
"Wer ist Keyser Soze?"
Diese Frage steht synonym für einen der größten Überraschungsmomente der Kinogeschichte, und wer sie nicht beantworten kann, darf, streng genommen, eigentlich gar nicht mitreden bei einigen der beliebtesten Diskussionsthemen unter Filmfreunden in den letzten zwei Jahren. In Gesprächen mit Gleichgesinnten kehrte ich nach dem Start von "Unbreakable" zu einem Thema zurück, daß bereits ein Jahr vorher, ausgelöst durch "The Sixth Sense" und "Fight Club", rege diskutiert wurde: Sinn, Unsinn und Funktionsweise von Schlußüberraschungen. Und wieder mußte ich in mehreren Fällen feststellen, daß meine Gegenüber beizeiten nicht so recht wußten, was gemeint war, wenn ich von "Keyer Soze-Effekt" sprach. In beinahe fassungsloser Entrüstung schickte ich diese Leute dann immer auf dem schnellsten Wege in die nächste Videothek und weigerte mich strikt, jegliche Diskussion zu diesem Thema fortzusetzen, solange Bryan Singer's "Die üblichen Verdächtigen" von 1995 nicht allgemein in der Runde bekannt war. Denn wer sich von Tyler Durden's Geheimnis in "Fight Club" oder dem wahren Kern von "The Sixth Sense" aus den Socken hauen ließ und eben dies als revolutionäres Großereignis der manipulativen Erzählkunst feierte, dem kann die größte An-der-Nase-herum-Führerei des letzten Jahrzehnts schlichtweg nicht bekannt sein.
Im Zentrum von "Die üblichen Verdächtigen" steht das Verhör des verkrüppelten Kleimkriminellen "Verbal" Kint (zurecht Oscar-gekrönt für diese Rolle: Kevin Spacey). Der ist seinem Spitznamen entsprechend auch sehr redselig und gibt freimütig über seine Involvierung in einen geplatzten Drogendeal Auskunft, der in einer Schiffsexplosion mit mehr als zwanzig Toten gipfelte. In Rückblenden erzählt Kint über die zufällige Zusammenführung von fünf Ganoven, die als stadtbekannte Verbrecher von der Polizei aufgegriffen werden, als diese in einer Raubsache mal wieder im Dunkeln tappt. Diese fünf "üblichen Verdächtigen" vertreiben sich die Zeit in der Untersuchungshaft mit dem Schmieden eines gemeinsamen Plans, durch den sie jedoch, ohne es zu Wissen, dem sagenumwobenen Gangsterboß Keyser Soze in die Quere kommen. Der fordert nun, vertreten durch einen zwielichtigen Anwalt, Wiedergutmachung in Form eines Himmelfahrtskommandos.
Ist die von List, Mißtrauen und krimineller Brillanz überbordende Rahmenhandlung schon packend genug, so ist das eigentliche Zentrum des Films doch ein anderes und noch viel faszinierender: Der Polizist Dave Kujan, der Kint verhört, ist nämlich eigentlich auf der Suche nach Beweisen für die Machenschaften von Dean Keaton, ehemaliger High Society-Bankrottier und einer der fünf üblichen Verdächtigen, den er für den wahren Keyser Soze hält. Dieser Soze ist eine mystische Legende, eine Gestalt wie das Monster von Loch Ness: Keiner hat ihn wirklich je gesehen, aber jeder kann eine Geschichte über ihn erzählen. Die Aufdeckung seiner Machenschaften, seiner wahren Identität, gerät zur eigentlichen Essenz dieses Films, der sein Geheimnis am Ende in einem atemberaubenden Doppelschluß aus vermeintlicher und tatsächlicher Auflösung lüftet und den Zuschauer rat- und sprachlos, hochgradig verwirrt und ebenso begeistert entläßt. Ein Salto Mortale der Publikumsmanipulation, wie er in dieser Perfektion, Ausarbeitung und Wirkung bis dato nicht vorhanden und von da an unerreicht blieb.
Das Konzept des "Must-see-twice-Movies" - ein Film, der am Ende so überrascht, daß man ihn zum genauen Begreifen des Vorgefallenen sofort noch einmal sehen möchte bzw. muß - wie es den wahnwitzigen Erfolg von "The Sixth Sense" hauptsächlich begründete, fand seine wahre Geburtsstunde hier. Streng genommen sind Shyamalans Filme ("Unbreakable" ebenso wie sein Vorgänger) einfach Plagiatoren. Zwar die besten, aber immer noch längst nicht so gut wie das Vorbild. Ein Vergleich lohnt sich, wenn diese Bildungslücke erst einmal geschlossen ist: Denn in der illustren und sehr kurzen Liste der großen und gelungenen Schlußüberraschungen stellt "Die üblichen Verdächtigen" einen Sonderfall dar, ist der Klassenprimus unter Kameraden die ähnlich gut wirkten, aber die meiste Zeit nur dem hohlen Selbstzweck dienten. Denn einzig Regisseur Singer und Autor Christopher McQuarrie gelang es, mit ihrem Ende nicht nur das bisher Gesehene vollständig aus den Angeln zu heben, sondern gleichzeitig diesen Schluß zum integrativen Bestandteil des gesamten Films zu machen, ohne den seine Handlung einfach nicht vollständig oder sinnvoll wäre. Eine in der Tat unvergleichliche Meisterleistung (und bei den Usern der IMDB auf Platz 15 der besten Filme aller Zeiten), die bedauernswerterweise längst nicht so viele Zuschauer erreichte wie die geistigen Erben von Fincher oder Shyamalan.
Zum weiteren Genuß der Faszination Schlußüberraschung seien noch empfohlen:
Zeugin der Anklage (Billy Wilder, 1957, mit Marlene Dietrich)
No way out (Roger Donaldson, 1987, mit Kevin Costner)
Angel Heart (Alan Parker, 1987, mit Mickey Rourke)
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