Full Contact

Originaltitel
Xia dao gao fei
Land
Jahr
1993
Laufzeit
96 min
Genre
Regie
Bewertung
von Simon Staake / 16. November 2010

Das im Hongkong-Kino erfundene Subgenre des Gangsterfilms, der heroic bloodshed-Film, wird international - und das ja auch zurecht - mit einem Namen gleichgesetzt: John Woo. Der erfand den Stil des Genres 1986 mit "A Better Tomorrow", lieferte mit "The Killer" 1989 dessen Höhepunkt und ein auch international anerkanntes Meisterwerk ab und beerdigte das Subgenre 1992 quasi mit dem alle Eigenschaften zusammenfassenden "Hard Boiled", seinem Abschiedsfilm von Hongkong. In Woos Schatten steht aber einer, der fast genau so wichtig für die Entwicklung der stilprägenden Action-Thriller aus Hongkong war. Dessen "City on Fire" (1987) beispielsweise wurde von Popkultur-Klauber Quentin Tarantino in großen Teilen für sein Regiedebüt "Reservoir Dogs" geplündert. Und mit "Full Contact" lieferte Lam dann 1993 noch einmal seine Version einer Apotheose von all dem, was einen heroic bloodshed-Film ausmacht. Dass E-M-S den Film vor kurzem neu veröffentlicht hat, ist daher Grund genug, sich diesen unbekannteren, aber sehr gelungenen Beitrag zum einflussreichsten Filmgenre, das Hongkong hervorgebracht hat, noch einmal genauer anzuschauen.

Wie der Name schon sagt, braucht ein heroic bloodshed-Film vor allem drei Dinge: Einen Helden, eine heroische Mission, und dann das Blut, das er während der Erfüllung eben jener Mission vergießt. Womit dabei sowohl sein eigenes, als auch das der Gegner gemeint ist. Und wenn es im heroic bloodshed einen Helden gibt, im Grunde genommen sogar den einzigen, dann ist das Chow Yun-Fat. Dass dieser in allen oben genannten Filmen die Hauptrolle spielt ist nur ein Hinweis auf die immense Wichtigkeit dieses Schauspielers für dieses Subgenre. Yun-Fat war der geborene (Anti-)Held: Cool und schweigsam wie Eastwood, aber mit der Integrität eines Zen-Mönchs. Niemand sah in Sonnenbrille oder Ledermantel cooler aus als Yun-Fat zu "A Better Tomorrow"-Zeiten, wovon zum Beispiel auch Übergeek Quentin Tarantino maßlos beeindruckt war, der sich nach Ansicht des Films ebenso diese Utensilien der Coolness überstreifte, darin aber - so darf man mutmaßen - nicht ganz so cool aussah wie Chow Yun-Fat.

Yun-Fat ist und bleibt der Inbegriff des heroic bloodshed-Charakters, der hier in "Full Contact" ähnlich wie in Woos "The Killer" zwar einen nominell bösen Buben spielt, aber schon deshalb der (Anti-)Held der Geschichte ist, weil er aus lauteren Motiven handelt und diejenigen, gegen die er antritt noch viel bösere Buben sind. Besonders hervorzuheben ist in diesem Fall sowohl Simon Yams überzeugende Vorstellung als auch die Rolle des Bösewichts Judge selbst. Denn mit Judge hat man einen offen schwulen Charakter vor sich, der dabei jedoch vermeidet, Homosexualität mit Kriminalität explizit gleichzusetzen. Judge ist ein kaltblütiger Gangster mit Hang zur Showeinlage (wie ein Zauberer zückt er Waffen aus dem Ärmel), zufällig auch noch schwul und auf letzteres stolz, gibt es ihm doch noch eine weitere Möglichkeit, sich vom Rest der Gesellschaft zu distanzieren.
Diese in ihrer Offenheit recht untypische Figur sorgt auch dafür, dass der homoerotische Subtext, den man den heroic bloodshed-Filmen nicht ganz grundlos unterstellt (Männerfreundschaften stehen über allem, Frauen stören nur und über massive Knarren als Phallussymbole müssen wir ja nicht mehr sprechen), hier quasi zu einem Haupttext wird. Judge flirtet ganz offen mit Jeff, ist sich offensichtlich nicht sicher, ob er ihn töten oder doch lieber mit ihm schlafen will. Vielleicht war "Full Contact" auch deshalb in seiner Heimat kein großer Erfolg beschieden, diese ungewohnt offenen (und natürlich auch Tabus streifenden) Zwischentöne wollte man so dann vielleicht doch nicht sehen.
Wer aber jetzt denkt, hier würde es sich um ein schwules Selbstfindungsdrama unter der Maske eines Actionfilms handeln, liegt auch falsch. Es werden hier nur Elemente, die in fast jedem heroic bloodshed zu finden sind, überzeichnet. Das kann man als interessant vermerken oder eben auch ignorieren. Wer sich auf derlei Kontextleserei nicht einlassen will, hat ja immer noch die toll inszenierten Actionszenen und Lams manchmal cartoonhaften, manchmal lyrischen Inszenierungsstil.

Storymäßig ist "Full Contact" nicht grade superanspruchsvoll, aber dafür waren Hongkong-Filme ja noch nie berühmt. Wie im heroic bloodshed üblich geht es um Treue, Verrat, Verzicht und Rache, und an diesen Eckpfeilern wird auch hier nicht gerüttelt. Der Rausschmeißer Jeff (Chow-Yun Fat) versucht, seinen Freund Sam (Anthony Wong, "Infernal Affairs") aus der Bredouille zu helfen. Der hat Geldprobleme und sich mit dem flamboyanten Gangsterboss Judge (Simon Yam) und seiner psychopathischen Gang eingelassen. Um Sam zu unterstützen willigt Jeff ein, beim nächsten Coup zu helfen, um dort prompt verraten zu werden und dann seinen Rachefeldzug zu starten. So einfach geht's zu. Eine einfache Geschichte, stimmungsvoll erzählt. Auch das ist ein Markenzeichen des heroic bloodshed. Dabei gibt es zwar wie im Hongkongfilm durchaus üblich einige Stotterer in der Geschichte (Sams doppelte Wandlung etwa wird nicht besonders glaubwürdig präsentiert), aber Genrefans wird das wenig stören. Die erfreuen sich an der knallharten Action und stylishen Inszenierung.

Eine virtuelle Neuerung lange vor der "bullet time" der Wachoswkis kann Regisseur Ringo Lam hier auch für sich verzeichnen, die "Full Contact" zum zumindest kleinen Klassiker des Actiongenres macht: die "bullet cam", bei der die Kamera dem Flug einer Kugel folgt bzw. diesen simuliert bis hin zum blutigen Ziel. Das hat man heutzutage nun auch schon öfters gesehen, aber vor 13 Jahren und ohne die allgegenwärtige CGI als Hilfsmittel war das damals revolutionär. Kein Wunder, dass sich Hollywoods Actionbranche Anfang der 1990er von Hongkong inspirieren ließ, da diese zu dem Zeitpunkt in Choreographie und Inszenierung einer Actionszene einfach weit voraus waren.
Weniger glücklich verlief der Versuch, auch den Regisseur nach Hollywood zu verpflanzen. Wie jeder übersiedelnde Hongkong-Regisseur (man frage John Woo oder Tsui Hark) musste Ringo Lam erstmal versuchen, der belgischen Wuchtbrumme Jean-Claude Van Damme ein Actionspektakel Maß zu schneidern. Und über den Status ist Lam auch bis heute nicht herausgekommen, arbeitet weiter in seiner Heimat und wirft alle paar Jahre einen neuen Klopperfilm mit den "muscles from Brussels" in der Hauptrolle auf den Markt, zuletzt "In Hell" (2003). Schade um den Mann und sein Talent, denn dass Lam durchaus zu Höherem fähig wäre, dafür ist auch "Full Contact" Beweis genug.

Um so schöner daher, dass dieser Film endlich in einer ordentlichen Fassung vorliegt: Statt dem vorher vorherrschenden beschnittenen Vollbildversion kann man den Film nun endlich in seinem Originalformat (1.85:1) und auch endlich ungeschnitten erleben. Bild und Ton wurden restauriert, was man beidem anmerkt, wenn auch die Ergebnisse nicht zwangsläufig brillant sind. So ist das Bild zwar von gröbstem Schmutz und Kratzern bereinigt, bleibt aber aufgrund der in Hongkong chronisch schlechten Sorgfalt bei der Aufbewahrung von Originalfilmmaterial eher durchschnittlich gut. Dafür hat man dem deutschen Ton (mit seiner, nun ja, eher plumpen Original-Synchronfassung) nachträglich auf 5.1-Sound neu abgemischt, so dass man sich an einer gewissen Räumlichkeit von Musik und Soundeffekten erfreuen kann. Allerdings merkt man auch hier die Limitierungen des Originalmixes an, denn den Vergleich mit dem Surround-Erlebnis moderner Blockbuster kann man natürlich mit dem künstlich verteilten Originalmonomix nicht erreichen.
Dennoch hat "Full Contact" noch nie so gut ausgesehen und geklungen wie hier, was ihm hoffentlich endgültig vom Stigma des Bahnhofskinohits befreit. Als Bonus ist nur der Trailer dabei, aber an Bonusmaterial für DVDs war 1993 ja noch nicht gedacht und nachträglicher Produktion solchen Materials steht man in Hongkong ja auch eher skeptisch gegenüber. Dazu kommt wie gesagt die Restaurierung der damals trotz FSK-18 vorgenommenen Zensurschnitte und es ist klar: Wer sich mit "Full Contact" einen Klassiker des Hongkong-Kinos in den Schrank stellen will, kommt an der Neuauflage nicht vorbei.


8
8/10

Wirklich guter Film. Ringo Lam ist ein sehr fähiger Regisseur, was man auch daran erkennt, dass seine Van Damme-Filme innerhalb dessen Filmografie durchaus als Höhepunkte bezeichnen kann (v.a. Replicant). Sehr empfehlenswert sind auch Lams Prison on Fire I und II sowie Full alert.

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