Electra Glide In Blue

Originaltitel
Electra Glide In Blue
Land
Jahr
1973
Laufzeit
114 min
Release Date
Bewertung
8
8/10
von Simon Staake / 10. Juni 2021

Was für ein Titel. Vielleicht einer der schönsten, die Hollywood hervorgebracht hat. Electra Glide In Blue. Ein Versprechen, ach was: eine Verheißung. Weiß man nicht das Genre, dieser Filmtitel könnte für alles stehen, vom Science Fiction-Film bis hin zum Softporno kann man sich alle möglichen Filme vorstellen, die von einer Electra Glide in Blue handeln. Dass es sich dabei um einen Motorradtyp samt Farbe handelt, wusste ich lange nicht. Aber keine Angst, deutsche Sorgfalt – ja man will fast sagen: deutsches Beamtentum im Filmvertrieb – macht noch jeder Fantasie den Garaus. Deutscher Kinobesucher, hier ist "Harley Davidson 344". Der Originaltitel ist pure Poesie, der deutsche Verleihtitel von 1973 ist eine Katalognummer.
 

Es gehört zu den schönen kleinen Details der gerade erschienenen Neuedition von „Electra Glide In Blue“ als Blue Ray-Mediabook, dass der Originaltitel nun auf dem schönen, statt einem Photoshop-Murks mit dem Originalfilmposter ausgestatteten Cover prangt. Zu den Extras der Erstveröffentlichung auf DVD (eine spoilernde Einleitung von James William Guercio, sein Audiokommentar und der Filmtrailer) gesellen sich in der Neuedition neben einem Essay im Booklet ein Videoessay mit Mike Siegel, der sich ja hierzulande hauptsächlich um eine bessere Repräsentation und Anerkennung von Sam Peckinpahs Werk verdient gemacht hat.

In seiner rund zwanzigminütigen Präsentation präsentiert er eine ganze Reihe von interessanten Anekdoten zur Konzeption und Umsetzung des Films, vor allem zur Tatsache, dass Regie-Neuling Guercio von seiner Aufgabe vollkommen überfordert war und die Regie in Komitee-Arbeit von den jeweiligen Beteiligten, allen voran Kameramann Conrad Hall und (nach Eigenangaben) Hauptdarsteller Robert Blake übernommen wurde. Dass dies Guercios enormen Ego keinen Abbruch tat, kann man unter anderem auch in der ebenfalls neu hinzugekommenen Bildergalerie sehen, wenn etwa die Singleveröffentlichung der Filmmusik seinen Namen in riesigen Buchstaben aufs Cover presst, wohingegen der eigentliche Sänger des Liedes, Chicago-Mitglied Terry Kath, nur ganz klein und verstohlen auf dem Label der Single erwähnt wird („vokal: T. Kath“, auch noch Rechtschreibfehler drin!).

An der visuellen Präsentation des Films hat sich in der Neuedition übrigens nicht viel geändert, Schärfe und Detail lassen in einigen Szenen (die Anfangsszene in Wintergreens Wohnung etwa) doch zu wünschen übrig, dafür sind die Außenaufnahmen weitestgehend okay. Aber so ist es halt mit einem Low Budget-Film aus den frühen Siebzigern, dem man keine Restaurierung hat zu Gute kommen lassen.

Und wie schön ist es angesichts dieser Neuauflage, diesen Film nach einer knappen Dekade mal wieder zu sehen, sich an den von Conrad Hall wunderbar eingefangenen Bildern Arizonas und der Gegend rund um Monument Valley sattzusehen, sich an den thematischen Spannungen des Films zu reiben, der die Freiheit des New Hollywood zu atmen scheint und dabei doch immer wieder das reaktionäre, ältere Amerika aus den Mundwinkeln auszustoßen scheint.

Regisseur William James Guercio und Drehbuchautor Robert Boris haben den Film dezidiert als Gegenentwurf zu „Easy Rider“ konzipiert. Auch hier sind die Hauptdarsteller zwei Männer auf Motorrädern, aber statt Hippies sind es die Polizisten, das Hippie-Feindbild, die hier im Mittelpunkt stehen. Einer ist eben jener John Wintergreen, körperlich ausgesprochen klein gewachsen, aber mit großen Träumen. Statt weiterhin die Highways Arizonas abzufahren und an Raser Strafzettel zu verteilen, träumt er davon, als Ermittler in der Mordkommission richtige Kriminalfälle zu lösen. Die Träume seines Partners Zipper Davis (Kultschauspieler Billy „Green“ Bush) sind einfacher, profaner: ein neues, aufgebrezeltes Motorrad, am Besten eine Harley Davidson, Typ Electra Glide, in Blau. Auch Zipper selbst ist einfacher und profaner, er verbringt seine Arbeitstage am Liebsten damit, Hippies zu drangsalieren. Als ein Einsiedler tot aufgefunden wird und sich der vermeintliche Selbstmord als Mord entpuppt, wittert Wintergreen seine große Chance. Er wird von dem mit dem Fall beauftragten Harve Poole (Mitchell Ryan) als Fahrer angeheuert, um bei den Ermittlungen zu helfen. Während sich die Jagd auf einen verdächtigen Hippie-Drogendealer als schwierig darstellt, wird Wintergreen immer unsicherer, ob sein Mentor Poole tatsächlich ein nachahmenswertes Vorbild ist...
 

Wie diese Ermittlungen voran gehen wird nicht verraten, aber sie schreiten in einem sehr zeitgemäßen Tempo voran, sprich: in einem sehr gemütlichen. Und auch der Mordfall selbst tritt relativ schnell hinter anderen Sachen zurück und wird dann am Ende auch eher beiläufig aufgelöst. Was bei dieser Wiederansicht ins Auge fällt, ist, wie wenig stringent der Film geplottet ist. „Eigenwillige Dramaturgie“ nennt der Aufsatz im Booklet dies, und untertrieben ist das nicht. Wie eben auch ein „Easy Rider“ ist der Film eher eine Sammlung von Anekdoten und Einzelszenen, die zwar von dem Kriminalfall zusammengehalten werden, aber ansonsten so gut wie keinen dramatischen Zug entwickeln.

Andere Teile des Films wirken, als hätte man die – sagen wir mal wohlwollend – ungezügelte Plotlogik des italienischen Genrefilms ins New Hollywood verfrachtet. Da wird dann der Hauptverdächtige des Mordfalls – als dreckig-speckiger Hippie ausgerechnet vom später schmusigen „Chicago“-Sänger Peter Cetera dargestellt – per reinem Zufall von Wintergreen entdeckt, die nachfolgende ausladende Verfolgungsjagd wurde von Guercio nachträglich eingefügt, nachdem er „French Connection – Brennpunkt Brooklyn“ gesehen hatte, und wirkt dementsprechend wie ein Fremdkörper. Und wie genau Wintergreen auf den zu überführenden Mörder kommt, bleibt letztlich auch ziemlich im Dunkeln und ist vielleicht auch egal.

Ob die Episodenhaftigkeit von „Electra Glide in Blue“ jetzt den von Mike Siegel beschriebenen chaotischen Umständen am Filmset rund um den überforderten Guercio zuzuschreiben ist oder aber doch Ergebnis des gewagt-gewollten und eigenwilligen Versuchs sind, einen Polizeifilm, einen Neowestern und ein Charakterdrama zusammenzumischen - der Rhythmus des Films ist tatsächlich ungewöhnlich und fordert einem modernen Publikum sicherlich ein wenig Geduld ab. Aber er macht diesen Film eben aus, genauso wie er das New Hollywood verkörpert: Statt klassischem Plot stehen einzelne Momente, Szenen und Emotionen im Mittelpunkt.

Herausfordern will der Film schon durch seine Herangehensweise an die Hippies-gegen-Cops-Dichotomie seiner Epoche, er tut es aber auch durch die Art und Weise, wie er diese darstellt. Wintergreens nachvollziehbare, immer größer werdende Abneigung gegen die zynische Amtsausübung von Leuten wie Zipper und Poole wird deutlich, ohne dass der Film dies offen aussprechen muss, weswegen das Ende des Films wie der Rest ambivalent ist: Ist das jetzt bittere Ironie, Tragik, oder aber doch ein letzter Haken, den der Regisseur seinem Publikum verpasst? Klar ist nur: dieser Film konnte nur zu einem einzigen Zeitpunkt in Hollywood gemacht werden. 

Wo „Electra Glide in Blue“ von Anfang an im Weltbild zwischen Freiheitsverheißung und Zwängen hin- und hergerissen ist, wo der Hippie erst Feindbild ist, das dann über den Verlauf des Films zumindest für John Wintergreen immer weiter revidiert und aufgelöst wird, wird es am Ende dann je nach Sichtweise entweder ironisch gebrochen oder wertkonservativ agierend das Ende des Hippietraums beschworen. 1973, als „Electra Glide In Blue“ in die Kinos kam, war der Traum der Blumenkinder schon zu Ende, die Ich-Dekade der Babyboomer stand vor der Tür, das New Hollywood war noch in voller Blüte, aber das Ende war schon abzusehen, fern am Horizont.

Das Ende ist hier dann sowohl Spiegelung des Endes von „Easy Rider“, als auch Verkehrung, ja: Pervertierung für manche. Kein Wunder, dass sowohl Presse als auch Publikum nicht recht wussten, was sie mit dem Film anfangen sollten. Nur auf eines kann man sich einigen: Wer einmal das Ende des Films gesehen hat, der wird es niemals vergessen. Wie Wintergreen dort inmitten der Wüste und den Bergen zurückbleibt, fast wie ein verlorener, aus einem Auto gefallener Teddybär, wie die Kamera immer weiter zurückrollt, wie die beeindruckende Landschaft immer größer und mächtiger wird und der darin verlorene Mensch immer kleiner und unwichtiger, all dies unterlegt von Guercios und Terry Kaths majestätischer Ballade „Tell Me“. Immer weiter fährt die Kamera zurück, immer wieder denkt man, jetzt kommt der Schnitt, aber auch hier widersetzt sich der Film den Erwartungen und die Einstellung geht einfach immer weiter, bar jeder üblichen Inszenierung und jeder Logik. Und wenn dann die Backgroundsängerinnen irgendwann gegen Minute sieben jubilieren „God Bless America today“ ist man wieder gefangen im „Electra Glide“-Dilemma: Soll man das für bare Münze nehmen? Ironisch verstehen? Oder ist es dann nicht eigentlich auch egal?

„Electra Glide in Blue“ ist ein nickliger Film, der es wie Artgenossen wie „Five Easy Pieces – Ein Mann sucht sich selbst“ seinem Publikum nicht einfach macht. Antworten auf einige der Fragen, die der Film aufwirft, über Kultur und Gegenkultur, über Korruption und ihren Korrosionseffekt, über Macht und Machtmissbrauch, über Träume und ihr Zerbrechen muss der Zuschauer für sich selbst finden. Am Ende aber bleibt nur: die endlose, lange Straße. God Bless America today, für solche Filme von gestern.

Bilder: Copyright

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