Ein Mensch der Masse

MOH (6): 1. Oscars 1929 - "Ein Mensch der Masse"

In unserer Serie "Matthias' Oscar History" (MOH) bespricht Matthias in jeder Folge jeweils einen der zwischen den Jahren 1929 und 2000 nominierten Oscar-Beiträge aus der Kategorie "Bester Film".

von Matthias Kastl / 3. Oktober 2023

Mit “Chang“ wurde in der letzten Folge gewissermaßen die Grundlage für “King Kong“ gelegt, nun kommt der nächste “König“ daher. Mit “Ein Mensch der Masse“ gelingt Regisseur King Vidor nichts anderes als ein kleines Meisterwerk, auch wenn der Film bei den ersten Academy Awards im Jahre 1929 nur die Nominierung, nicht aber den Sieg in der Kategorie “Unique and Artistic Picture“ einheimsen konnte.


Ein Mensch der Masse

Originaltitel
The Crowd
Land
Jahr
1928
Laufzeit
98 min
Genre
Regie
Release Date
Oscar
Nominiert "Unique and Artistic Picture"
Bewertung
10
10/10

Die Hoffnung, in unserer Oscar-Serie auf die ein oder andere Filmperle zu treffen, wird direkt im ersten Jahr der Academy Awards erfüllt – und zwar so richtig. “Ein Mensch der Masse“ ist mit einer der Gründe, warum unsere Reihe in dieser Form überhaupt existiert. Ursprünglich hatte ich angedacht, mich rein auf die Oscar-Gewinner zu konzentrieren. Doch nach einem neugierigen Blick auf die nominierten Filme im ersten Jahr der Academy Awards und dem Entdecken dieser kleinen Perle, war dann doch die Neugier zu groß, was sich noch alles so abseits der Preisträger entdecken lassen würde.

“Ein Mensch der Masse“ ist ein eindrucksvolles Meisterwerk der Stummfilmzeit, das von allen Nominierten in diesem Jahr den mit Abstand modernsten und emotional bewegendsten Eindruck hinterlässt. Der Film handelt von dem Versicherungsangestellten John Sims (James Murray), der seit Kindheitstagen davon überzeugt ist für ganz Großes im Leben vorbestimmt zu sein. Seine Frau Mary (Eleanor Boardmann) unterstützt ihren Mann zwar, wo sie kann, doch als die Schicksalsschläge immer heftiger werden beginnt auch sie an dessen großem Lebenstraum zu zweifeln.
 


Es gibt viele Gründe, warum “Ein Mensch der Masse“ selbst knapp 100 Jahre später noch so gut funktioniert. Da wäre zum einen die Inszenierung, die teilweise stark an das moderne Kino von heute erinnert. Allein der spektakuläre Flug der Kamera direkt zu Beginn hoch zum 22. Stock und hinein in das überfüllte Großraumbüro von Johns Versicherung sticht heraus – trotz der damals nur verfügbaren simplen Tricktechnik. Vor allem ist es aber die Art der Bildgestaltung in vielen Szenen, die oft einen so vertraut und modern wirkenden Eindruck hinterlässt. Schon wie Regisseur King Vidor zum Beispiel die Tiefe des Raumes (Stichwort forced perspective) dafür nutzt, um bei dem ersten großen Schicksalsmoment in Johns Kindheit dessen Schock und Verzweiflung herauszuarbeiten, ist schlicht großartig.

King Vidor, der 1979 den Ehren-Oscar für sein Lebenswerk erhielt, werden wir bei den Academy Awards ebenfalls noch öfters begegnen. Ein faszinierender und innovativer Regisseur, der unter anderem den ersten großen Hollywoodfilm mit einer rein schwarzen Cast drehte und als Nebenregisseur die berühmte Gesangsszene von “Somewhere over the rainbow“ zu “Der Zauberer von Oz“ beisteuerte.

Gepaart wird Vigors tolle Inszenierung mit einer Story, die einen auch heute noch abholt. Die Angst davor nur ein unbedeutendes Zahnrad in einer sich immer schneller drehenden Welt zu sein, das lässt sich auch oder gerade heute ziemlich leicht nachfühlen. Die große Stärke des Films liegt dann aber auch darin, dass er dieses Thema mit einer für die damalige Zeit nicht selbstverständlichen Einfühlsamkeit einfängt. Unnötige Slapstick-Passagen (wie ja bereits bei vielen anderen der hier Nominierten gesehen) sind Fehlanzeige, genauso wie übertrieben ausgeschlachtete dramatische Momente. Womit wir auch bei den Schauspielern wären, denn gerade Murray und Boardman spielen im Vergleich zu vielen ihrer Zeitgenossen ihre Rollen deutlich subtiler. Hier bauen sich Streits langsam und nachvollziehbar auf und der Bogen wird dabei auch nicht durch unnötige schauspielerische Theatralik überspannt.
 


Das alles lässt “Ein Mensch der Masse“ einfach so unglaublich reif und einfühlsam wirken. Ein klein wenig erinnert der Film in dieser Hinsicht an die Arbeit von Charlie Chaplin, nur mit einer ordentlichen Portion Tragödie obendrauf. Was zu wirklich herzzerreißenden Momenten führt, wenn zum Beispiel John verzweifelt auf die Straße rennt, um dort dem Großstadtlärm Einhalt zu gebieten, da seine kranke Tochter dringend Schlaf benötigt. “The world does not stop because your baby is sick“ erhält er von einem Polizisten knallhart als Antwort, und da muss dann auch der abgebrühteste Filmkritiker einmal kräftig schlucken.

Der Begriff von der Magie des Kinos wird oft ja inflationär gebraucht, aber hier möchte ich den einfach mal wieder auspacken. Wenn ein Stummfilm aus dem Jahre 1928 dich derart sprachlos und berührt zurücklässt, dann ist das nichts anderes als ein Beweis für die Kraft und Macht dieser Kunstform.

"Ein Mensch der Masse" ist aktuell leider nicht in Deutschland als DVD verfügbar. Dafür ist er aber auf der Webseite des Internet Archive kostenlos abrufbar.


Ausblick
In der nächsten Folge treffen wir in “Sonnenaufgang – Lied von zwei Menschen“ auf einen der bedeutendsten Stummfilmregisseure Deutschlands und eine ordentliche Portion Expressionismus.


Neuen Kommentar hinzufügen

Der Inhalt dieses Feldes wird nicht öffentlich zugänglich angezeigt.

Klartext

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
  • Website- und E-Mail-Adressen werden automatisch in Links umgewandelt.
CAPTCHA
Diese Aufgabe prüft, ob du menschlich bist um Bots zu verhindern.