Die zwölf Geschworenen

Originaltitel
12 angry men
Land
Jahr
1957
Laufzeit
96 min
Genre
Regie
Bewertung
von Simon Staake / 20. Juni 2010

Es gibt Filme, die sind so gut, dass sich alle über ihre Klasse einig sind, aber keiner eigentlich so genau sagen kann, was diese Filme so herausragend macht. Filme, bei denen sich nicht eine künstlerische Leistung in den Vordergrund rückt oder eine thematische oder inhaltliche Komponente die anderen überschattet, sondern bei denen einfach alles wunderbar zusammenpasst, hervorragende Arbeit auf allen Ebenen geleistet wird und letztendlich gerade wegen des Verzichts auf großes Brimborium ein Klassiker draus wird. So ein Film ist "Die zwölf Geschworenen". Denn auf den ersten Blick (und nur dort!) hat dieser Film rein filmisch nichts, was besonders erwähnenswert wäre. Ein abgefilmtes Theaterstück, ein Kammerspiel, in dem man anderthalb Stunden eben jenen zwölf Geschworenen zuschaut, wie sie in einem Raum sitzen und ein eigentlich so gut wie klares Urteil debattieren. Wie aber Sidney Lumet, der Meister des Justizdramas, aus diesen Beschränkungen heraus einen der packendsten und besten Hollywoodklassiker macht, ist Sonderklasse.

Erste Regel: Beschränkungen sind Stärken, nicht Schwächen. Die Klaustrophobie der Situation, bestimmt durch einen einzigen Handlungsort und eine fast in Realzeit ablaufende Handlung, erweist sich als wichtiges Plotelement, durch das der Film überhaupt erst funktioniert. Stimmungswandlungen, Wutausbrüche (nicht umsonst ist der Originaltitel "12 Angry Men"), Charakterbestimmungen finden durch eben diese Zuspitzung der Situation statt. Durch die Einschränkung der Handlung von dem Moment, in dem sich die Juroren nach kurzer Erklärung des zuständigen Richters zur Beratung zurückziehen bis zur Entscheidung eines Urteils, wird auch geschickt mit den Handlungselementen gespielt. Ohne Verhandlung oder Plädoyers von Staatsanwalt und Verteidiger muss der Zuschauer sich die Informationen zum Fall nach und nach zusammensuchen, einzig geleitet von den Ausführungen der Geschworenen, die das kongeniale Drehbuch von Reginald Rose mit Leben füllen.
Und Lumet selbst nutzt fast subtil aber meisterhaft die filmischen Mittel, um die dramatische Zuspitzung auch visuell zu unterstützen. Mittels unterschiedlicher Brennweiten der Linsen und variierenden Kamerapositionen (von leichter Vogel- bis leichter Froschperspektive) wird die Klaustrophobie verstärkt und werden die zwölf Geschworenen mehr und mehr von den umgebenden Wänden eingeschlossen.
Wie oben erwähnt: "Die zwölf Geschworenen" ist ein großartiger Film auf allen Ebenen, auch der technischen, aber er zieht so gut wie keine Aufmerksamkeit auf diese Errungenschaften, stellt sie vollkommen in den Dienst des Films. Dies ist kein Film, der angibt. Dies ist kein Film, der als Egoshow des Regisseurs funktioniert, wie so viele Filme der Michael Bay-Generation. Heutzutage würde ein so subtiler Film wie dieser nicht mehr gedreht werden.

Zweite Regel: Nichts geht bei so einem Film über die Besetzung. Und was für eine Besetzung man hier zusammengetragen hat, allen voran natürlich Henry Fonda. Der spielt hier ganz seinem Image entsprechend den aufrechten Helden, als den ihn sein Publikum in Klassikern wie "Faustrecht der Prärie" oder "Früchte des Zorns" lieben gelernt hat. Mit seinem Image brach Fonda ja erst brutal in Leones Klassiker "Spiel mir das Lied vom Tod" zehn Jahre später, als besonnene und gegen Vorurteile kämpfende Instanz der Gerechtigkeit sieht man ihn hier hingegen in der Art Rolle, für die er besonders in den USA verehrt und geliebt wurde.
Sein Gegenspieler profitiert ebenfalls vom "typecasting", denn J. Lee Cobb als Juror Nr. 3, dessen aufgestauter Lebensfrust sich in Vorurteilen und Vorverurteilungen entlädt, war zu dem Zeitpunkt längst als einer der führenden Bösewichter etabliert, nicht zuletzt durch seine Rolle im ebenfalls von uns Gold-prämierten "Die Faust im Nacken" zwei Jahre zuvor. Das Wichtige an dem Duell der beiden ist natürlich die Gesamtsituation, bei der die Jury ein einstimmiges Urteil fällen muss, wodurch das Duell Fonda gegen Cobb zu einem Kampf um die Stimmen der anderen Jurymitglieder wird.
Faszinierend dabei, mit welcher Ruhe und Sachlichkeit Fondas Juror Nr. 8 ständig die vorschnellen Urteile der meisten anderen widerlegt, um seine rechtschaffenen Zweifel an der Schuld des Angeklagten darzulegen. Wie Lumet und seine Darsteller dabei unheimliche Spannung erzeugen, obwohl hier doch nur Worte gesprochen werden, ist eine Wahnsinnsleistung, deren Sog man sich kaum entziehen kann. "Die zwölf Geschworenen" ist die Art von Film, bei der man bei jeder Wiederholung im Fernsehen aufs Neue hängen bleibt, egal wie oft man ihn schon gesehen hat oder wieviel man schon verpasst hat, einzig weil dieser Film einen sofort in seinen Bann schlägt.

Mit diesem Film haben Lumet und seine Mitstreiter quasi die Worte Charakterdrama und Charakterstudie definiert. Zwar steht das Duell Nr. 3 gegen Nr. 8 oder Cobb gegen Fonda im Mittelpunkt, aber diese beiden Geschworenen könnten den Film auch kaum ohne ihre zehn Kollegen tragen. Fast jedem dieser Juroren kommt an einem bestimmten Moment eine bestimmte dramatische Funktion zu. Und auch hier trifft man von bekannten Gesichtern wie Jack "Quincy" Klugman oder Martin Balsam bis hin zu Charakterdarstellern wie Jack Warden und Ed Begley ausnahmslos echte Könner.
Lumet beharkt wie so oft im Verlauf seiner weiteren Karriere das Thema Gerechtigkeit, aber wohl niemals wieder so effektiv wie hier. Und wenn man bedenkt, dass dies Lumets Debütfilm war und ihm solche Klassiker wie "Serpico", "Hundstage" und "Network" folgten, ist dies schon bemerkenswert. Sicherlich gehört dieser Film zu den besten Regiedebüts aller Zeiten, in stolzer Gesellschaft eines "Citizen Kane".
Wie auch dieses Meisterwerk wurde "Die zwölf Geschworenen" von der Oscar-Academy ignoriert, gewann bei drei Nominierungen gar nichts, wobei Fonda oder Cobb nicht mal nominiert waren. Hinterher ist man, und das gilt wohl für niemanden mehr als die Damen und Herren der Academy, immer schlauer. Zuschauer dagegen, ob damals, heute oder in Zukunft hatten und haben bei der Ansicht von "Die zwölf Geschworenen" das Instant-Urteil "absoluter Klassiker" auf den Lippen. Und das vollkommen zurecht.


Endlich! Kaum ein Film hat es mehr verdient, die Gold-Kategorie zu schmücken. Großes Kino, ein Film den man gesehen haben muss!

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10
10/10

Klasse Kritik zu einem Superfilm. Herr Staake schreibt mir aus der Seele.

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10
10/10

Ein Klassiker, und für mich ganz persönlich DER Film, der meine Liebe zum Kino geweckt hat.

Ich war damals vielleicht 14 oder 15 Jahre alt. Ich fragte meinen Vater, was denn heute im Fernsehen kommt, und er sagte: "Die zwölf Geschworenen." Ich fragte nach, was denn das sei, und er meinte: "Kann sein, dass der dir nicht gefällt - er ist schwarzweiß, und er spielt die ganze Zeit nur in einem einzigen Raum - da reden die Leute nur."

Ich konnte es nicht glauben - so einen Scheiß soll es geben? Damals stand ich auf Action oder Klamauk, fand Bud Spencer und Terence Hill gut. Und dann ein Film in nur einem Raum? Ohne Action? Nur Gelaber? ich konnte es nicht fassen.

Aber damals gab's nur 3 Fernsehprogramme, zum Ausgehen war ich noch zu jung, also pfiff ich mir die Scheiße rein.

Und Mann - war das eine Offenbarung. Ein Film, spannender und dramatischer als jeder Action-Streifen. Mit subtilem Humor, intelligenter und schöner als bei allen Klamauk-Filmen. Ich wurde hineingesogen in diese raffiniert gestrickte, faszinierende Geschichte.

Zum ersten mal erlebte ich, was wirklich "Spannung" bedeutet. Die vielen intelligenten Dialoge, die dramatischen Wendungen, die punktgenaue Inszenierung - niemals vorher hatte ein Film eine solche Wirkung auf mich.

Von da an begann ich mich für die Frage zu interessieren, "wie machen die das?". Was macht einen guten Film WIRKLICH aus? Wieso sind Geschichte und Dialoge wichtiger als Action und Trickeffekte?

Noch heute denke ich an diese Erfahrung mit Freude zurück. Sie hat mich geprägt. Meinen Geschmack, meine Vorlieben, meine Erwartungen.

Ein Film ohne Fehl und Tadel.

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