Vom ganz Kleinen bis zum ganz Großen. Der mexikanische Regisseur Alejandro Gonzales Inarritu geht Schritt um Schritt weiter die Karriereleiter hoch. In seinem letzten Drama "21 Gramm" beobachtete er, wie sich das Leid und das Schicksal über das Leben dreier Menschen legt. Davor lieferte sein furioses und kraftvolles Debüt "Amores Perros" eine mächtige und aufgeladene Metapher über den sozialen Zustand seines Heimatlandes Mexiko. Und jetzt muss sich die aktuelle Weltlage Innaritus kritischem Blick unterwerfen, er richtet sein Vergrößerungsglas auf uns - und das ist ganz großes Kino.
In Marokko spielen zwei Kinder in der afrikanischen Einöde mit einem Gewehr. Das Kinderspiel wird schnell zum tödlichen Ernst: Sie feuern auf einen in der Ferne fahrenden Touristenbus und treffen eine Frau, Susan, in den Nacken. Susan (Cate Blanchett) wurde von ihrem Mann Richard (Brad Pitt) auf die Reise nach Marokko mitgenommen, um die Ehe zu retten. Derweil sind die Kinder der beiden in den USA unter der Aufsicht des mexikanischen Kindermädchens Amelia (Adriana Barraza). Die muss aber zur Hochzeit ihres Sohnes und nimmt die beiden einfach über die Grenze mit, als Richard und Susan nicht rechtzeitig heim kommen können. In Tokyo wandelt unterdessen das junge taubstumme Mädchen Chieko (Rinko Kikuchi) durch die Stadt, auf der Suche nach Liebe und Zuneigung.
Was hier trocken und chronologisch wiedergegeben worden ist, stellt den groben Inhalt von "Babel" dar. Doch wer sich mit dem Werk von Innaritu schon näher beschäftigt hat, weiß, dass es zu den Spezialitäten dieses jungen Ausnahmetalentes gehört, seine scheinbar unabhängigen Geschichten immer in eine - auf den ersten Blick - chaotisch verschachtelte Erzählweise zu bringen. Dabei bedient sich der Regisseur beim bekannten "Butterfly Effect", welcher besagt, dass sogar der kleinste Flügelschlag eines Schmetterlings irgendwo auf der Welt einen Orkan auslösen kann. Der Schuss, den die beiden marokkanischen Jungen abfeuern, löst schließlich in allen Erzählsträngen des Films eine entscheidende Wendung aus und sorgt für eine wuchtige Kettenreaktion, die die Figuren an ihre körperlichen und psychischen Grenzen bringt.
Innaritu ist ein begeisterter Filmemacher und das spürt man in seinen Werken zweifellos. Er weiß, wie man die große Leinwand auszufüllen hat. Das Wunderbare an "Babel" ist, dass er eine ganze Fülle an Assoziationsketten beim Zuschauer auslöst. So ist der Zusammenprall des amerikanischen Ehepaares mit der islamischen Bevölkerung eines kleinen marokkanischen Dorfes eine eindringliche Begegnung zweier Kulturen, die nicht - wie es ständig durch die aktuelle politische Lage suggeriert wird - von Hass dominiert ist.
In der größten Not merkt der Mensch schnell, wo seine Freunde und wo seine Feinde sind. Wenn Brad Pitt (übrigens mit einer Glanzleistung) völlig verzweifelt und hilflos versucht, einen Rettungswagen zu organisieren und gegen panisch nörgelnde Mitreisende ankämpft, scheint die Antwort der amerikanischen Botschaft, die zuerst noch ermitteln muss, ob es sich um einen Terroranschlag handelt, bevor sie Hilfe schicken kann, einfach nur lächerlich. Was für ein beängstigendes Bild fehlender Kommunikation.
Obwohl wir immer mehr Möglichkeiten der Kommunikation haben, hören wie uns nicht mehr zu. Die Sprache verkommt zu etwas Nutzlosem. Im Film selbst werden fünf unterschiedliche Sprachen gesprochen: Arabisch, Englisch, Japanisch, Spanisch und die Gebärdensprache. Durch eine Weitere, nämlich die Deutsche der Untertitel, bekommt man als Zuschauer die Möglichkeit mehr zu wissen als die agierenden Personen. Wir verstehen, was die Charaktere nur mit viel Mühe erahnen können, oder nie ganz begreifen werden. Das macht den Film noch zusätzlich spannend.
Kommunikation und Sprache und ihre Grenzen in der heutigen Welt, dass ist der rote Faden der sich durch alle Episoden in "Babel" zieht. Aber auch ein eiskalter Realismus durchzieht die Bilder wie ein starker Windstoß. Wenn die Kamera in die Grenzlinie zwischen Mexiko und den USA eindringt, da offenbart sich der grausame Alltag zwischen Illegalität und der durch die Grenzbeamten offensichtlich ausgeübten Brutalität und Gewalt. Keine Frage, so etwas wie Mitgefühl und Verständnis hat die Menschheit, laut Innaritu, verloren. Vielleicht dürfen wir so etwas nicht mehr haben, da die Realität kälter und gnadenloser geworden ist. Schwäche wird nicht mehr akzeptiert.
Man kann verstehen, wer den Film zu fatalistisch oder zu schwarzmalerisch findet. Aber diese Radikalität scheint doch notwendig, um zu verdeutlichen, dass die Menschheit trotz immer weiter fortschreitender Technologie (Stichwort: Internet) - die den Anschein erweckt, sie würde uns näher zusammenrücken lassen - sich immer mehr von einander entfernt. In diesem Zusammenhang scheint auch der biblische Titel des Films gerechtfertigt. Im 21.Jahrhundert scheinen die Menschen einen zweiten Turm zu Babel gebaut zu haben, aber keiner erinnert sich mehr an das Schicksal des ersten und zu was er führte. In dieser Hinsicht ist "Babel" das reifste Werk des Regisseurs und ein krönender Abschluss seiner Fatalismus-Trilogie, schließlich wurde das Leben aller seiner Protagonisten bisher vom Schicksal bestimmt.
"Babel" ist voller Kinomomente. Wenn zum Beispiel das taubstumme Mädchen Chieko in die Disco geht und Innaritu abwechselnd zwischen lauten Beats und totaler Stille hin und herwechselt, dann ist das an Intensität kaum mehr zu überbieten. Der Mexikaner hat eine eindringliche Kinosprache gefunden, die ohne Umschweife die Missstände globaler Kommunikationslosigkeit freilegt. Doch trotz der scheinbar ausweglosen Situation in der sich alle befinden, lässt Innaritu allen Figuren wenigstens einen kleinen schmalen Hoffnungsstreifen am Horizont und demonstriert in einem eindringlichen Bild, dass Sprache wohl mehr als nur Worte bedeuten kann.
Einmal, während der Busfahrt, da legt Cate Blanchet völlig unerwartet ihre Hand auf die von Brad Pitt und signalisiert Zuwendung. Wenn man dies sieht, dann ist das die stärkste Sprache zu der Menschen in der Lage sind; die intensivste, die, die wir verlernt haben, oder gerade im Stande sind zu verlieren.
"Babel" ist großartiges cineastisches Futter für die Gefühlsgourmets unter den Kinobesuchern und ohne Frage ein Höhepunkt im nun langsam zu Ende gehenden Kinojahr.
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