Depressionen, Angststörungen und Mobbing? Nicht unbedingt die naheliegendsten Themen für ein Musical, in dem für gewöhnlich die Menschen in allen möglichen Situationen zu singen beginnen und sämtliche Umherstehenden das völlig normal finden und mit einstimmen. „Dear Even Hansen“ beweist als großer, mit mehreren Tonys ausgezeichneter Broadway-Erfolg schon seit mehreren Jahren dass so etwas offenbar doch sehr gut funktionieren kann. Nun folgt die Adaption fürs Kino, bei der man immerhin so klug war, für die Hauptrolle den bereits bewährten Bühnendarsteller zu besetzen. Dennoch kann die Filmversion des Stoffes nicht durchgehend überzeugen.
Der Auftakt allerdings ist genauso stark wie verstörend. In ihm von seinem Therapeuten verordneten Briefen an sich selbst versucht der zurückhaltende, nur schwer zu sozialen Kontakten fähige Evan Hansen (Ben Platt) sich einzureden, dass alles doch gar nicht so schlecht sei und ihn ein wunderschöner Tag erwarte. Einen dieser naturgemäß sehr persönlichen Briefe entwendet ihm der aggressive Mitschüler Connor, der sich aufgrund seiner Drogensucht nur wenig später das Leben nimmt. Im Glauben, es handele sich um einen Brief an den in der Anrede genannten, sehen Connors Eltern in Evan nun fälschlicherweise den einzigen Freund ihres verstorbenen Sohnes. Evan traut sich nicht den Irrtum aufzuklären, auch weil er so Connors Schwester näher kommen kann, für die er heimlich schwärmt. Doch daraus entwickelt sich ein immer größer werdendes Lügengebäude, das sich über soziale Netzwerke verbreitet und sogar die Gründung einer Stiftung bewirkt, bei der es dann um viel Geld geht.
Es fühlt sich meist erstaunlich natürlich an, wenn inmitten eines ernsthaften Gesprächs der Gesang einsetzt, was auch daran liegt, dass die Songs meist so zart und zurückhaltend angelegt sind wie es den Protagonisten und der Situation angemessen ist. Die zu Beginn entworfene Konstellation mit ihren aus guten Absichten heraus entstandenen falschen Annahmen besitzt zudem soviel Potential, dass sich viele daraus folgende Entwicklungen fast von selbst schreiben. Die Besetzung ist erstklassig, neben den durchwegs überzeugenden jungen Darstellern hat man für die Nebenrollen bekannte und bewährte Namen wie Amy Adams oder Julianne Moore verpflichtet.
Der Film ist mit deutlich mehr als zwei Stunden Laufzeit allerdings überlang geraten und gerade die zweite Hälfte mäandert dann auch streckenweise vor sich hin, setzt dazu auch immer mehr auf typische Hollywood-Emotionalisierung und das Stimulieren der Tränendrüse. Der Humor und die zuvor immer wieder als Auflockerung eingesetzten selbstironischen Sprüche werden zurückgefahren und das tut dem Film und seiner Wirkung nicht gut, auch wenn man vermutlich genau das Gegenteil damit zu erreichen versucht.
Das bedeutet nicht, dass irgendetwas hier wirklich schlecht oder völlig missraten umgesetzt würde, nur dass eben leider die Qualität des Auftaktes nicht gehalten werden kann. Die Thematik wird dabei aber nicht so bitter und deprimierend umgesetzt, dass man nur besonders hartgesottenen Gemütern einen Kinobesuch empfehlen könnte, daher lautet das Fazit: Doch, im Großen und Ganzen funktioniert dieser ungewöhnliche Ansatz schon.
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