Oh, wie war das schön. Vom 9. Juni bis 9. Juli dieses Jahres, als sich das ganze Land - und scheinbar wirklich das ganze Land, inklusive sonst am Fußball komplett desinteressierter und zumeist weiblicher Zeitgenossen - in einem euphorischen Taumel von einem Hocherlebnis zum nächsten feierte, die Sonne jeden Tag dazu lachte und auf einmal Worte wie Glückseligkeit und Wir-Gefühl in aller Munde waren, die man zuvor nicht mal im Traum mit Deutschland assoziiert hätte.
Und das alles dank einer Mannschaft, auf die bis zum Beginn des Turniers kaum jemand einen Pfifferling gesetzt hatte. Es war wirklich ein Märchen, und insofern ist der Titel von Sönke Wortmanns WM-Doku ebenso einfach schön wie wunderbar passend. Schade nur, dass der Film diesem Versprechen nicht folgen kann und es nicht wirklich schafft, das Märchen dieses Sommers angemessen auf die Leinwand zu retten.
Wortmann, nicht nur einer der erfolgreichsten Kino-Regisseure Deutschlands (siehe "Das Wunder von Bern" oder "Der bewegte Mann") sondern sicher auch der Fußball-versierteste, durfte die deutsche Nationalmannschaft während der gesamten Vorbereitung und der WM mit seiner Kamera begleiten, beim Training, in der Kabine, er saß sogar mit auf der Ersatzbank. Aus den über 300 Stunden Material, die Wortmann größtenteils selbst aufzeichnete, nur manchmal unterstützt von Kameramann Frank Griebe, schnitt er nun einen Film zusammen, der sich eher mit einem Heimvideo als mit einer "richtigen" Dokumentation vergleichen lässt. Und das liegt nicht allein an der Tatsache, dass das Material hauptsächlich mit nur einer Kamera und ohne zusätzliche Mikrofone aufgezeichnet wurde, so dass hier dieselben Probleme auftauchen, die jeder Amateurfilmer zu Genüge kennt - verzerrter Ton, Unschärfen und Gegenlicht, und immer mal wieder stellt sich jemand ungünstig vor die Kamera.
Wortmann liefert auch nur wenige Orientierungshilfen, etabliert mit Einblendungen lediglich Datum und Ort, die Personen werden nicht näher vorgestellt. Der Fußball-Fan an sich wird zwar kaum Schwierigkeiten haben, die deutschen Nationalspieler auseinander zu halten, aber wenn dann der klinsmännische Stab aus Fitness-Trainern, Psychologie-Coaches und Spielbeobachtern zu Wort kommt, muss man sich aus dem Gesagten mühsam die Funktion des gerade Sprechenden zusammen reimen. Ein paar mehr Texteinblendungen hätten hier wirklich nicht wehgetan.
Was dem Film jedoch vor allem fehlt, ist die Reflexion über das Gezeigte, eine Einordnung der Ereignisse, die überhaupt erst vermittelt, was da geschehen ist. Bis auf zwei oder drei Statements aus einem Interview, das Wortmann im August mit Klinsmann in seiner kalifornischen Heimat führte, fehlt dieses Element komplett, und auch die äußeren Ereignisse während der WM (außerhalb im Sinne von: jenseits von Mannschaftshotel, Bus und Kabine) finden keinerlei Berücksichtigung.
All dieses Drumherum - die öffentliche Haltung zur Nationalmannschaft vor dem Turnier und wie sie sich wandelte, die sich immer weiter überschlagende Euphorie, die Bedeutung zentraler Ereignisse wie dem Siegtor gegen Polen in letzter Minute - muss der Zuschauer aus der eigenen Erinnerung abrufen und hinzufügen, um ein vollständiges Bild herzustellen, das der Film allein leider nicht zu Stande bringt.
Als richtige Dokumentation über die WM beziehungsweise die Leistungen der deutschen Nationalmannschaft während des Turniers fällt "Deutschland. Ein Sommermärchen" also durch, eine Tatsache, die wahrscheinlich auch der eiligen Fertigstellung geschuldet ist. Die knapp drei Monate zwischen WM-Ende und Kinostart sind gerade eben genug Zeit, um überhaupt aus dem riesigen Materialwust einen Film zusammen zu schneiden. Für viel mehr als das hatte man gar keine Gelegenheit (das entschuldigt vielleicht auch die einfallslose Filmmusik, welche die knapp montierten Spielsequenzen unterlegt und zur Kategorie "noch ein Komponist, der uninspiriert bei ‚American Beauty' klaut" gehört).
Hätte sich Wortmann ein halbes Jahr mehr Zeit gelassen, um retrospektive Interviews mit Spielern und Betreuern zu führen und vielleicht auch die öffentliche Wahrnehmung des Turniers einzubeziehen, wäre wohl eine rundere und weitaus ordentlichere Dokumentation dabei raus gekommen. Die größere zeitliche Nähe zur WM verspricht andererseits beim jetzigen Start natürlich ein größeres Publikumsinteresse, und dessen Befriedigung stand bei der eiligen Abwicklung dann wohl auch im Vordergrund.
Bei all dem Gemecker über den mangelnden dokumentarischen Wert des Films soll aber nicht unter den Teppich gekehrt werden, dass "Deutschland. Ein Sommermärchen" natürlich eine gewisse Faszination zu bieten hat, ganz besonders für Fußball-Fans. Die einmalige Gelegenheit, die Mannschaft und den Trainerstab so hautnah zu erleben, ist definitiv etwas Besonderes, auch wenn sie an sich "nur" relativ unspektakuläre Erkenntnisse bietet wie die Tatsache, dass auch Jürgen Klinsmann bei seinen Motivationsansprachen in der Kabine nicht viel anders daherredet als der Trainingsleiter des örtlichen Kreisligisten.
Fußballprofis sind eben nicht unbedingt die hellsten Köpfe unter der Sonne, und so wird man hier auch vergeblich auf sonderlich geistreiche Statements warten. Andererseits ist es eben diese einfache Mentalität, die den besonderen Charme und den gelegentlichen Witz des Films ausmacht. Der Besuch der Bundeskanzlerin sorgt da ebenso für absurde Komik wie eine eifrige Friseurin, die zwar außer Bayern München keinen deutschen Fußballverein kennt, aber dafür umso engagierter Miroslav Klose erklärt, warum es total wichtig ist, einen festen Stammfriseur zu haben.
Die Traineransprachen räumen indes mit der Illusion auf, dass in der Wirklichkeit auch solch feurige Reden geschwungen werden, wie man sie vor dem großen dramatischen Finale eines jeden Sportfilms hört; Klinsmanns schwäbischer Dialekt sorgt aber dafür, dass sie trotzdem auf ihre eigene Art unterhaltsam sind.
Große Aha-Erlebnisse bleiben allerdings aus. Sicher, so nah war man den Nationalspielern noch nie, neue Facetten werden trotzdem nicht erkennbar. Lehmann ist phlegmatisch-arrogant, Kahn ist verbissen, Ballack weiß es besser, Klose ist schweigsam, Odonkor weiß nie so recht was er sagen soll, und Poldi und Schweini verarschen sich gegenseitig. Durch nichts, was man sieht, wird man wirklich überrascht, und am Ende macht sich sogar ein klein wenig Enttäuschung breit. Denn der während der WM permanent beschworene, außergewöhnliche Team-Spirit wird hier nicht richtig spürbar und bleibt eine Behauptung. Ob er sich überhaupt in Bildern einfangen lässt, sei dahin gestellt. Wenn ja, ist das hier jedenfalls nicht gelungen.
Enttäuscht kann man wohl auch ein bisschen sein, weil es der Film nicht schafft, eigenständig die extremen Emotionen wieder aufleben zu lassen, die in diesem Sommer nicht nur die Mannschaft, sondern das ganze Land bewegten. Wenn die Italiener im Halbfinale die Ecke ausführen, von der man nur allzu gut weiß, dass sie gleich zum alle Träume beendenden 1:0 führen wird, dann kommt der Stich ins Herz und das leise, verzweifelte Aufstöhnen im Kinosaal nur aus der persönlichen Erinnerung an diesen Moment. Der Film ist sich der Tragweite dieses Augenblicks bewusst, spürbar machen kann er sie jedoch nur bedingt.
Weitaus erfolgreicher scheint auch in dieser Hinsicht Sönke Wortmanns parallel erscheinendes WM-Tagebuch zu sein, aus dem in der Woche vor dem Kinostart einige Auszüge im SPIEGEL erschienen. Diese wenigen Seiten vermittelten bereits den Eindruck, dass Wortmann in diesem Buch anscheinend das schafft, was seinem Film nicht so recht gelingt: Aussagekräftig reflektieren, ganz besondere Einblicke bieten und vor allem eine emotionale Resonanz erzeugen, die den Sommer 2006 wieder lebendig werden lässt. Oh, wie war das schön ….
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