On High In Blue Tomorrows" noch von einem anderen Ereignis überschattet: Wie sich herausstellt, ist es das Remake eines polnischen Films, der aufgrund zweier Morde nie fertig gestellt wurde. Und just ab diesem Moment beginnen auch wieder im typischen Lynch-Stil die Identitäten zu verschwimmen, die Geschichte fängt an, wilde Sprünge zu machen und allgemein das Chaos seinen Lauf zu nehmen. Nur soviel: die Kaninchen kommen noch mal wieder; ein baltischer Hypnotiseur, genannt "Das Phantom" taucht auf; polnische Prostituierte singen und tanzen zu "The Loco-Motion"; Morde geschehen; Identitäten wechseln und wandern; das mittlerweile übliche Lynch-Chaos eben.
"Hey, why are you tellin' us that shit, baby?"
Wenn man "Inland Empire" etwas anmerkt, dann, dass der Film kein vorher existierendes Drehbuch hatte. Lynch schrieb die Szenen jeweils am selben Tag oder gar fünf Minuten vor Drehbeginn. Diese Vorgehensweise möglich machte unter anderem die Tatsache, dass der Großteil des Films nur mit Hauptdarstellerin Laura Dern, die in etwa 90 % der Szenen ist, verbracht wird. Aber was das für Szenen sind. Da wird ein Fragment ans Nächste gehängt, einige haben etwas miteinander zu tun, andere sind Resteverwertung (wie die "Rabbits"-Episoden). Dialoge sind absurd, auch redundant, die Sinnfrage scheint komplett überflüssig. Natürlich kann man das alles versuchen zu ergründen, und wie üblich versucht Lynch durch wiederkehrende Dialogzeilen ("a bill that hasn't been paid") und Bildsymboliken den Eindruck zu erwecken, die immer diffuser werdenden Einzelteile würden ja auch tatsächlich zusammengehören und einen Sinn ergeben, wenn man nur entsprechend Zeit mit der Tiefenanalyse verbringt.
Aber hier wird man durch nichts, aber auch gar nichts für seine Geduld belohnt. Und Sinn macht es, anders als der meisterliche "Mulholland Drive", auch nicht. Man konnte es ja einen billigen Trick nennen, wie Lynch in der Schlussviertelstunde seines letzten Films den seltsamen Vorgängen nachträglich einen Sinn gab. Aber erstens war es erfolgreich und zweitens egal. Denn jenen herrlichen Film voller toller Szenen konnte man auch so genießen, ganz ohne die nachgelieferte Sinnstruktur. "Inland Empire" weist - zumindest im oben beschriebenen Film-im-Film-Teil - ein paar Parallelen auf, ist ansonsten aber der Anti-"Mulholland Drive". Verwirrend ist hier auch einiges, wenn nicht alles, aber fast nichts macht Spaß (das Segment der "On High"-Dreharbeiten muss hier als bei weitem unterhaltsamster Teil hervorgehoben werden, besonders Harry Dean Stantons Auftritte als schnorrender Produzent). Nichts fesselt, nichts unterhält. Spätestens wenn dann irgendwann in der dritten Stunde - jedes Zeitgefühl ist längst verloren - eine junge asiatische Pennerin anfängt, über scheißende Affen und Löcher in Vaginas zu schwadronieren, reicht es dann wirklich. Da will man dann auch einfach nicht mehr. Lynch-Wahnsinn schön und gut - aber zuviel ist zuviel.
"Inland Empire" ist auch deswegen ein so quälendes Erlebnis, weil der Film ausnehmend hässlich ist. Genauso wie er eine Thrillerstruktur nutzte, um darauf aufbauend in abgründigere Gefilde vorzudringen, war Lynch vormals ja auch stilistisch ein Verführer. Egal, was man inhaltlich von Filmen wie "Blue Velvet", "Lost Highway" oder "Mulholland Drive" hielt, ein Augenschmaus waren sie alle. Lynch selbst pries die satten Farben und Ausdrucksmöglichkeiten des klassischen Films. Alles Schnee von gestern. Und dementsprechend verwehrt er uns nun selbst dieses Zuckerstückchen, mit dem die bittere Medizin nicht ganz so furchtbar schmeckt. Und gibt damit auch den allerletzten Trumpf aus der Hand.
Digital Video ist das Zauberwort. Diese neue Technik gewähre ihm vollständige Freiheit und Spontaneität, ließ Lynch zu Protokoll geben. Noch größere Freiheit sichert sich Lynch, indem er seinen norwegischen Kameramann offenbar anwies, sich nicht mit technischen Kinkerlitzchen aufzuhalten. Unterbelichtet, überbelichtet, verwackelt, unscharf - herrlich, wie jeder Fehler, den ein Amateur bei den ersten Versuchen mit seiner neuen Digicam machen würde, auch hier in den Händen eines Experten zu sehen sind. Lynch erfreut sich an leicht aus der Froschperspektive erstellten Großaufnahmen, der Zuschauer an vielen wenig schmeichelhaften Einstellungen der Darsteller, bei denen vor allem deren nun übergroß wirkende Nasen in Erinnerung bleiben. Und wer sich schon immer dafür interessiert hat, ob Laura Dern unreine Haut hat, kann sich nun auch dank entsprechender Großaufnahmen selbst davon überzeugen.
Die Frage nach dem Warum stellt man ja schon lange nicht mehr, aber irgendwann wird das dann noch zur Frage "Wer?". Denn wenn sich eine unterbelichtete Einstellung an die nächste hängt, in der irgendeine Figur - Im Ernstfall ist's Laura Dern, aber sicher sein kann man da nicht - irgendwelche dunklen Korridore entlang schleicht, und irgendwann nicht nur das Gehirn wegklappt, sondern auch der Sehnerv - dann ist wirklich die Schmerzgrenze erreicht. Dieses hässliche Geschwurbel kann man natürlich auch als neue Stil- und Ausdrucksform loben, wie anderswo durchaus getan - oder man kann es eben für hässliches Geschwurbel halten, dass auch durch den Enthusiasmus des Regisseurs eben nicht schöner wird.
Der neben dem Dreharbeiten-Segment einzig wirklich positive Aspekt ist dann tatsächlich Laura Dern als "Frau in Schwierigkeiten", wie Lynch typisch aussagefreudig und -kräftig sein Drei-Stunden-Monster auf drei Wörter reduziert. Dern muss mehrere (mindestens drei) Charaktere spielen, und gibt den einzelnen Figuren distinktive Eigenschaften: Von der kichernden, an Jennifer Aniston gemahnenden Schauspielerin Nikki Grave ("Oh! You Guys!") bis hin zur mit Südstaatenakzent versehenen knallharten Schlampe ("I kicked his balls so hard they crawled into his brain"). Gerade letztere bekommt Dern gut hin, und die Sequenz, in der sie einem mysteriösen Mann im Büro eines Nachtclubs (eine) ihre(r) Lebensgeschichte(n) erzählt, gehört zu den wenigen wirklich interessanten Momenten im Morast der letzten zwei Filmstunden.
"It was kinda layin' a mindfuck on me"
Der fleißig transzendentale Meditation betreibende Lynch mag ja an eine kosmische Bewusstseinsebene glauben, die alle Menschen verbindet. Und dort macht "Inland Empire" wahrscheinlich Sinn, ist Bildungsprogramm für Nachwuchstranszendentale und kein bisschen anstrengend, sondern ein mental erfrischendes Betthupferl. Hier, in unserer Welt, wir schreiben das Frühjahr 2007, ist die Menschheit - und vor allem der hier berichtende Vertreter davon - dafür aber noch nicht bereit. Daher: Das hier ist ganz große Grütze. Künstlerisch wertvolle meinetwegen, sich mutig den Sehkonventionen entgegenstellende von mir aus, aber trotzdem Grütze.
Lynch war ja nie wirklich Mainstream, aber selbst der ausgefranste Rand des Mainstreams, den er sonst für sich besetzte, wird diesem Werk nicht gerecht. Dies ist pure Avantgarde, und auch nur als solche zu goutieren, wenn überhaupt. So unkommerziell, surreal und hermetisch in seinen Gedankengängen eingeschlossen war Lynch zum letzten Mal bei seinem Debütfilm "Eraserhead", und wer diesen Film abgöttisch liebt, wird wohl auch mit "Inland Empire" glücklich werden. Nur die Härtesten der Harten kommen in Lynchs Traum-Garten. Wenn dies jetzt den Beginn von Karrierephase Drei in Lynchs Filmographie darstellt und "Inland Empire" damit eine Vorschau auf das ist, was noch folgt, dann müssen wir alle in Zukunft ganz tapfer sein. "Do the Loco-Motion With Me?" Nein, Herr Lynch, der Zug ist erstmal abgefahren.
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