Geschäftsleute hassen das Film-Business. Geschäftsleute lieben es, Kosten und Einnahmen möglichst genau vorausberechnen zu können. Das gibt Kalkulationssicherheit und einen seriösen Businessplan. Wenn ich soundsoviel in die Entwicklung und Herstellung eines Produkts investiere, wird es eine bestimmte Qualität erreichen, die mir einen soundso hohen Verkaufspreis erlaubt, und mit einem soundsohohen Marketing-Budget kann ich dann vermutlich soundso viele Kunden erreichen und soundso viel einnehmen, um am Ende einen Gewinn zu erwirtschaften.
Leider läuft das Filmgeschäft so nicht. Der Preis für eine Kinokarte, ob nun für einen preiswerten Independent-Film oder einen Blockbuster, ist immer derselbe (na gut, es sei denn, es gibt den 3D-Zuschlag, Hollywoods neueste Wunderwaffe, um an der Einnahmenschraube zu drehen). Und auch wenn sich über massive Werbung zumindest eine gewisse Kundenresonanz „kaufen“ lässt, ist nicht nur der Geschmack des Publikums ein gutes Stück weit unberechenbar, sondern auch die Qualität eines Films. Man kann erfahrene Regisseure und berühmte Schauspieler einkaufen und zig Millionen in eine Großproduktion investieren, die genau nach Plan verläuft, und trotzdem einen Riesenflop landen. Auf der anderen Seite können sich aber auch vermeintliche Desaster in gigantische Erfolge verwandeln. „Vom Winde verweht“ und „Titanic“ zum Beispiel, zwei der finanziell erfolgreichsten Filme aller Zeiten, erlebten vor ihrem Kino-Triumph jeweils Produktionsgeschichten, die von Rückschlägen, Katastrophen und ruinösen Kostenexplosionen gepflastert waren und einem blanken Alptraum gleichkamen.
Das aktuell dominierende Zauberwort, um in all diese Unwägbarkeiten wenigstens ein bisschen mehr Kalkulierbarkeit zu bekommen, heißt „Built-in audience“ – also ein zahlendes Publikum, das bei einem Filmstoff quasi schon im Voraus eingebaut ist. Die „Built-in audience“ ist der Versuch der Geschäftsleute, Berechenbarkeit in ein letztlich unberechenbares Geschäft zu bringen. Man kann den Geschmack und die Reaktion des Publikums nicht vorhersagen, aber man kann sich ein erfolgreiches Startwochenende kaufen. Das muss reichen, damit sich ein Film rechnet. Qualität wird da zweitrangig. Alles was man braucht, ist ein wenig sichere Aufmerksamkeit. Und sei es, indem man eine Verfilmung von „Schiffe versenken“ dreht.
Das war in diesem Kinojahr der wohl absurdeste Ausläufer der Kalkulation mit einer „built-in audience“, denn diese „voreingebaute Zuschauerschaft“ hat zumindest in der Theorie eben jeder Filmstoff, mit dem eine breite Masse bereits vertraut ist und darum einem bekannten Titel quasi automatisch an die Kinokasse folgt. Sei es, weil sie das Buch gelesen, den Vorgängerfilm/die TV-Serie gesehen, das Märchen gehört oder eben das Brettspiel gespielt hat. Der Nicht-Kassenerfolg der gehirnamputierten Filmadaption von „Battleship“ hat diesem Prinzip zumindest gewisse Grenzen aufgezeigt. Trotzdem ist die Hitliste der erfolgreichsten Kinofilme des Jahres nicht nur ein Beleg dafür, dass Hollywoods Großkonzerne kaum noch in etwas anderes als solche sicher kalkulierten Projekte investieren (also: in etwas wirklich originelles), sondern auch dafür, dass sie damit eben auch gut fahren. In den USA schafften es dieses Jahr insgesamt 26 Filme, mehr als 100 Millionen Dollar an der Kinokasse einzuspielen. Vom erfolgreichsten Film des Jahres „The Avengers“ (623 Millionen Dollar) bis zu Platz 26 auf der Liste („Journey 2: The Mysterious Island“, 103 Millionen Dollar) fallen 18 Filme unter das „Built-in audience“-Prinzip. Von den Top 15 sind es 11 Stück (Avengers, The Dark Knight Rises, Die Tribute von Panem, Breaking Dawn 2, Skyfall, The Amazing Spider-Man, Madagascar 3, Der Lorax, Men in Black 3, Ice Age 4, Snow White & the Huntsman), und wenn man das traditionell auch mit originalen, neuen Storys immer noch verlässlich erfolgreiche Animationsgenre mit einberechnet (plus drei, nämlich: „Merida“, „Ralph reicht’s“ und „Hotel Transsylvanien“) bleibt unter den Top 15 Filmen des Jahres genau einer übrig, mit dem man nicht von vornherein in dieser Liste kalkulieren konnte: Die Nummer 8, Seth MacFarlanes „Ted“. Man kann also sagen: 2012 war für die Geschäftsleute im Filmgeschäft ein gutes Jahr. Weil ihre Kalkulation über die Unberechenbarkeit des Publikumsgeschmacks triumphiert hat.
Das Filmjahr 2012 in Deutschland ist auch von daher mit einer sehr positiven Überraschung gesegnet gewesen, als dass der mit Abstand erfolgreichste Film in den deutschen Kinos all diese Berechenbarkeit ad absurdum führte. Keine Fortsetzung, keine Bestseller-Adaption, kein Animationsfilm, ja, nicht einmal ein Hollywoodstreifen. Und dabei gab es über 15 Filme, die ein besseres Startwochenende hinlegten als die schlussendliche Nr. 1. Und trotzdem: Der erfolgreichste Film des Jahres heißt mit 8,8 Millionen Zuschauern „Ziemlich beste Freunde“, und dieser Überraschungserfolg ist – egal, ob man den Film nun persönlich grandios findet oder nicht – vor allem deshalb so schön, weil es eine echte „Old School“-Erfolgsgeschichte ist. Ein Kinohit, wie man sich als Filmfan die Entstehung eines Kinohits wünscht. Ein Erfolg, der über Wochen und Monate wächst, weil ein Film so positive Mundpropaganda erzeugt, dass er allein darüber jede Woche aufs Neue mehrere hunderttausend Menschen ins Kino lockt und immer noch läuft, wenn die durch Werbemillionen hochgehypte Multimillionendollar-Ware längst wieder von den Leinwänden verschwunden ist. Ein verdienter Erfolg. Kein gekaufter, und kein kalkulierter.
Jenseits dieser durch und durch außergewöhnlichen Nummer Eins sind aber auch die deutschen Jahres-Kinocharts ein Spiegel des „Built-in audience“-Prinzips, mit denselben Verdächtigen, nur in anderer Reihenfolge. Jenseits der „Ziemlich besten Freunde“ bildet auch hier „Ted“ (Platz 6) so ziemlich die einzig rühmliche Ausnahme. Unter den 22 Filmen, die dieses Jahr in Deutschland mehr als eine Million Zuschauer ins Kino lockte, ist mit „Der Diktator“ (Platz 16) nur noch ein Film, der aus dem Schema ausbricht. Um hier ansonsten bemerkenswerte „Überraschungen“ zu finden, muss man sich schon an die besondere Liebe der Deutschen zur „American Pie“-Reihe halten (deren „Klassentreffen“ war in den USA eine Kinokassen-mäßig irrelevante Randnotiz, hier schaffte es mit 2,5 Millionen Zuschauern den achten Platz der Jahrescharts), oder die etwas absurde Tatsache, dass der erfolgreichste deutsche Film des Jahres – „Türkisch für Anfänger“, 2,4 Millionen Zuschauer, Platz 9 – die Adaption einer TV-Serie ist, die Zeit ihres Lebens unter viel zu niedrigen Einschaltquoten litt.
Wenn man beim Blick auf die nüchternen, nackten Zahlen bleibt, muss man weiterhin auch dieses Jahr festhalten, dass finanziell erfolgreiche Filme und qualitativ herausragende Filme (aus Cineasten-Sicht gesprochen) zwei verschiedene Dinge sind, die nicht viel miteinander zu tun haben. Ja, wir von Filmszene gehören zu den Leuten, die den neuen Bond absolut super fanden und freuen uns entsprechend, dass er mit sieben Millionen Zuschauern der zweiterfolgreichste Film des Jahres wurde. Und ja, auch die „Avengers“ (Platz 11) und „The Dark Knight Rises“ (Platz 7) waren außergewöhnliche Blockbuster-Ereignisse. Aber ansonsten muss man schon sehr, sehr weit die Liste hinunterschauen um die sonstigen Kandidaten zu finden, die sich so in den Jahres-Bestenlisten unserer Redakteure tummeln. Nur ein paar Beispiele: Der diesjährige Oscar-Gewinner „The Artist“: Platz 43, 665.000 Zuschauer. Alexander Paynes immerhin noch mit George-Clooney-Starpower bedachter „The Descendants“: ein Platz davor mit knapp viertausend Zuschauern mehr. Martin Scorseses „Hugo Cabret“: Platz 58 mit 520.000 Zuschauern. Michael Hanekes Cannes-Gewinner „Liebe“: Platz 97, 240.000 Zuschauer. Direkt dahinter: Wes Andersons „Moonrise Kingdom“. Und noch weniger Leute wollten Nicolas Winding Refns grandiosen „Drive“ sehen (Platz 102, 220.000 Zuschauer) oder Steve McQueens „Shame“ (Platz 129, 125.000 Zuschauer).
Diese sachlich-kühlen Zahlenspiele sollen jetzt nicht heißen, dass 2012 ein schlechtes Jahr fürs Kino war, denn letztlich können beide Seiten zufrieden sein: Die „voreingebauten“ Zuschauermassen hielten die Einnahmen für Kinobetreiber und Filmverleiher auf stabilem Niveau. Und für die Minderheit der Film-Genießer gab es immer noch genug wirklich schöne und originelle Filme zu sehen, die sich zum Glück auch mit übersichtlichen Zuschauerzahlen noch rechnen und ihre Produzenten nicht in den Ruin treiben, nur weil sie sich trauen, etwas anderes auszuprobieren. Solange die Filmszene-Redakteure alljährlich im Dezember wieder zu stöhnen beginnen, weil sie gar nicht wissen, wie sie die ganzen tollen Filme eines Jahrgangs in ihrer Top Ten-Liste unterbringen sollen, kann es so schlimm nicht gewesen sein. Nur auf die Geschäftsleute aus Hollywood sollte man halt wirklich nicht mehr bauen wenn es darum geht, sich auf spannende, ungewöhnliche neue Filme zu freuen. Ein Auszug des Hollywood-Produktions-Lineups für 2013: Stirb langsam 5, Hänsel & Gretel: Hexenjäger, G.I. Joe: Die Abrechnung, Iron Man 3, Star Trek: Into Darkness, Fast & Furious 6, Hangover 3, Die Monster Uni, Man of Steel, Ich – einfach unverbesserlich 2, Kick-Ass 2, Kindsköpfe 2, The Wolverine, Die Schlümpfe 2, Die Tribute von Panem 2, Der Hobbit 2. Und Wiederaufführungen in neuer 3D-Version von „Jurassic Park“, „Independence Day“, „Findet Nemo“ sowie „Star Wars Ep. 2 & 3“. Öfter mal was Neues. In diesem Sinne: Allen Filmszene-Lesern frohe Weihnachten, guten Rutsch und auf ein aufregendes Kinojahr 2013. Auch da wird sich bestimmt noch etwas finden, wo die Zuschauerschaft noch nicht voreingebaut wurde.
Die Tops und Flops im Kinojahr 2012 aus Sicht unserer einzelnen Redakteure
Frank-Michael Helmke
Top Ten
Patrick Wellinski
Top Ten
Maximilian Schröter
Top Ten
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Volker Robrahn Top Ten
Margarete Semenowicz
Top Ten
Johannes Miesen
Top Ten
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Simon Staake
Top Ten
René Loch
Top Ten
Matthias Kastl
Top Ten
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