Alle Jahre wieder ist es auch in der Filmszene-Redaktion das gleiche Spiel. Das Jahresende nähert sich, erste Gedanken über die eigene Top- und Flop-Liste werden gesponnen… und in den letzten Jahren kam es leider zusehends vor, dass die führenden Köpfe unseres Online-Magazins an dieser Stelle ein wenig stutzten, innehielten und sich dann mit leichter Irritation beieinander erkundigten: ‚Sag mal, hast du dieses Jahr eigentlich einen 10-Augen-Film dabei?’.
Es ist wohl müßig zu erklären, dass eine 10-Augen-Bewertung auf Filmszene nicht gleich bedeutet, dass alle unsere Redakteure dieselbe Punktzahl gezückt hätten, aber für gewöhnlich liegen wir nicht weit auseinander. Als wir nun aber auf das vergangene Kinojahr zurückblickten, stellten wir mit ziemlichem Erstaunen fest, dass es das erste Jahr in der inzwischen 12-jährigen Geschichte unseres Magazins war, in dem KEINE EINZIGE Rezension mit der Höchstwertung veröffentlicht wurde. Und es auch sonst keinen Fall gab, bei dem einer von uns eine 10 gezückt hätte, wo der rezensierende Kollege eine oder zwei Noten tiefer gegriffen hat. Das resultierende Fazit ist darum eindeutig: 2011 war ein Kinojahr ohne klare Highlights. Man könnte auch sagen: Es war ein Kinojahr, dass man ziemlich schnell vergessen wird, weil es irgendwie ziemlich schwach war.
Das soll natürlich nicht heißen, dass es gar nichts Gutes zu sehen gab. Die Welt des Kinos wäre in einem sehr bedenklichen Zustand, wenn es nicht trotzdem immer noch jede Menge Filme gegeben hätte, die enorm zu gefallen wussten und bei uns durchaus für Begeisterungsstürme sorgten. Aber die wirklich alles überragenden Werke, die Instant-Klassiker, die Musst-du-einfach-gesehen-haben-Filme, die jeden aus dem Kinositz flashten und mehr auslösten als ein "Joa, echt guter Film", die waren irgendwie nicht so wirklich dabei. Bezeichnenderweise verzichtete unser Rezensent Simon Staake bei seinem bemerkenswerten Text über Terrence Malicks „The Tree of Life“ auf eine konkrete Wertung – weil man bei diesem Film nämlich durchaus persönlich zur absoluten Höchstwertung tendieren kann, aber auch zugleich zugeben muss, dass ganz viele Zuschauer diesen Film als ganz großen Quark abkanzeln werden. Redaktionsintern waren denn auch beide Meinungen vertreten. Nichtsdestotrotz verdient sich „The Tree of Life“ eine besondere Erwähnung als der außergewöhnlichste, eigensinnigste und in dieser Hinsicht vielleicht auch mutigste Film des Jahres. Ein wahres Kunstwerk jenseits aller formellen Beschränkungen und Konventionen. Und so gesehen vielleicht doch das Aufregendste, was man 2011 im Kino sehen konnte.
Denn mal ehrlich, was war denn sonst da, was wirklich und wahrhaftig die Kraft hatte, einen aus dem Sitz zu fegen? Es gab handwerklich großartig gemachte Filme, die den Cineasten genüsslich mit der Zunge schnalzen ließen und sich eine lobende Erwähnung verdient haben, wie jüngst Roman Polanskis grandiose Theater-Adaption „Der Gott des Gemetzels“, die Independent-Perle „Blue Valentine“, J.J. Abrams’ wundervolle Spielberg-Hommage „Super 8“, Lars von Triers mit dem Europäischen Filmpreis ausgezeichneten Bildersturm „Melancholia“ mit seiner Wagner’schen Wucht oder die Erschließung neuer Verwendungsbereiche für die über-gehypte 3D-Technik durch Wim Wenders und Werner Herzog, die mit „Pina“ und „Die Höhle der vergessenen Träume“ die dritte Dimension ins Dokumentations-Genre brachten und damit mal eben die beiden besten 3D-Filme des Jahres ablieferten.
Doch jenseits dieser löblichen Ausnahmen gab es nach dem Schaulaufen der Oscar-Kandidaten im Frühjahr mit den Bestenlisten-Kandidaten „Black Swan“, „The King’s Speech“, „Winter’s Bone“ und „True Grit“ nicht mehr viel, was über den Jahresverlauf das Cineasten-Herz wirklich höher schlagen ließ. Bezeichnenderweise lieferte sogar Pixar - sonst alljährlich ein zuverlässiger Lieferant für einen Top Ten-Film - dieses Jahr mit "Cars 2" seinen ersten echten Flop ab. Vor allem aber der vermeintliche Heilsbringer 3D verbreitete abgesehen von Herzog/Wenders fast nur noch Ernüchterung und ist enttäuschend schnell zu einem Ex-Trend mutiert, über den man im Jahr Zwei nach „Avatar“ schon eigentlich gar nicht mehr reden will. Zu zahlreich sind die Filme, die ohne erkennbaren Mehrwert 3D nur deshalb einsetzten, weil sich so ein 3-Euro-Preisaufschlag an der Kinokasse rechtfertigen ließ – ein hilfreicher Placebo-Effekt, um sich die schwindenden Zuschauerzahlen für einfallsloses Mainstream-Formelkino schön zu rechnen.
Nach einem weiteren Jahr mit Fortsetzungs-Schwemme hat man inzwischen nicht mal mehr Lust, sich über diese Ideenlosigkeit Hollywoods zu echauffieren, und mag höchstens die Frage in den Raum stellen: Wenn man gar nichts Neues mehr an den Start bringt, was sich zu einem neuen Erfolg mausern könnte, woraus will man dann noch Fortsetzungen stricken, wenn auch aus Gelddruck-Maschinen wie „Transformers“, „Pirates of the Caribbean“, „Harry Potter“ oder „Twilight“ endgültig die Luft raus ist oder diese ihr natürliches und bereits überdehntes Ende (wie im Falle Potter) erreicht haben?
Nur zwei Filme aus der Multimillionen-Mainstream-Abteilung konnten sich dieses Jahr wirklich positiv hervortun – so positiv, dass eine Fortsetzung nicht nur möglich, sondern sogar erwünscht ist: Der „Reboot“ der klassischen 70er-SciFi-Franchise in „Planet der Affen: Prevolution“ darf dabei angesichts des extrem guten Gelingens getrost als eine der Überraschungen des Jahres bezeichnet werden. Längst nicht so überraschend, aber trotzdem herausragend: Steven Spielbergs nach endloser Vorproduktionsgeschichte endlich realisierte „Tim & Struppi“-Adaption, der so ziemlich einzige Film dieses Jahres der bewies, dass die Möglichkeiten von 3D und Performance Capture noch lange nicht ausgereizt sind, und altmodisches Abenteuerkino auch im 21. Jahrhundert noch seinen Charme hat.
Eine lobende Erwähnung an die Geschäftemacher aus Hollywood ist aber doch noch drin, nämlich für die gelungene Ausgestaltung des innovativsten Trends im Mainstream-Kino der letzten Jahre, namentlich: Die „R-Rated-Comedy“, Komödien mit einer Altersfreigabe für Erwachsene. Eine Ewigkeit gehörte es zu den ungeschriebenen Gesetzen Hollywoods, dass (romantische) Komödien mit einem erwachsenen Zielpublikum so harmlos in Wort und Inhalt sein müssen, dass sich davon niemand pikiert fühlt. Eine Annahme, mit der Judd Apatow ganz unverblümt quasi im Alleingang aufräumte, und die inzwischen auch Leute außerhalb von Apatows Produktionsfirma verstanden haben. Dieses Jahr enttäuschte zwar die Fortsetzung des „R-Rated-Comedy“-Giganten „Hangover“ mit einer witz- und ideenlosen Copy&Paste-Wiederholung des ersten Teils. Und auch „Bad Teacher“ war ein eher misslungener Starvehikel-Versuch in diesem neuen Subgenre. Aber es gab auch für beide Geschlechter jeweils ein wirklich herausragendes Exemplar, die beide gleichermaßen verdient zu echten Überraschungserfolgen wurden: „Brautalarm“ und „Kill the Boss“, zwei großartige Filme über Frauen- bzw. Männerfreundschaft, die im Doppelpack verdeutlichen, was die besondere Stärke der „R-Rated-Comedy“ ist: Hier kriegen beide Geschlechter gleichermaßen gute Ware, in der sie sich wiederfinden können, und es sind immer noch Filme, die auch dem jeweils anderen Geschlecht Spaß machen können. Perfekte Date- und Pärchen-Filme.
Doch auch trotz einer immer noch ordentlichen Reihe sehr bemerkenswerter Filme, der Gesamteindruck des Kinojahres 2011 bleibt mehr als durchwachsen. Es kann eigentlich nur besser werden im nächsten Jahr. Immerhin: Für 2012 können wir schon jetzt die erste 10-Augen-Rezensionverzeichnen. Es werden hoffentlich noch einige folgen. In diesem Sinne: Auf ein großartiges Jahr 2012. Frohe Weihnachten und guten Rutsch für alle Filmszene-Leser.
Die Tops und Flops im Kinojahr 2011 aus Sicht unserer einzelnen Redakteure
Frank-Michael Helmke Top Ten
Patrick Wellinski
Maximilian Schröter
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Volker Robrahn
Margarete Semenowicz Top Ten
Johannes Miesen
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Simon Staake Top Ten
René Loch Top Ten
Anna Plumeyer
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