Berlin am Meer

Jahr
2007
Laufzeit
95 min
Release Date
Bewertung
5
5/10
von Frank-Michael Helmke / 12. Juni 2010

 

Ich will da sein wenn die Zeit gefriert.
Ich will da sein wenn sie explodiert.
Und wenn sich dabei mein Verstand verliert,
Ich will da sein wenn es passiert.


- Wir sind Helden, "Wenn es passiert"

Diesen Refrain könnten sich die zigtausenden jungen Leute, die die Berliner Szeneviertel, -clubs und -cafés bevölkern, kollektiv auf ihre T-Shirts schreiben. Denn wohl kaum ein anderer Song hat es besser geschafft, das prägende Gefühl dieser Hauptstadt-Generation einzufangen, jene Sehnsucht nach dem romantisch verklärten, so undefinierten wie ultimativen Moment. Es ist die Suche danach, die sie alle hierher getrieben hat. Die Menschen, die aus Berlin in den letzten Jahren wieder eine "hippe" Hauptstadt gemacht haben, eine pulsierende Metropole mit Weltstadt-Flair. Die Stadt, wo alles möglich ist; wo Träume in Erfüllung gehen, die daheim in der stickigen Provinz unerreichbar sind. Die einzige Stadt in Deutschland (wenn nicht sogar Europa), die absolute Freiheit und endlose Möglichkeiten verspricht, und in der das Leben trotzdem noch erschwinglich ist.

In diesem Berlin spielt auch das Kino-Debüt des jungen Regisseurs Wolfgang Eißler, und seine Protagonisten sind solche Suchenden, Flüchtlinge des Provinz-Miefs: Offiziell Studenten, doch tatsächlich nur damit beschäftigt, ihre Freiheit und (falls vorhanden) Kreativität auszuleben. "Zuhause" ist ein Ort, von dem man nur mit Grauen in der Stimme spricht, aus Ekel oder aus Angst, wenn die Kasse so knapp wird, dass die Rückkehr zur Familie der letzte Ausweg scheint - die ultimative Erniedrigung und Niederlage.
Das gilt auch für die Kumpel und WG-Kollegen Tom (der in einem solchen Film unvermeidliche Robert Stadlober), Malte (Axel Schreiber) und Mitsch (Claudius Franz). Während Tom und Malte als DJs aktiv sind und von einem Plattenvertrag träumen, tut Mitsch für die Familie daheim so, als würde er Medizin studieren. Stattdessen beschäftigt er sich hauptsächlich mit Selbstversuchen, sprich ausgiebigem Konsum von Alkohol und Marihuana. Toms beste Freundin Margarete (Jana Pallaske) komplettiert die feierfreudige Clique. Unruhe in die Bude kommt mit Mitschs Schwester Mavie (Anna Brüggemann), die für ein Bundestags-Praktikum in die Hauptstadt kommt. Mitsch bringt den zu erwartenden Clash der Lebenseinstellungen treffend auf den Punkt: "Sie kommt aus München und studiert Politik. Politik. In München. Okay?".

Das stellt sich im Umgang mit der durchaus liberalen Mavie jedoch als weit geringeres Hindernis heraus als die offenen Anfeindungen ihres Bruders, der offensichtlich einen heftigen Groll auf alles, was mit seiner Familie zu tun hat, mit sich rumträgt - ohne dass man als Zuschauer je so richtig verstehen kann, was eigentlich sein Problem ist. So wirkt Mitsch für den eigentlichen zentralen Plot - Tom verliebt sich in Mavie, doch Malte, der im Gegensatz zu Tom das Glück für sich gepachtet hat, kommt dazwischen - eher nur als Störfeuer, das in Momenten der Annäherung gern mal mit unerwünschten Kommentaren die Stimmung killt. Als ähnlich eindimensional entpuppt sich auch Margarete, die über ihre repräsentative Funktion als "durchgeknalltes Party-Mädel" leider keinen Moment hinaus kommt.
Schade ist das bei diesen beiden Figuren gerade deshalb, weil sie für die tragische Variante der Wahl-Berliner stehen - jene Suchenden, die eigentlich nur Flüchtende sind, vor den Eltern und/oder dauerzugedröhnt vor der Realität. Während Malte und Tom wenigstens noch ein Ziel haben - einen Plattenvertrag beziehungsweise einen Platz an einer Musikhochschule - leben Mitsch und Margarete nur noch für den Moment, schlicht und einfach weil sie nicht wissen, was sie eigentlich vom Leben wollen. Und wer nicht weiß, was er sucht, kann auch nichts finden. Das macht ihr Dasein noch leerer - und auch noch deprimierender - als das der kreativen Berliner Szenekinder, von denen zwar viele talentiert sind, doch letztlich naturgemäß nur die wenigsten den großen, erträumten Durchbruch schaffen können.

"Berlin am Meer" lädt zu solch schweifenden Gedanken über die tragischen jungen Hauptstadthelden ein, weil er leider sonst nicht viel zu bieten hat. Das Bedürfnis von Regisseur und Autor Wolfgang Eißler, das oben beschriebene Berlin und sein so genanntes Lebensgefühl einzufangen, ist offensichtlich, ebenso offensichtlich aber auch, dass ihm dazu nicht so richtig eine runde Geschichte eingefallen ist. Stattdessen wird viel mit sich und mit der Welt gehadert (auch wenn der Film einen leichten Ton zu halten versucht), und manchmal drängt sich da schon das Klischee von den Großstadt-Hedonisten auf, die sich eindeutig zuviel mit sich selbst und dem eigenen Vergnügen beschäftigen.
Der Film wirkt dabei oft ähnlich ziellos wie seine Protagonisten und produziert so einige Durchhänger, die auch die immer wieder eingestreuten, netten Inszenierungseinfälle von Eißler nicht wettmachen können. Der kreative Kopf des Films beweist sich hier zumindest als sehr begabter Regisseur. Was man ihm auch zugute halten muss, ist der unbeschönigende Blick auf die Lebenswirklichkeit dieser jungen Berliner. Die WG von Malte, Mitsch und Tom ist ein verranztes, verdrecktes, moderndes Loch, das mehr den "Charme" eines besetzten Hauses versprüht als nach Aufregung, Spektakel und wildem Leben riecht. Alle sind chronisch pleite, und das wenige vorhandene Geld scheint ausschließlich für Partys, Bier und Dope draufzugehen.
Aber: Wirklich in Frage gestellt wird dieses Dasein eigentlich nie. Mavie verkündet bei ihrer Ankunft, nach ihrer Meinung zu Berlin gefragt, zwar noch provokant: "Die Leute sind mir ein bißchen zu aufgeregt, und der Hype hat mich immer schon genervt", verfallen tut sie ihm aber natürlich doch. Eißler ist wohl selbst zu sehr auf einer Wellenlänge mit seinen Helden (auch er kam mit Anfang 20 aus der Provinz in die Hauptstadt), um sie ernsthaft bloßstellen zu wollen oder zu können. Letztlich muss hier jeder sein eigenes Säcklein tragen und mit sich selbst klar kommen, wie das halt so ist. Ob das Leben in Berlin dafür aber nun förderlich, hinderlich oder überhaupt signifikant ist, dazu hat der Film nicht wirklich eine Antwort.
Entsprechend unentschlossen erscheint auch das Ende, an dem die Zukunft aller - trotz bedeutender Wegweiser - noch immer fast genau so unklar wirkt wie am Anfang. Wodurch man den gesamten Film natürlich auch als eine treffende Parallele zum portraitierten, wilden Berliner Leben sehen kann: Es sieht schön aus, es ist manchmal sogar echt ein bisschen aufregend, aber ob es wirklich zu etwas führt, erscheint doch eher fraglich.

Was der Film jedoch auf jeden Fall bietet, ist ein absolut wundervolles Schlussbild: Da fährt die Kamera von einem Hochhausdach nach oben, immer weiter, bis sich die Berliner Stadtgrenzen abzeichnen - und drumherum ist nur Wasser. Die Kamera fährt weiter, bis man ganz Europa sieht, doch wo Deutschland sein sollte, ist nur ein großes Meer - mit Berlin als einsame Insel, eine Welt für sich. So schön und gleichzeitig so pointiert hätte man sich "Berlin am Meer" öfter gewünscht.


Neuen Kommentar hinzufügen

Der Inhalt dieses Feldes wird nicht öffentlich zugänglich angezeigt.

Klartext

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
  • Website- und E-Mail-Adressen werden automatisch in Links umgewandelt.
CAPTCHA
Diese Aufgabe prüft, ob du menschlich bist um Bots zu verhindern.