
"Die Zwillinge" verbindet auf einfühlsame Weise das Schicksal zweier Schwestern, die nicht nur in getrennten Familien, sondern auch in getrennten Welten aufwachsen. Ben Sombogaarts Oscar-nominierte Verfilmung von Tessa de Loos gleichnamigem Bestseller ist nicht etwa eine Neuauflage des Doppelten Lottchens, sondern erforscht die Auswirkung der unterschiedlichen Umstände auf die Identität seiner Figuren.
Nach
dem Tod ihrer Eltern werden die Zwillingsschwestern Anna und Lotte
Bamberg brutal getrennt. Die schwindsüchtige Lotte (Julia Koopmans)
wird zu wohlhabenden Verwandten nach Holland geschickt, während
Anna bei ihrer Tante (Margarita Broich) und ihrem Onkel (Ingo Naujoks)
auf einem Bauernhof in der Nähe von Köln aufwächst.
Schon hier werden die Weichen für ihr späteres Leben gestellt.
Während Anna trotz ihrer Begabung für schwachsinnig erklärt
wird, damit sie der Tante als Arbeitskraft erhalten bleibt, genießt
Lotte ein angenehmes Leben und eine gute Ausbildung. Erst als junge
Frauen entdecken die beiden, dass ihre Kontaktversuche systematisch
unterdrückt wurden. Als sie sich schließlich wiedersehen,
ist Lotte (Thekla Reuten, "Rosenstraße")
an der Universität und Anna (Nadja Uhl, "Lautlos")
ein einfaches Dienstmädchen. Die kindliche Vertrautheit will
sich nicht recht einstellen und wird vollends zerstört, als
Lotte mit Annas antisemitischem Alltag konfrontiert wird, denn mittlerweile
sind in Deutschland die Nazis an der Macht. Aus Solidarität
zu ihrem jüdischen Verlobten bricht Lotte den Kontakt zu Anna
ab ....
Der
Film spielt sich in drei Zeitabschnitten ab, die von einander stilistisch
abgegrenzt sind. Die Kindheitssequenzen haben eine traumartige Qualität,
die Farben des Hauptteils hingegen wurden gebleicht um den Bildern
die trostlose Qualität der Epoche zu geben. Im Kontrast dazu
wurde die Gegenwartssequenz kaum bearbeitet. In allen drei durch
Flashbacks und -forwards verschachtelten Teilen glänzen die
weiblichen Hauptdarstellerinnen, mit denen der Film steht und fällt.
Besonders eindrucksvoll spielt Nadja Uhl die Figur der Anna, die
immer wieder vom Schicksal betrogen wird, egal wie sehr sie um ihr
Glück kämpft. Sehr überzeugend ist auch Thekla Reuten,
deren Stärke es ist, die inneren Konflikte ihrer Figur Lotte
darzustellen. Die holländische Schauspielerin wurde in diesem
Jahr von der European Film Promotion zum Shooting Star gekürt.
Ein weiterer Höhepunkt des Films ist Jeroen Spitzenberger,
der Lottes Verlobten David spielt.
Ben Sombogaarts Film ist immer dann besonders gut, wenn er versucht,
sich mit dem Phänomen Zwillinge, das heißt dieser angeblich
fast übernatürlichen Nähe, die Normalsterbliche nicht
nachvollziehen können, auseinandersetzt. So hat die Zwillingsforschung
zum Beispiel ergeben, dass diese Geschwister spüren, wenn es
dem anderen schlecht geht. Sombogaart zeigt allerdings nicht nur
diese Nähe bestechend einfühlsam in seinen Unterwassersequenzen,
sondern auch die Entfremdung, die den Zwillingen durch ihre Trennung
widerfährt. Lottes Pflegeeltern lassen sie ihre Herkunft als
Tochter von "Barbaren" (Bauern) sowie auch als Deutsche
verleugnen, einen Stein, über den sie ihr ganzes Leben lang
stolpern wird.
Das
Problem der unterschiedlichen Klassen wird durch die Spaltung in
Nazis und Nichtnazis noch verstärkt. Hier gerät Sombogaart
ins Schwanken. Während Lotte alle Deutschen über einen
Kamm schert und als Täter verurteilt, ist der Regisseur peinlich
bedacht, aus Anna eine sympathische und naive Mitläuferin zu
machen, die es gut findet, dass durch Hitler die Bauern mehr Ansehen
bekommen und jetzt auch Frauen Goethe lesen dürfen. Ihr Mann
Martin (Roman Knižka, "Anatomie
2") ist zwar bei der SS, aber in Wirklichkeit ja nur zwangsverpflichteter
Österreicher, der den Krieg verabscheut. Auf der anderen Seite
sind alle Niederländer bis auf Lottes Vater in diesem Film
extrem integer und judenfreundlich. Von Kollaborateuren oder richtigen
Nazis keine Spur; man fragt sich, warum es überhaupt zum Krieg
kam. All diese Fragen werden vom Regisseur bequem mit dem Kommentar
aus dem Weg geräumt, es handle sich um einen "Liebesfilm
über Zwillinge, der in einer schwierigen Zeit spielt."
So kann man es natürlich auch sagen.
Trotz
der Verharmlosung einiger Themen wirft der Film doch ein paar Fragen
auf, die vor allem in den Gegenwartssequenzen zur Geltung kommen.
Lotte (Ellen Vogel) hat Anna (Gudrun Okras) auch im hohen Alter
noch nicht verziehen, dass sie als Deutsche die Verbrechen der Nazis
geduldet hat. Berechtigterweise fragt die Schwester, was wohl passiert
wäre, wenn sie an Lottes Stelle in den Niederlanden aufgewachsen
wäre. Wie kann Lotte sich so moralisch überlegen fühlen?
Hätte sie sich wirklich anders verhalten? Der österreichische
(und jüdische) Dichter Erich Fried, dessen Vater von den Nazis
ermordet wurde, schrieb einmal über die Schuld, die auf ihm
lastet, weil er das Glück hatte, nicht in Auschwitz ermordet
worden zu sein.
Ein anderes Problem sind die teilweise sehr kitschigen Szenen. Gleich
am Anfang kommt es zu einer hektischen Kinder-Zerreißprobe,
wie auch Brecht sie schon im Kreidekreis inszenierte. Das Ganze
spielt sich dann auch noch bei donnernder Musik auf dem Friedhof
ab, was einfach zu übertrieben ist, um stilistisch zum Rest
des Films zu passen. Außerdem rast der Anfang voran, während
der Rest des überlangen Films eher ein langsames Tempo hat.
Identitätsfindung, Vergeben und Familienbande sind die großen Themen dieses Films. Trotz aller Kritik regt "Die Zwillinge" dazu an, vielleicht über den einen oder anderen Schatten zu springen, bevor es zu spät ist. Ein Film für Freunde des Melodramas, die nicht zu sehr auf geschichtliche Details achten. Taschentuch nicht vergessen.
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