Anatomie eines Falls

Originaltitel
Anatomie d'une chute
Land
Jahr
2023
Laufzeit
151 min
Genre
Release Date
Bewertung
10
10/10
von Matthias Kastl / 10. Februar 2024

Es gibt diese Filme, bei denen man voller Überschwang aus dem Kino kommt und am liebsten direkt in die Tasten hauen möchte, um seine Begeisterung mit dem Rest der Welt zu teilen. In so einem Fall kann es aber durchaus vernünftig sein das Gesehene erst noch einmal etwas sacken zu lassen – so manch bereits im Kopf zurechtgelegte Lobeshymne hat sich nach einer Nacht schlafen schon als etwas zu übertrieben herausgestellt. Bei “Anatomie eines Falls“ kann der Autor dieser Zeilen aber soviel schlafen wie er will, es wird seine Begeisterung nicht ändern. Dieser Film schenkt uns eine der am besten geschriebenen und gespielten Frauenfiguren, die jemals auf der Kinoleinwand zu sehen waren. Punkt. Und das auch noch in einem der intelligentesten Charakterdramen der letzten Jahre, das zurecht gleich fünf Oscar-Nominierungen ergattern konnte - und das als nicht-amerikanischer oder englischsprachiger Film!

Der im Titel des Filmes angesprochene “Fall“ bezieht sich dabei auf den tödlichen Fenstersturz von Samuel Maleski (Samuel Theis), der zusammen mit seiner Frau Sandra Voyter (Sandra Hüller, “Toni Erdmann“, “Requiem“) und dem gemeinsamen, sehbehinderten Sohn Daniel (Milo Machado Graner) in einem Häuschen in den französischen Alpen lebt. Dass Samuel schlicht bei Handwerksarbeiten verunglückt ist, erscheint der Polizei aber nur wenig plausibel, und so rückt schon bald Sandra als Hauptverdächtige in den Mittelpunkt. In die Ecke gedrängt bittet diese den befreundeten Anwalt Vincent (Swann Arlaud, “Gelobt sei Gott“) um Hilfe, dessen Dienste sie dank eines hochmotivierten Staatsanwalts (Antoine Reinartz) auf der Gegenseite auch bald bitter nötig hat.


Wer das Bedürfnis nach einer klassischen Auflösung eines Kriminalfalls hat, ist bei “Anatomie eines Falls“ definitiv an der falschen Stelle. Die nötigen Zutaten hierfür werden zwar angerichtet, von den Ermittlungen am Tatort bis hin zu einem ausführlichen Gerichtsprozess, doch selbst immer wieder eingebaute Rückblenden sorgen nie wirklich für Klarheit. Stattdessen liegen Justine Triet, die nicht nur Regie führte, sondern gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten Arthur Harari auch das Drehbuch verfasste, zwei andere Aspekte am Herzen. Viel interessanter findet man hier nämlich vor allem die trügerische Wirkung von Indizien, deren Interpretation leider oft die Komplexität und Widersprüchlichkeit von Menschen und deren Beziehungen ignoriert, sowie die Auswirkungen eines solchen Gerichtsprozesses auf die Psyche der Protagonisten.

So geht der Film auf faszinierende Weise gewissermaßen den umgekehrten Weg seiner Genrekollegen. Normalerweise bringen mehr Informationen uns ja der Lösung eines Falls näher. Hier dagegen herrscht ermittlungstechnisch Stagnation, denn je mehr man über Sandra und vor allem deren Beziehung zu ihrem Mann erfährt, desto mehr Fragen tun sich auf. Und so wäre  “Anatomie einer Beziehung“ mindestens ein ebenso passender Titel für den Film, denn genau dafür nutzt dieser sein Grundszenario. Gerade vor Gericht muss Sandra intimste Details ihrer Beziehung preisgeben, um sich den vielen in ihrem Privatleben bohrenden Fragen und zahlreichen missgünstigen Interpretationsversuchen der Staatsanwaltschaft zu erwehren.


Das Ergebnis ist großartiges Kino und vor allem eine One-Woman-Show par excellence. Das liegt vor allem an einer brillant geschriebenen Hauptfigur, denn Sandra ist ein genauso komplexer wie faszinierender Charakter. Mit einer Mischung aus nüchterner Logik, emotional aufgeladenem Kampfgeist und jeder Menge innerer Zweifel versucht sie die Anschuldigungen abzuwehren, selbst Klarheit zu finden und gleichzeitig auch noch ihren von den Ereignissen deutlich mitgenommenen Sohn zu schützen. Was zu zahlreichen unglaublich spannenden und schon fast philosophischen Diskussionen über die Natur menschlicher Beziehungen führt.

Womit wir auch schon bei einer der größten Stärken des Films angekommen sind. In einer Zeit, in der einfache Antworten auf komplexe Fragen besonders en vogue sind und immer mehr Gesellschaften daran scheitern, vernünftig und nuanciert zu diskutieren, ist “Anatomie eines Falls“ eine unglaubliche Wohltat. Ein Film, der keine einfachen Antworten duldet, diese aber Sandra auch nie aggressiv, sondern stets rational mit einem “ja, aber“ kontern lässt – um dann in Ruhe Gegenargumente aufzuzeigen. Was diese Figur aber besonders erfrischend macht sind ihre inneren Zweifel und ihr Eingestehen, dass es natürlich auch anders sein kann und auch sie nicht allwissend ist. Angesichts soviel Vielschichtigkeit und Selbstreflexion spürt man unglaublich viel Verständnis und Empathie für diese Frau – und das, obwohl man stets im Unklaren darüber gelassen wird, ob sie nicht vielleicht doch zurecht hier auf der Anklagebank sitzt.   


Wie unsere Hauptfigur versucht all diese Aspekte zu jonglieren bringt uns gleich zur nächsten Meisterleistung. Es gibt aktuell ja einen ziemlichen Hype um die deutsche Schauspielerin Sandra Hüller, der angesichts ihrer Oscar-Nominierung in der Kategorie “Beste Hauptdarstellerin“ für “Anatomie eines Falls“ und ihrem Auftreten in einem weiteren diesjährigen Oscar-Kandidaten (“The Zone of Interest“) natürlich nachvollziehbar ist. Selten aber war ein Hype auch so gerechtfertigt, denn was Hüller hier abliefert ist schlicht absolute Perfektion. Wie sie diese komplexe Figur mit Leben füllt und ständig überzeugend zwischen Kampfgeist, inneren Zweifeln und Erschöpfung navigiert, gehört in den Pantheon der ganz großen Schauspielleistungen. Gerade wie Hüller immer wieder gekonnt die emotionalen Unsicherheiten in ihrem stets auf Nüchternheit bedachtem Charakter hervorbringt ist großes Kino. Am Besten sieht man dies in den kurzen Pausen, die sie ihrer Figur stets auf schwierige Fragen gönnt. Hier reichen Hüller wenige Sekunden, um alleine durch Mimik und Gestik den Übergang von innerer Verletztheit zu Selbstreflexion bis hin zum finalen Umschalten ihres Charakters auf Kampfmodus überzeugend auf die Leinwand zu bringen. Einfach phantastisch.

Mit so einer Figur geht man durch dick und dünn und so wird gerade das Ende des Gerichtsprozesses nicht nur für die Hauptfigur, sondern auch für das Publikum zu einem bewegenden Nervenkrieg. Dafür ist auch Regisseurin Justine Triet, die ebenfalls für ihre Inszenierung eine Oscar-Nominierung erhielt, verantwortlich. Die gibt ihren Figuren nicht nur den nötigen Freiraum, sondern entscheidet auch clever, wann sie was zeigt – und wann was nicht. Wundervoll zu sehen in einer Szene, in der im Gericht Tonbandaufnahmen laufen und die Kamera erst lange Zeit einfach nur auf den Figuren im Gericht ruht, bevor dann die dazu passenden Flashbacks aus Sandras Haus zu sehen sind. Und als Sandras Sohn Daniel im Zeugenstand steht, bleibt die Kamera lange auf seinem Gesicht, obwohl sich gerade andere Figuren ein Wortgefecht liefern. Das interessiert Triet aber nicht, sondern stattdessen mehr die Reaktion des von allem überforderten Daniel, der verzweifelt seinen Blick hin und her schweifen lässt auf der Suche nach Halt und Wahrheit.


Auch das Schicksal von Daniel ist ein weiterer faszinierender Randaspekt, den der Film immer wieder ohne jegliche Melodramatik effektiv aufgreift. Man könnte hier jetzt noch ganze Seiten füllen über all das was “Anatomie eines Falls“ richtig macht. Wie zum Beispiel den Einsatz von Musik, die vom Film nicht nur clever für Spannungsaufbau genutzt wird, sondern auch dafür um seinen Figuren in manchen Szenen Halt zu geben oder in anderen deren Schmerzen zu betäuben. Wenn es überhaupt einen kleinen Kritikpunkt gibt, ist es das manchmal etwas zu aggressive und einsilbige Auftreten des Staatsanwalts. Allerdings braucht der Film auch diesen extremen Reibungspunkt für die Entwicklung seiner Hauptfigur, weswegen wir hier mal ein Auge zudrücken wollen.

Machen wir es kurz, “Anatomie eines Falls“ ist einfach ein unglaublich smarter Film, der mit seiner Botschaft perfekt in unsere Zeit passt ohne dabei zu abgehoben oder unnahbar daherzukommen. Eigentlich die große Chance für unsere französischen Nachbarn mal wieder einen Auslands-Oscar abzuräumen, doch die dortige Jury entschied sich lieber Juliette Binoches “Geliebte Köchin“ für Frankreich ins Rennen zu schicken (vergeblich). Umso erfreulicher, dass die amerikanischen Kollegen die Klasse von “Anatomie eines Falls“ deutlich besser einschätzen konnten und den Film nicht nur für die Hauptkategorie “Bester Film“, sondern auch noch vier weitere prestigeträchtige Kategorien nominiert haben: “Beste Hauptdarstellerin“, “Beste Regie“, “Bester Originaldrehbuch“ und “Bester Schnitt“.  
 
Auch wenn die Siegeschancen in all diesen Kategorien niedrig sind, ein großer Gewinner des vergangenen Kinojahres ist “Anatomie eines Falls“ trotzdem. Und gewinnen können auch alle diejenigen, die den Film noch nicht gesehen haben. Angesichts der Oscar-Schlagzeilen dürften ein paar Kinos den Film hoffentlich bald noch einmal ins Programm packen – falls der Film nicht (wie in meiner Heimatstadt) sogar noch immer laufen sollte. In dem Fall sollten auch Kinofans laufen – und zwar direkt in das entsprechende Lichtspielhaus, um sich einen der besten Filme der letzten Jahre zu gönnen.

Bilder: Copyright

6
6/10

"Wenn es überhaupt einen kleinen Kritikpunkt gibt, ist es das manchmal etwas zu aggressive und einsilbige Auftreten des Staatsanwalts."

Dies ist kein kleiner Kritikpunkt, sondern ein sehr großer! Als Rechtsanwalt fasst man sich obendrein nur an den Kopf, wie die ganze Gerichtsverhandlung inszeniert ist. Mag das französische Rechtssystem anders sein als das deutsche, aber die Missachtung vieler elementarer Grundsätze im Strafprozess haben dafür gesorgt, dass ich beinahe schreiend aus dem Kino gerannt wäre.
Da fiel selbst die hervorragende darstellerische Leistung von Sandra Hüller nicht mehr ins Gewicht.

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@Kirilow: Seriously? Du kritisierst, das die Darstellung eines Prozesses im Film nicht dem reellen Ablauf eines Gerichtsprozesses entspricht? Nenn mir EIN Justiz-Drama, das die Vorgänge vor Gericht für Juristen zufriedenstellend und ausreichend realistisch dargestellt hat. Das ist doch immer dramatisiert und verdichtet. Wenn du mal einen Film sehen willst, wo das ganze juristische Prozedere zu einer reinen Farce verkommt, sieh dir mal "Krieg der Bestatter" auf Prime Video an. DAS tut weh.

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