Marla Grayson (Rosamund Pike) verdient ihr Geld als gesetzliche Betreuerin alter Menschen, die nicht mehr in der Lage sind, für sich selbst zu sorgen. Und weil Marla Amerikanerin ist und eine passionierte Anhängerin von reinrassigem "Fressen oder gefressen werden"-Kapitalismus hat sie daraus ein sehr ergiebiges, skrupelloses Geschäftsmodell entwickelt. Und oh mein Gott, ich habe selten eine Filmfigur so dermaßen schnell verachtet wie diese Marla. In den ersten 20 Minuten von "I care a lot" wird man Zeuge, wie Marla mithilfe ihrer nicht minder korrupten Helfershelfer im Gesundheits- und Pflegesystem eine goldene Gans zur Quasi-Schlachtung abfertigt: Die sehr wohlhabende und alleinstehende Seniorin Jennifer Peterson (Dianne Wiest) bekommt eine einsetzende Demenz angedichtet, wird ohne ihr Wissen per Gerichtsbeschluss entmündigt und dann schnurstracks in ein Pflegeheim verfrachtet, bevor Marla sich umgehend daran macht, Petersons gesamtes Eigentum zu verschachern (um mit dem Geld dann ihre eigenen, überhöhten Rechnungen für die Betreuungsarbeit zu begleichen).
Die Rasanz, mit der das alles vonstatten geht, ist genauso atemberaubend wie die schiere Unmenschlichkeit, mit der Marla ihrem Opfer handstreichartig Vermögen und Freiheit raubt. Und bei der Vorstellung, dass so etwas offenbar tatsächlich unter dem Mantel des Gesetzes möglich ist, kann einem schon ernsthaft schlecht werden. Es dauert jedenfalls wie gesagt nicht lange, bis man Marla als Zuschauer abgrundtief verabscheut und ihr jedes Unheil der Welt an den Hals wünscht. Dass etwas in die Richtung dann auch zu geschehen droht, macht die zentrale Handlung des Films aus, denn Jennifer Peterson erweist sich als nicht ganz so alleinstehend wie gedacht, und der Mensch, dem sie sehr wichtig ist, ist ein eher unangenehmer Zeitgenosse.
Wer bei "I care a lot" nach einem Sympathieträger sucht, wird leider nicht fündig werden: Ausnahmslos jede Figur hier ist mindestens korrupt und amoralisch, wenn nicht sogar vollkommen durchtrieben und böse. Das macht es faktisch unmöglich, als Zuschauer hier irgendwie sein Herz zu investieren (allerhöchstens für Marlas unschuldige Opfer). Die Konsequenz, mit der Regisseur und Autor J Blakeson seine Nummer durchzieht, hat allerdings auch gewisse Bewunderung verdient. Und zum Glück will "I care a lot" keine bitterernste Anklage gegen die schlimmsten Auswüchse eines freilaufenden Kapitalismus sein - dann würden einem Marlas Machenschaften wohl vollends auf den Magen schlagen. Stattdessen ergötzt sich der Film an einem fröhlich vor sich hin eskalierenden Duell zweier herrlich gemeiner Gestalten, und bietet genau damit eine Menge (etwas kranke) Freude.
Ehre, wem Ehre gebührt: "I care a lot" würde aber wohl auch nur halb so gut funktionieren, wenn Rosamund Pike nicht so eine gottverdammt geniale Schauspielerin wäre, die in solchen doppelbödigen Rollen grandios aufgeht. Man fühlt sich hier stellenweise wohlig an die Untiefen ihrer Figur aus "Gone Girl" erinnert, wenn Marla vor Gericht ihre perfekte Maske als überempathischer Gutmensch vorführt, um kurz darauf mit eiskalter Bedrohlichkeit ihr wahres Gift in kleinen, präzisen Dosen zu versprühen.
Pike kann dabei indes auch mit einem wirklich faszinierenden Charakter arbeiten. Denn Marla Grayson ist eine Person, die den Terminus "starke Frau" ganz neu definiert. Dass sie lesbisch ist, macht ihre Sexualität dabei zu einer interessanten Schattierung ihres Charakters, die noch einmal Marlas Weigerung unterstreicht, sich von irgendeinem Mann auf irgendeine Art und Weise bedrohen oder einschüchtern zu lassen. Wie bei jedem guten Film-Charakter ist ihre größte Stärke gleichzeitig aber auch ihr entscheidender Schwachpunkt. Denn genau diese Unfähigkeit, zu kuschen, wenn sie es wirklich besser tun sollte, droht ihr Untergang zu werden.
In der zweiten Hälfte von "I care a lot" übernimmt endgültig der Plot das Kommando, was ein zweischneidiges Schwert ist. Einerseits beginnt sich die Handlung so schnell zu entwickeln, dass man sich fragt, wo das jetzt noch hinführen soll oder kann - was natürlich eine gute Sache ist, denn Vorhersehbarkeit kann man dem Film hier wirklich nicht mehr vorwerfen. Andererseits drückt der Film zugunsten der einen oder anderen Plot-Kapriole die Augen in Sachen Glaubwürdigkeit ein bisschen sehr weit zu. Mag sein, dass das nicht jeden so sehr stört wie mich. Aber wenn Leute, die eigentlich echte Pros darin sind, Menschen umzubringen, ihre Arbeit auf einmal unnötig schlampig machen, nur weil es der Handlung zweckdienlich ist, dann bin ich immer so ein bisschen raus.
Aber sei's drum, letztlich ändert das nichts daran, dass "I care a lot" so ziemlich über seine gesamte Laufzeit gleichzeitig abstoßend und verdammt unterhaltsam ist. Wie oft bleibt man schon bei einem Film bis zur letzten Minute voller Anspannung dran, weil man sich so sehr wünscht, dass keiner der Charaktere am Ende triumphiert? Es schaudert einen hier immer wieder. Aber man kann halt auch nicht wegsehen.
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