Exil

Originaltitel
Exils
Land
Jahr
2004
Laufzeit
103 min
Genre
Regie
Release Date
Bewertung
9
9/10
von Patrick Wellinski / 31. Mai 2010

 

Wenn dieses Jahr Michael Hanekes preisgekrönter Film "Cache" in die Kinos stürmen wird und man dann unmissverständlich vor Augen geführt bekommt, wie unaufgearbeitet die Vergangenheit Frankreichs noch ist, sollte man sich jedoch zuvor "Exil" von Tony Gatlif ansehen. Denn auch der französische Regisseur tunesischer Abstammung verarbeitet in seinem bereits 2004 gedrehten und auch im selben Jahr mit dem Regiepreis in Cannes ausgezeichneten Werk Frankreichs Vergangenheit auf eine wunderbare Art und Weise, die der schonungslosen und fast rabiaten Handschrift von Haneke in nichts nachsteht. In diesem fulminanten Anti-Roadmovie stellt Gatlif die Frage auf, was mit Immigranten passiert, die mit ihrem Leben in der neuen Heimat nicht mehr zurecht kommen und aufbrechen, um nach dem verlorenen Glück in der alten Heimat zu suchen.

Der nackte Zano (Romain Duris, "Der wilde Schlag meines Herzens" und "L'auberge Espanole") dreht sich weg vom Fenster, durch dass man die uninteressanten und tristen grauen Straßen von Paris erkennen kann. Er könnte ein paar Stockwerke hinabsteigen und würde sich dann im Zentrum der Gleichgültigkeit einer Weltmetropole wiederfinden. Man könnte aber auch ausbrechen und auswandern. "Lass uns nach Algerien gehen" sagt er plötzlich und regungslos zu Naïma (Lubna Azabal, "25 Grad im Winter"), die ebenfalls nackt ist und von der gleichen Emotionslosigkeit beherrscht wird wie Zano.
So unspektakulär und fast phlegmatisch beginnt "Exil". Beide verlassen die Großstadt, um sich auf eine Reise zu begeben, die die üblichen back-to-the-roots-Klischees nicht bedient und weit darüber hinaus zur Meditation über Kultur und Integration im Allgemeinen wird. Beide werden schnell merken, dass sie in ihrer Heimat nicht mehr den Anschluss finden werden. Sie sind aber auch keine Europäer. Sie sind irgendetwas dazwischen. Hilflos zwischen den Stühlen hoffen sie auf eine Art Erleuchtung, die ihnen ihre Reise bringen könnte.

Gatlifs Geniestreich zeichnet einen enorm sehenswerten Culture Clash und macht aus "Exil" ein schönes Stück sorgloses und überdrehtes Road-Kino, dass ab und zu von einem angenehmen Mystifizismus überzogen wird. So wird hier aus dem biblischen Symbol der Apfelübergabe von Eva an Adam ein Vorspiel und dann eine bizarre sexuelle Phantasie. Das Zwiegespräch mit dem Großvater endet mit einem Paar Walkman-Kopfhörer, die an seinen Grabstein gehängt werden. Und Naïma weigert sich stur, die traditionelle arabische Kleidung zu tragen nur weil ... nur weil ihr zu heiß ist.

Das einzige Element, das diese kulturellen Differenzen zu verbinden scheint, ist die Musik. "Musik ist meine Religion", sagt Zano einmal. So ist es auch die Musik, die beide Hauptdarsteller permanent begleitet, ob als wehleidiger Gesang einer Zigeunerband oder als psychedelischer Elektrobeat aus einer spanischen Kneipe. Es ist ein schräger Sound. Eine Mischung aus spanischem Flamenco, französischen Elektro-Upbeats und arabischem Rap.
"Exil" ist ein Anti-Roadmovie, weil Naïma und ihr Freund gegen den Strom wandern. Sie ziehen nicht wie üblich, in Richtung der Industrieländer. Nein, sie gehen zurück, zu den Wurzeln ihrer Identität. Sie begegnen aber immer wieder Menschen, die dann doch dem Strom der Emmigranten folgen, und die auf ein besseres Leben hoffen. Ein Leben ohne Armut und ohne Hunger. Ein Leben, das Zano und seine Freundin hatten, das sie aber aufgeben um ihre Identitätslosigkeit zu bekämpfen.

Regisseur Gatlif wurde, ähnlich wie sein männlicher Protagonist Zano, in Algier geboren. Es ist nicht schwer zu erkennen, dass ihm der Weg von Algier nach Paris äußerst vertraut ist. Die nichtssagenden Gesichter zufällig vorüber gehender Passanten oder die bei Sonnenuntergang gefilmten europäischen Landstraßen tragen eine sehr persönliche Handschrift. Diese Reise hat nichts mit den üblichen National Geographic-Dokumentationen zu tun. Hier gibt es keine schönen und klaren Bilder. So sieht man, wenn die Kamera durch die Scheibe eines Zugabteils schaut, nicht die beeindruckende Landschaft, sondern den Schmutz der Scheibe.
Und trotzdem oder genau deshalb bekommt man ein erfischendes Gefühl von Schönheit vermittelt. Vielleicht weil die Schönheit hier nicht perfekt ist. Sie trägt Narben: Narben, die der französisch-algerische Krieg hinterlassen hat. Narben, die beide Liebenden an ihren Körpern haben und auch die, die sie tief in ihrer Psyche tragen.

Im ganzen Film fällt nicht ein unnützes Wort. Jeder nimmt von dieser Reise mit, was er bekommen konnte. Im Epilog sitzen unsere Helden auf dem Friedhof: Naïma schält eine Apfelsine. Sie sind nicht in Eile. Vielleicht kommen sie einmal wieder zurück, vielleicht aber auch nicht. Sie müssen es jedenfalls nicht mehr. Freiheit (und das scheint die universelle Botschaft dieses Schmuckstückes des jungen französischen Kinos zu sein) bedeutet, sich niemals irgendwo auf Dauer niederzulassen.

Bilder: Copyright

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