Der Obrist und die Tänzerin

Originaltitel
The Dancer Upstairs
Land
Jahr
2002
Laufzeit
124 min
Genre
Release Date
Bewertung
10
10/10
von Benjamin Hachmann / 31. Mai 2010

Der Schauplatz: ein südamerikanisches Land, unbenannt ist es und wird es bleiben. Augustin Rejas (Javier Bardem) hat seinen vielversprechenden Job als Anwalt an den Nagel gehängt. Er versieht seinen Dienst in der Hauptstadt, wo er als kleiner Polizist dem Ideal der Gerechtigkeit dienen möchte. Hier, so glaubt er, werde er nicht so leicht korrumpiert.
Mit zunehmender Häufigkeit tauchen Nachrichten von einem Guerilla-Aufstand auf, der durch blutige Attentate, skrupellose Sabotageakte und ritualisierte Hinrichtungen die Bevölkerung terrorisiert und zu einem Teil ihres täglichen Lebens wird. Dennoch ist es eine stille Revolution, wenig Informationen haben die Behörden über den geheimnisvollen Anführer mit dem Decknamen Ezequiel, weder Aussehen, Name noch seine konkreten Intentionen sind ihnen bekannt. Als Leiter einer Sonderkommission liegt es an Rejas, diesen Mann zu verhaften. Unter Druck macht er sich an die Arbeit; möglichst schnell soll sie erledigt sein, um die fortschreitende Destabilisierung des Regimes zu verhindern. Als jedoch bei einem weiteren Anschlag ein hochrangiger Militär von vier Schulmädchen auf offener Straße erschossen wird, übernimmt das Militär das Kommando. Die Truppen schlagen zurück, nicht minder blutig als Ezequiel, nicht minder wahllos gegen jeden, der scheinbar mit ihm kollaboriert.
Rejas einziger Trost besteht in der aufkeimenden Romanze mit Yolanda (Laura Morante), der attraktiven Tanzlehrerin seiner Tochter. Die kurzen, aber intensiven Gespräche mit ihr geben ihm Kraft, seinen schier ausweglosen Kampf weiterzuverfolgen.

"Der Obrist und die Tänzerin" markiert das Regiedebüt von John Malkovich, dem wohl europäischsten und vielseitig interessiertesten aller Hollywood-Akteure. Als Sohn jugoslawischer Einwanderer 1953 in Illinois geboren, studierte er zunächst Soziologie und Musik, um dann zur Theaterwissenschaft zu wechseln. Er gründete die Chicago Steppenwolf Theatre Group und feierte lange vor seinem ersten Leinwandauftritt Erfolge auf der Bühne. Malkovich, der eher in künstlerisch ambitionierten Werken aus Europa auftritt und dem populären US-Kino überwiegend den Rücken kehrt, machte nie ein Hehl aus der Gewaltbereitschaft innerhalb seiner Familie. Der Bruder, der ihn schlug, und der Vater, der es dem Bruder gleichtat.
Die vor dem Hintergrund der Gewalt entstehende Fragilität zwischenmenschlicher Gefühle prägte viele seiner Charakterdarstellungen (exemplarisch dokumentiert in Volker Schlöndorffs "Tod eines Handlungsreisenden" aus dem Jahre 1984), und offenbart sich auch bei der Stoffauswahl der ersten Regiearbeit. Der Film basiert auf dem gleichnamigen Bestseller von Nicolas Shakespeare, einem Roman über die Jagd und Gefangennahme von Abimael Guzman, dem Gründer und Kopf der peruanischen Guerilla-Gruppe "Leuchtender Pfad". Über fünf Jahre arbeiteten Malkovich und Shakespeare an der Drehbuchfassung, wobei sie die dokumentarische Genauigkeit der literarischen Vorlage über Bord warfen. Entstanden ist ein Film, der wider Erwarten nicht so künstlerisch daherkommt, wie es manche beim Klang des Namens Malkovich erwartet haben.
Abgesehen von der rein europäischen oder lateinamerikanischen Besetzungsliste wirkt der Film zunächst erstaunlich amerikanisch und ist auf den ersten Blick dem Genre des Polit-Thrillers zuzuordnen. Getragen von einem großartigen Javier Bardem, der in seiner Rolle als Rejas Stärke und Sensibilität hervorragend austariert, entstand ein makelloses Stück Spannungskino. Perfekt zeichnet Malkovich seine Figuren, charakterisiert sie anhand weniger Szenen und verleiht ihnen Glaubwürdigkeit: die persönlichen Motive Rejas, die Oberflächlichkeit und Leere im Dialog mit seiner Frau, all dies und viel mehr wird mit einer bewundernswerten Sparsamkeit der Mittel in kurzen Szenen auf den Punkt gebracht.
Malkovich arbeitet mit Gegensätzen. Seine lauten Gewaltsequenzen - die nie zum Selbstzweck geraten, da sie lediglich eine Atmosphäre des allgegenwärtigen, plötzlich zuschlagenden Terrors dokumentieren - stehen im Kontrast zu den ruhigen, intimen Augenblicken, die Rejas mit Yolanda, der Ballettlehrerin, teilt.
Die einzelnen Elemente des Films greifen ineinander wie Zahnräder, bis zum Ende ist er kraftvoll und vermag zu binden. Aber "Der Obrist und die Tänzerin" ist zugleich mehr. Was das Werk im Besonderen auszeichnet, komplex gestaltet und von der breiten Masse abhebt, ist seine inhaltliche Vielschichtigkeit.
Während seiner Ermittlungsarbeit betrachtet Rejas eine Videoaufzeichnung von Constantin Costa-Gavras' "Der unsichtbare Aufstand" (1973), in dem es um die Taktiken der südamerikanischen Stadt-Guerilla geht.
Abgesehen von der handlungstechnischen Parallele kein zufälliges Zitat, denn Costa- Gavras, der sich in seinen Filmen zwischenmenschlicher Beziehungen bedient, um politische Zusammenhänge zu vermitteln, mag Malkovich sich verbunden fühlen. Er macht sich die Grundidee des griechischstämmigen Regisseurs zu Nutze, stellt dessen Ansatz allerdings auf den Kopf, indem die klassische Verbindung einer politischen Aufklärungsabsicht mit dramaturgischen Mitteln, welche elementares Merkmal eines jeden Polit-Thrillers ist, in Malkovichs Film nicht zum Vorschein kommt.
Die Politik, die nationale Situation, in der Ezequiel und seine Anhänger agieren, wird - im Gegensatz zum Roman - nur auf Sekundärebene relevant. Der Name des Landes wird nie erwähnt, ebenso wenig wie die politischen Ziele der Revoltierenden respektive deren Manifest. Diese Dinge sind - trotz der vereinzelt eingestreuten philosophischen Zitate und Mitteilungen Ezequiels - wenig bedeutsam und dienen nur als Vorwand zur Behandlung persönlicher und moralischer Fragen.
Denn es ist die Geschichte Rejas, der für seine Ideale, für die Möglichkeit, die Dinge zum Besseren zu wenden, kämpfen muss. Es ist die Geschichte eines verheirateten Mannes und seiner außerehelichen Verbindung, einer emotionalen Nähe in einer Zeit der Gewalt, einer Zeit des Wandels, in der jeder seine Position beziehen muss, auch wenn dies seinen Niederschlag in schmerzlichen Konsequenzen findet.
Malkovich richtet sein Augenmerk auf die privaten, individuellen Auswirkungen für den Einzelnen und das Leid, das mit politischem Terrorismus unweigerlich einhergeht. Er befreit die Geschichte von den Fesseln einer spezifisch festgelegten Situation und verleiht der Problematik universellen Charakter. An Ort und Zeit gebundene Geschichten veralten, sobald das jeweilige Thema im Laufe der Jahre inhaltlich überholt ist. Geschichten jedoch, die menschliche Gefühle in den Mittelpunkt stellen sind immer aktuell.

Es ist bemerkenswert, mit welcher spielerischen Leichtigkeit der Regisseur all dies in nur zwei Stunden unter einen Hut bekommt, seine ernsten Anliegen in den Deckmantel der Unterhaltung kleidet und somit einen Film entstehen lässt, der - ganz dem Anspruch an ein wahres Kunstwerk entsprechend - spannend und niveauvoll zugleich ist. Zudem verfällt "Der Obrist und die Tänzerin" zu keinem Zeitpunkt in depressive Larmoyanz, und selten spendete eine Schlusssequenz allein durch ihre Bilder und Musik, ganz ohne Worte, ein vergleichbares Gefühl der Hoffnung.
John Malkovich, das Multitalent, hat seine Feuerprobe mit Bravour bestanden. Sein ohnehin hohes Prestige wird erneut eine Aufwertung erfahren, jetzt, wo er seiner bisherigen künstlerischen Mannigfaltigkeit noch die Filmregie hinzugefügt hat.
Da in den Jahren zuvor bereits zwei Projekte eigener Filme in der Entwicklungsphase stecken geblieben waren, bleibt zu hoffen, Malkovich möge alsbald mit der Umsetzung eines weiteren Stoffes beginnen. Aber schwer wird sie es haben, seine zweite Regiearbeit. Mit der ersten ist ihm ein kaum zu übertreffendes Meisterstück gelungen.

 


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