Kollektiv - Korruption tötet

Originaltitel
Colectiv
Land
Jahr
2019
Laufzeit
109 min
Release Date
Bewertung
9
9/10
von Frank-Michael Helmke / 28. März 2021

Im Oktober 2015 brach während eines Konzerts im Bukarester Musikclub "Colectiv" ein Feuer aus, bei dem 27 junge Menschen ums Leben kamen - vornehmlich, weil das Gebäude nur über einen einzigen Ausgang verfügte. Dass so ein Bau überhaupt genehmigt werden konnte, war schon skandalös genug. Doch der wahre, unglaubliche Skandal folgte erst danach. Denn von den Verletzten, die an diesem Abend Brandwunden davontrugen, starben in den kommenden Wochen noch 37 weitere. Der Grund dafür trat solch einen gewaltigen Skandal los, dass die Regierung Rumäniens deswegen zurücktrat.

Dass dies alles überhaupt ans Licht kam, ist ausgerechnet den Journalisten der "Gazeta Sporturilor" unter ihrem Chefredakteur Catalin Tolontan zu verdanken, nominell eigentlich eine Sportzeitung, die jedoch durch ihre investigativen Recherchen zu diesem Fall schier unfassbare korrupte Untiefen im rumänischen Gesundheitssystem zutage förderte. Und dass man als Filmzuschauer nun nachträglich die Aufdeckung dieses Skandals hautnah und direkt an der Quelle miterleben kann, ist dem Regisseur Alexander Nanau zu verdanken, der mit seiner Kamera zur richtigen Zeit am richtigen Ort war und begann, Tolontan und seine Truppe bei ihren Recherchen zu begleiten, als noch gar nicht absehbar war, wohin das alles führen würde. 

"Kollektiv - Korruption tötet" ist gerade deswegen eine sehr außergewöhnliche Dokumentation, weil der Film eben nicht im Nachhinein nacherzählt, was sich zugetragen hat, wie es bei Dokus über Polit- und/oder Wirtschaftsskandale normalerweise der Fall ist. Weil Nanau von Anfang an mit dabei war, kann er auf alle sonst üblichen Hilfsmittel einer Doku verzichten - hier gibt es keinen Off-Erzähler, keine "Talking heads"-Interviewszenen, keine retrospektive Einordnung. Man ist quasi "live" dabei, wie sich der Skandal entfaltet. Und gerade dadurch bewegt sich diese Dokumentation erzählerisch wie ein fiktiver Polit-Thriller. 

Eine Wendung jagt hier die nächste, manches kommt so plötzlich und überraschend, das es wirklich wirkt wie aus dem Handwerkskoffer einer Hollywood-Inszenierung. Dass es alles wahr ist, macht die ganze Sache nur um ein Vielfaches eindringlicher - und erschreckender. Denn die Dimensionen von "Kollektiv - Korruption tötet" gehen noch weit über die Geschichte einer gewaltigen Investigativ-Story hinaus. 

Ungefähr zur Hälfte betritt einer neuer Protagonist die Bühne: Nachdem die Regierung wegen den Auswüchsen des Colectiv-Skandals zurückgetreten ist, wird für die Übergangsphase bis zu den Neuwahlen eine Experten-Regierung aus Technokraten eingesetzt. Damit übernimmt der idealistische Vlad Voiculescu das Gesundheitsministerium. Und dass der im Bestreben nach neuer Transparenz es Alexander Nanau ebenfalls gestattet hat, ihn auf Schritt und Tritt zu begleiten, ist der größte "Glücksfall" für diese Dokumentation. Die Kamera ist nun dabei bei internen Besprechungen von Voiculescu und seinem Team und offenbart wahrlich einmalige Einblicke in politische Hinterzimmer, die man so wohl noch nirgendwo gesehen hat. "Glücksfall" trotzdem in Anführungszeichen, denn was man hier nun miterlebt, ist alles andere als schön. 

Die erste Hälfte von "Kollektiv" ist eine packende Hymne auf den Investigativ-Journalismus und wie wichtig die "vierte Gewalt" der Medien als Korrektiv für eine funktionierende Demokratie ist. Wie es Tolantan an einer Stelle selbst formuliert: "Wenn die Presse vor den Autoritäten buckelt, werden die Autoritäten die Bevölkerung misshandeln." Wäre dies ein Hollywood-Film, dann würde dank der Journalisten der Skandal aufgedeckt, der korrupte Sumpf dahinter trockengelegt, und maßgebliche Veränderungen angestoßen, die das Land nachträglich zum Besseren verändern. Doch das hier ist nicht Hollywood, sondern die Realität. Und nach der Offenlegung des Skandals und nachdem Voiculescu antritt mit dem festen Willen, den Sumpf trockenzulegen und das zutiefst korrupte Gesundheitssystem zu reformieren, schlägt das System zurück. Und ein Happyend rückt in weite Ferne. 

Wie Voiculescu trotz bester Absichten daran verzweifelt, ein System umkrempeln zu wollen, das man eigentlich von Grund auf neu errichten müsste, um alle seine Verfehlungen auszumerzen, ist wahrlich bitter zu beobachten. Führt es doch nachhaltig vor Augen, wie wenig wahrlich aufrichtige Politiker ausrichten können, wenn ein ganzer Apparat, der nur nach Eigeninteressen handelt, mit dem gesamten niederträchtigen Arsenal des Populismus gegen ihre Reformbemühungen mobil macht.

Nanaus Dokumentation fängt all das schonungslos, schnörkellos und ungefiltert ein. Die Stärke des Films besteht gerade darin, dass er nichts inszeniert (dramatisierende Musik ist hier genauso abwesend wie eine Off-Erzählung), sondern einzig das durch einen bravourösen Schnitt verdichtete Original-Material sprechen lässt. Das einzige, was man sich hier zur besseren Orientierung gewünscht hätte, wären gelegentliche Einblendungen, wer die auftretenden Personen genau sind. Wenn jemand neues auf der Bildfläche erscheint, muss man sich oft erstmal aus den Aussagen der Person zusammenpuzzeln, wer er oder sie ist und was ihre Rolle in dieser Geschichte ist. Mit ein paar minimalen Einblendungen hätte Nanau es seinem Publikum hier noch etwas leichter machen können. Doch das ist der einzige minimale Minuspunkt eines herausragenden Films, dem vollkommen zurecht Historisches gelingen könnte: Bei der diesjährigen Oscar-Verleihung kann "Kollektiv" sowohl den Preis für die beste Dokumentation als auch für den besten internationalen Film gewinnen. Beides wäre hochverdient. Eines der maßgeblichen Filmereignisse dieses Jahres.

"Kollektiv - Korruption tötet" ist noch bis zum 15. April über die Mediathek des MDR frei verfügbar, unter diesem Link.         

Bilder: Copyright

Genau für solche kurzen und ausgewählten Empfehlungen schaue ich immer wieder gerne auf diese Seite. Gerade in Zeiten der geschlossenen Kinos habt ihr sinnvoll das Repertoire um aktuelle Streamingangebote ergänzt.
Viele Dank für eine erneut anregende Kurzrezension.

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Das scheint mir nach dem Lesen der Kritik doch ein sehr lohnenswerter Tipp zu sein. Werde dies hoffentlich alsbald selbst überprüfen und an dieser Stelle noch einmal Bezug darauf nehmen können. Anmerkung zu dem am Ende der Kritik angeführten Link: dieser scheint leider nicht wie erhofft zu dem besprochenen Film zu führen. Nach meiner Recherche scheint dieser Link zu funktionieren:

https://odgeomdr-a.akamaihd.net/mp4dyn2/8/FCMS-84bb4446-c15d-497b-a69b-…

(Hier kann der Film auch legal herunter geladen werden)

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gerade ausprobiert - der Link in der Kritik funktioniert. Vermute war ein temporäres Problem der Mediathek...

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6
6/10

Hm .. ich finde das Thema zwar unheimlich wichtig und tragisch, andererseits konnte ich mich jetzt von der rein cineastischen Seite her jetzt nicht überdurchschnittlich dafür begeistern...
Vielleicht muss ich mir das nochmal anschauen... ?

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8
8/10

Nun doch noch – etwas später als erhofft – eine Rückmeldung meinerseits zu „Colectiv – Korruption tötet”. Ein wirklich lohnenswerter Tipp der Filmszene Redaktion. Sowohl was die Machart als auch den Inhalt anbelangt. Unfaßbar wie skrupellos hier Seilschaften aus reiner Geldgier zig Menschenleben geopfert und ganze Familien ins Unglück gestürzt haben. Absolut zu Recht war diese Dokumentation unter den diesjährigen Oscar nominees. Und trotzdem verständlich, daß „My Octopus Teacher” schließlich als Oscar-Gewinner das Rennen für sich entschieden hat: ein weiterer sehr lohnenswerter Dokumentarfilm der auf Netflix läuft.

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