Süt

Originaltitel
Süt
Land
Jahr
2008
Laufzeit
102 min
Genre
Release Date
Bewertung
8
8/10
von Patrick Wellinski / 17. März 2011

Der Anfang: Eine Frau hängt kopfüber an einem Baum. Ihr Kopf baumelt dabei über einem Kessel mit einer brodelnden weißen Flüssigkeit. Dann wirft ein Mann einen Zettel mit einem Gebet in den Kessel. Anschließend zieht er der jungen Frau eine kleine Schlange aus dem Mund. Dann ist das Ritual beendet und Semih Kaplanoglus Film "Süt" kann beginnen. Dieses rätselhafte Ritual, dessen näherer Sinn uns fremd bleibt, ist tief in der türkischen Mythologie verwurzelt. Die Schlange und die Milch, als auch das rätselhafte Ritual erscheinen bruchstückhaft aber konsequent durch den ganzen Film hindurch.

Kaplanoglu erzählt im zweiten Teil seiner "Yusuf-Trilogie" vom jungen Yusuf (Melik Selcuk), der mit seiner Mutter (Basak Köklükaya) im ländlichen Anatolien wohnt und eigentlich Dichter werden möchte. "Süt" ist die präzise und mit wundervoll traumwandlerischen Elementen unterwanderte Geschichte dieser Mutter-Sohn-Beziehung, die einer harten Probe unterzogen wird, als Yusuf zur Musterung nach Izmir muss. Die mögliche Einberufung ins Militär, würde das enge Band zwischen Mutter und Sohn zerbrechen, vor allem weil Yusufs Mutter allein lebt und keinen Mann hat.
Doch zunächst führt uns der türkische Regisseur in wohl komponierten, ruhigen und langen Tableaus liebevoll in den Alltag der kleinen Familie ein. Er zeigt, wie Yusufs Mutter in mühevoller Handarbeit die Kühe melkt und aus der Milch dann auch noch Käse macht, den sie anschließend zusammen mit ihrem Sohn auf dem Markt verkauft. Es ist ein mitunter hartes und arbeitsvolles Leben, welches vor allem die Mutter führt. Yusuf wandert mit seinem Schlafzimmerblick und den sehr expressiven Augenbrauen durch die Welt auf der Suche nach einem Ziel, welches er wohl selber nicht beschreiben kann. Er versucht verzweifelt seine Gedichte einem Literaturprofessor schmackhaft zu machen und sie auch an türkische Literaturzeitschriften zu verkaufen. Als eines seiner Werke abgedruckt wird, rennt er schreiend eine alte Landstraße herunter. Für diesen ruhigen, mit nur wenigen Schnitten und sehr langen Einstellungen erzählten Film wirkt dieser Moment fast wie ein explosiver Ausbruch an Emotionen.

Kaplanoglu besitzt, so wie sein türkischer Berufskollege Nuri Bilge Ceylan, die Fähigkeit einen Film wie einen Traum zu erzählen, ohne dabei klassische Traumelemente zu bedienen. Das traumhafte erwächst in "Süt" eher durch kurze Momente der Irritation. Wenn zum Beispiel Yusuf, seinem besten Freund, der in einer Kohlegrube arbeitet, sein abgedrucktes Gedicht zeigt, wechselt die ansonsten immer objektive Perspektive des Films. Die Kamera fährt langsam, Yusufs Blick folgend, den Körper seines Freundes ab. Dann ist die Kamera wieder da, wo sie immer in diesem Film ist - auf Abstand zu den Protagonisten. Dieser eigentümliche optische Gestus prägt sich ein, weil er eine rein subjektive Aufnahme ist, ohne sie in den Kontext der sparsam vermittelten Geschichte zu setzen. Dann zeigt Kaplonuglu auch gerne mal eine unscharfe Wand für einige Minuten. Er folgt Personen, die nicht weiter essentiell für die Geschichte sind. Er lässt Momente aus und vermittelt so eine gezielte Verunsicherung beim Zuschauer. Getragen wird dieser Eindruck auch von der unbeschreiblichen Leistung des Hauptdarstellers, der kein professioneller Schauspieler ist. Bei der Fülle an Emotionen, die dieser junge Mann zu transportieren vermag, möchte man dies gar nicht glauben.
In seinem Umgang mit Zeit, Subjektivität und Objektivität, als auch mit seiner Schauspielführung, erinnert Kaplonuglus Arbeit sehr stark an die Filme des französischen Kinomeisters Robert Bresson. Die (Kino-)Welten, die beide - sowohl Bresson als auch Kaplanoglu - erschaffen, sind zeichenhaft und materiell zugleich.
"Süt" ist also keine "reale" Geschichte, wobei man im Kino ja ohnehin mit dem Wörtchen Realität vorschichtig umgehen sollte. Dennoch schildert das Umfeld, in dem sich Yusuf und seine Mutter bewegen, zum großen Teil den Alltag der ostanatolischen Bevölkerung. Man bekommt einen guten Eindruck von dieser traditionellen Gesellschaft vermittelt, die allerdings, anders als von vielen Medien und Politikern dargestellt, ganz und gar nicht von der Religion dominiert wird. Yusufs Mutter trägt das Kopftuch, wenn überhaupt, nur sehr leger und ungezwungen. Wenn die Kamera dann gemeinsam mit der Hauptfigur durch Straßen der nächsten Stadt wandert, sehen wir, dass dies nicht eine Ausnahme ist. Auf der anderen Seite entspricht Yusuf nicht dem klassischen Männerbild, wie es in der türkischen Gesellschaft verankert ist. Seine Leidenschaft für Gedichte, seine zerbrechliche Statur und sein Empfinden von der Welt entrücken ihn von jedem Versuch, ihn fassen zu wollen. Kaplanoglus Film behält auch die aktuellen Umbrüche in der Türkei im Blick. Hier die landwirtschaftlich geprägten Gebiete, dort die Kohleindustrie und die Großstadt mit ihren modernen Einflüssen.

"Süt" ist ein bezaubernder Arthouse-Film, weil er ständig Grenzbereiche unserer Wirklichkeit auslotet. Er schwebt zwischen Realität und Traum und zwischen Moderne und Tradition. Und ganz nebenbei erzählt er auch eine schmerzhafte und herzzerreißende Gesichte von einer Mutter-Sohn-Beziehung, deren feste und emotionale Bindung so langsam aufgerissen wird. In dieser Hinsicht, ist Kaplanoglu eine - zugegebenermaßen äußerst eigenwillige - aber dennoch betörende "Coming of Age"-Geschichte geglückt.

Bilder: Copyright

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