MOH (18): 4. Oscars 1931 - "East Lynne"
In unserer Serie "Matthias' Oscar History" (MOH) bespricht Matthias in jeder Folge jeweils einen der zwischen den Jahren 1929 und 2000 nominierten Oscar-Beiträge aus der Kategorie "Bester Film".
Die vierten Academy Awards wurden am 10. November 1931 vergeben und berücksichtigten zwischen dem 1. August 1930 und 31. Juli 1931 veröffentlichte Filme. Nach einem qualitativ guten Vorjahr und einem überzeugenden Sieger ("Im Westen nichts Neues") lässt die Auswahl der Nominierten in der Kategorie "Bester Film" in diesem Jahr leider wieder etwas zu wünschen übrig. Aber was wollen wir uns beschweren, eigentlich sollte man glücklich sein für jedes dieser alten Werke, das noch heute in halbwegs ordentlicher Qualität erhalten ist.
Daran erinnert in diesem Oscar-Jahr auch wieder das Melodrama "East Lynne", dessen großer Schlussakt heute nur noch in einem eher bedauernswerten Zustand erhalten ist. Im Gegensatz zu vielen anderen seiner Alterskollegen, wie zum Beispiel dem in dieser Reihe bereits erwähnten und wohl für immer verschollenen Oscar-nominierten "Der Patriot", war das Schicksal allerdings ja fast noch gnädig mit "East Lynne". Bevor wir einen genaueren Blick auf den Film werfen wollen wir deswegen einmal kurz erläutern, warum so viele Filme aus der Frühzeit des Kinos heute eigentlich nicht mehr auffindbar sind.
Hintergrund: Burn Movie Burn – Vom Überlebenskampf alter Filme
Die von Martin Scorsese und weiteren berühmten Filmemachern (u.a. Clint Eastwood, Steven Spielberg und Francis Ford Coppola) ins Leben gerufene Film Foundation, die sich der Rettung alter Filmschätze verschrieben hat, geht heute davon aus, dass fast 90% aller in den USA produzierten Filme vor 1929 und fast 50% aller Filme vor 1950 wohl für immer verloren sind – und weltweit dürfte das auch nicht viel besser aussehen. Der Hauptgrund dafür ist die Tatsache, dass die Filmindustrie in den Anfangsjahren den nicht wirklich langlebigen und vor allem auch leicht brennbaren Nitratfilm für ihre Produktionen nutzte. Alleine durch einen Großbrand im Filmarchiv der 20th Century Fox Studios im Jahr 1937 wurde so ein Großteil der alten Stummfilme des Studios zerstört.
Gar nicht so selten kam es aber auch vor, dass Filme auch absichtlich vernichtet wurden. George Arliss, dessen Film "Disraeli" bei der dritten Verleihung der Academy Awards nominiert war, ließ so zum Beispiel alle Kopien einer bereits 1916 produzierten Filmversion der gleichen Geschichte vernichten. Er hatte sich die Rechte für den Stoff gesichert und duldete schlicht keine "Konkurrenz". Eine Praxis, die gar nicht so selten vorkam. Aber auch ohne so fadenscheinige Attacken hatten alte Filmrollen damals einen schweren Stand. Denn der Zahn der Zeit nagte relativ schnell an dem hochempfindlichen Filmmaterial und das Bewusstsein für das Bewahren der Filme für die Zukunft war damals auch nicht wirklich ausgeprägt. Dazu muss auch erwähnt werden, dass man gerade in den 1930er Jahren in Hollywood nahezu im Akkord Filme produzierte und schlicht einfach auch nicht die Lagerkapazitäten für all diese Filmrollen hatte. Und eben oft auch nicht bereit war diese im großen Stil zu schaffen.
Das Ergebnis: Alfred Hitchcocks zweiter Film "Der Bergadler" ist zum Beispiel bis heute nicht mehr auffindbar. Ein Schicksal, dass abertausende von Filmen mit ihm teilen. Da blutet einem schon ein wenig das Herz angesichts dieser so faszinierenden Zeit der Filmgeschichte. Manche Filme haben zumindest etwas mehr Glück gehabt und sind immerhin teilweise erhalten. Als heiliger Gral in Sachen verschollene Filmrollen gilt für viele dabei der Originalschnitt von Orson Welles "Der Glanz des Hauses Amberson", dessen Filmnegative einst vom Studio absichtlich zerstört wurden – man wollte Platz im hauseigenen Filmtresor schaffen. Noch heute gibt es den Film nur in einer vom Studio um eine Stunde gekürzten Version, auch wenn viele die Hoffnung nicht aufgegeben haben, einst an Welles geschicktes Originalmaterial noch irgendwo aufzutreiben.
So ganz unrealistisch ist das gar nicht, wie der überraschende Fund einer Originalversion von Fritz Langs Meisterwerk "Metropolis" in einem argentinischen Filmarchiv aus dem Jahr 2008 zeigt. Viele alte Filme sind aber leider für immer verloren, nur in Bruchstücken erhalten oder qualitativ in einem so schlechten Zustand, dass man erst einmal jede Menge Arbeit und Geld reinstecken müsste, um diese in einen halbwegs ansehnlichen Zustand zu versetzen. Was für eine Mammutaufgabe das trotz des Einsatzes von Organisationen wie der Film Foundation heute ist, zeigt alleine die Tatsache, dass selbst einige der ja eher prominenteren Oscar-Kandidaten der 1930er Jahre immer noch nur in einem teils bemitleidenswerten Zustand für die breite Öffentlichkeit zur Verfügung stehen.
Und als ob das alles nicht schon herausfordernd genug ist, kann man sich nicht einmal sicher sein mit einer finalen Filmversion die beste Version des Filmes in den Händen zu halten. Früher war es nicht so einfach, Filmnegative zu kopieren, und so wurde für unterschiedliche Märkte (beispielsweise US-Markt, Großbritannien und das restliche Ausland) je ein eigenes Original-Filmnegativ genutzt. In der Stummfilmzeit erreichte man dies einfach dadurch, dass man drei Kameras parallel laufen ließ. Mit dem Aufkommen des Tons war dies aber nicht mehr möglich und so behalf man sich anfangs oft damit, dass man einfach mehrere Takes einer Szene aufnahm – dabei wurde die beste Aufnahme natürlich immer für den heimischen Markt genutzt. Wer also ein ausländisches Filmnegativ entdeckt, hat eventuell nur die drittbeste Version des Filmes in seinen Händen (eine Phänomen, über das wir in der nächsten Folge anhand eines Praxisbeispiels noch mehr erfahren werden).
Um ein bisschen die Stimmung zu heben, hier die Geschichte eines wiederaufgetauchten Ernst Lubitsch-Films.
Angesichts dieser Herausforderungen und dem harten Überlebenskampf vieler dieser alten Filme sollten wir uns also freuen, dass es überhaupt einige noch bis in unser Jahrtausend geschafft haben. Wie zum Beispiel die fünf in der Hauptkategorie "Outstanding Production" 1931 für den Oscar nominierten Werke "East Lynne", "The Front Page", "Skippy", "Trader Horn" und der Sieger "Pioniere des wilden Westens". Und so starten wir dankbar in diese vierte Oscar-Verleihung mit unserer Rezension zum Melodrama "East Lynne".
East Lynne
Vielen Menschen dürfte wohl auf den ersten Blick genau so etwas wie "East Lynne" vorschweben, wenn sie an alte Schwarz-Weiß-Filme denken: ein High-Society-Melodrama, gefüllt mit elegant formulierten aber oft sehr theatralisch gespielten Dialogen. Doch bei genauerem Hinsehen kommt der Film deutlich moderner daher, als es den Anschein hat. Dabei ist das Ausgangsszenario ja geradezu ein Klassiker des Genres. Die lebensfreudige englische Lady Isabel (Ann Harding) heiratet den reichen aber etwas spröde daherkommenden Robert Carlyle (Conrad Nagel), der sich nach kurzer Zeit schon als genauso besitzergreifender wie unsympathischer Ehemann outet. Selbst ein gemeinsames Kind ändert daran nur wenig, auch weil Roberts ebenfalls im Haus lebende Schwester Cornelia (Cecilia Loftus) Isabel das Leben zur Hölle macht. Vorhang auf für den deutlich lebenslustigeren William (Clive Brook), dessen Zuneigung zu Isabel schon bald für jede Menge Argwohn bei Robert sorgt.
Wer angesichts dieser Handlungsbeschreibung nun denkt zu wissen, was hier genau passieren wird, der dürfte von "East Lynne" sehr positiv überrascht werden. Während Robert schon bald in der klischeehaften Rolle des herrischen Ehemanns stagniert, hält die Figur des William einige ziemliche unberechenbare Entwicklungen parat. Der Film wechselt dafür teilweise auch wild die Schauplätze und unternimmt unter anderem Abstecher nach Venedig und Paris. Vor allem aber geht es hier am Ende gar nicht so sehr darum, ob Isabel jetzt den richtigen Mann fürs Leben findet. Stattdessen steht eher im Fokus, ob denn Isabel auch ihr Recht auf ein bisschen Spaß einfordern darf und ob eine immer den Mann bevorzugende Sorgerechtsregelung nicht eigentlich ungerecht ist. Das sind dann doch schon deutlich interessantere und für die damalige Zeit ziemlich fortschrittliche Themen.
Ein klein wenig erinnert dies an den vor kurzem besprochenen Film "The Divorcee" – auch wenn die Hauptfigur dort eine deutliche Spur wilder daherkam. Es zeigt auch, dass diese alten Filme durchaus moderne Blickwinkel einnehmen konnten (die mit den strikten moralischen Vorgaben des sogenannten Hays Code ab 1934 dann aber fast völlig verschwanden). Abseits der Thematik funktioniert "East Lynne" heute als Geschichte aber auch darum ganz ordentlich, weil man mit Lady Isabel ziemlich einfach sympathisieren und mitleiden kann.
Gerade am Anfang, wenn der Film liebevoll die Beziehung zwischen Isabel und ihrem Kind etabliert, heimst Isabel die dafür nötigen Bonuspunkte beim Publikum für sich ein. So lässt sich zumindest ein bisschen verzeihen, dass einige Dialoge schon sehr steif und theatralisch aufgesagt werden. Inszeniert ist das alles mit einem über weite Strecken guten Feingefühl von Regisseur Frank Lloyd, der mit dem Klassiker "Meuterei auf der Bounty" ein paar Jahre später den Oscar für den besten Film und die beste Regie einheimsen sollte.
Nur am Ende, da legt der Film sich selbst noch ein richtig unerfreuliches Ei. In den letzten 15 Minuten greift man deutlich zu tief in die Klischeekiste des Genres und sorgt eher für unerwartete Lacher als emotionales Mitgefühl. Gerade weil der Rest des Films seine Sache so ordentlich macht ist dieses B-Movie-Ende dann schon etwas frustrierend. Jetzt kommt aber das große "Aber". So richtig fair betrachten lässt sich das Werk nämlich nur bedingt. "East Lynne" steht der Öffentlichkeit nämlich nicht wirklich in einem guten Zustand zur Verfügung. Die einzige Kopie des Filmes kann man sich offiziell nur exklusiv im Archiv der University of California auf Anfrage anschauen – so fragil ist deren Zustand. Glücklicherweise hat es diese Version, wenn auch in teils bedenklichem Zustand, aber immerhin ins Internet geschafft und kann so auch ohne kalifornischen Wohnsitz betrachtet werden.
Allerdings entspricht diese Version nicht wirklich dem, was einst im Kino lief. Einige Szenen sind nämlich deutlich sichtbar mit einem "X" markiert und waren wohl gar nicht für den finalen Cut gedacht. Es dürfte sich also lediglich um eine nicht finale Schnittversion handeln, die uns heute noch erhalten geblieben ist. Mit anderen Worten, auch wenn man hier inhaltlich ziemlich nah dran an der damaligen Kinoversion sein dürfte, 100% originalgetreu ist diese Version eben nicht. Ob vielleicht sogar das misslungene Ende damals im Kino anders ausgesehen hat? Wir werden es wohl nie erfahren.
Aufgrund der Tatsache, dass diese Version von "East Lynne" aber trotz all der Widrigkeiten und des schlechten Zustands der beste Film aller diesjährigen Nominierten ist, bleibt wenigstens zu hoffen, dass jemand zumindest mal eine ordentliche Restaurierung des Films in Angriff nimmt und diese der breiten Öffentlichkeit dann auch offiziell zur Verfügung stellt.
"East Lynne" ist leider nicht auf DVD verfügbar. Glücklicherweise ist der Film aber (wenn auch in keinem guten Zustand) über Youtube zu finden (Suche nach "East Lynne 1931").
Ausblick
In unserer nächsten Folge treffen wir wieder auf Oscar-Regisseur Lewis Milestone ("Im Westen nichts Neues"), der in "Frontpage" einen Ausflug in die ruchlose Branche des Boulevardjournalismus unternimmt.
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