orausbemerkung: Entgegen üblicher Gepflogenheiten werden in diesem Text auch Details des Filmendes erwähnt, um ihn adäquat besprechen zu können. Der Autor ist der Meinung, dass diese Informationen - auch aufgrund des realen Hintergrunds des Films - nicht einem klassischen Spoiler gleichkommen und den Genuss des Films nicht beeinträchtigen. Er weist aber ausdrücklich darauf hin, dass diejenigen, die nichts über den Ausgang des Films wissen wollen, nach dem ersten Absatz zu lesen aufhören bzw. direkt zum vorletzten Absatz springen sollten.
Chris McCandless (Emile Hirsch) ist kein junger Mann wie alle anderen. Belesen und intelligent und gerade von der High School kommend, stehen ihm alle Möglichkeiten offen: Er kann nach Harvard gehen und Karriere machen, was seine wohl situierten, höchst konservativen Eltern (William Heard und Marcia Gay Harden) besonders erfreuen würde. Nur seine Schwester Carine (Jena Malone) ahnt, dass Chris sich den Zwängen der perfekten Karriere in einer materiell orientierten Leistungsgesellschaft entziehen will. Wie sehr allerdings, das ahnt auch sie anfangs nicht. Chris zerstört seine Kreditkarten und spendet seine Ersparnisse wohltätigen Zwecken, um sich ohne Geld und Zwang auf den Weg zu machen. Als "Alexander Supertramp" will er das Land bereisen, in und mit der Natur leben, frei nach dem Motto "ab in die Wildnis."
Es ist der amerikanische Traum schlechthin. Einfach auf die Straße, irgendwohin, in die Freiheit. Jack Kerouac hat ihn für alle Zeiten zusammengefasst in seinem Roman "On The Road", das amerikanische Kino verdankt dieser Idee durch das Road Movie viele seiner Klassiker. Und da ist es dann schon fast logisch, dass Sean Penn, der seine Attacken auf die Bush-Regierung ja auch als Freiheitskampf versteht, hier hinter der Kamera sitzt.
Jawoll, Penn ist zurück im Stuhl. Das ist angesichts seines durchaus beeindruckenden bisherigen Schaffens ja schon mal erfreulich. Erfreulich allerdings auch, dass er sich dieses Mal einem anderen Thema widmet als in seinen vorherigen, düsteren Dramen. Denn so gut "The Indian Runner", "Crossing Guard" und "Das Versprechen" auch waren, die thematischen roten Fäden (Selbstzerstörung, Gewalt, Rache) und die klaustrophobischen Elemente waren sicherlich nicht jedermanns Geschmack. Und da Penn mit "Das Versprechen", seiner Adaption des deutschen Krimiklassikers "Es geschah am helllichten Tag" diese Elemente konsequent zu einem meisterlichen Film verband, wurde es Zeit für thematische und stilistische Veränderung.
Mit der Adaption des Buchs von Jon Krakauer, der das Leben und Sterben Christopher McCandless' während seiner Amerikareise Anfang der 1990er schildert, liegt diese Veränderung nun vor. Lange hat Penn um diesen Film gekämpft, über neun Jahre verhandelte er mit der McCandless-Familie, bis diese letztendlich ihr Einverständnis für den Film gab. Sicherlich verständlich, wenn man ihre nicht sonderlich schmeichelhafte Darstellung hier sieht, und schließlich sollte das Andenken McCandless' auch entsprechend bewahrt werden. Zumindest darum müssen sie sich keine Sorgen machen, denn Penn rückt McCandless in der Darstellung von Emile Hirsch in fast ausnehmend positives Licht.
Das einzige, was man diesem bemerkenswerten Film daher überhaupt vorwerfen kann, ist, dass er fast eine Heiligenbeschreibung McCandless' geworden ist, die so gut wie keine kritische Distanz zu ihrem Protagonisten einnimmt. Das teilt der Film übrigens mit der Vorlage, Jon Krakauers Buch, das ebenfalls McCandless' teilweise bizarres Verhalten romantisch verklärte. Aber dieser Einwand ist nur ein kleiner, schließlich gibt es ja auch noch den Zuschauer, der nicht alles unmündig hinnehmen muss. Besonders die Monologe Jenna Malones, die als seine Schwester über McCandless' "rigorosen Ehrenkodex" und andere Sichtweisen ihres Bruders spricht, sind sicherlich alles andere als sich jeglichen Widerspruch verbietender Gospel. Und zumindest in Momentaufnahmen blitzt auch Kritik durch, in der Figur der Jan, die selbst einen Sohn ans Vagabundenleben verloren hat und um den Egoismus weiß, den so ein Leben ohne Nachricht an die Hinterbliebenen mit sich bringt.
Und dann ist da als kleiner Ausgleich das unvermeidliche Ende des Films, in dem auch McCandless selbst seinen größten Fehler einsieht. Unfähig zu erkennen, dass seine spirituelle Reise ihren Höhepunkt schon erreicht hat, hat er sich in die Idee vom Leben nur mit und von der Erde in Alaska verstiegen, bemerkt dort aber, wie leer und unerfüllt dieses Leben letztlich ist. Der Weg ist das Ziel - die Wahrheit in dieser Weisheit erkennt er zu spät.
"Glück ist nur real, wenn man es mit jemandem teilt" sind die letzten Worte, die McCandless in seinem Notizbuch notiert, und der Film gibt starke Beweise dafür ab: Die Glücksmomente mit Jan und Rainey in deren Aussteigerkommune; das Zusammensein mit Ron Franz, der Adoptivvaterfigur; die harte Arbeit und der Arbeiterschnack nach Feierabend auf der Farm von Wayne - zu spät erkennt McCandless den Wert dieser Momente. Franz hatte er noch erklärt, Glück würde sich nicht in dem Kontakt mit Mitmenschen ausdrücken. Aber er liegt falsch - und bezahlt einen schrecklichen Preis dafür.
Aber es sind eben diese Momente des Miteinanders während der Reise von Chris McCandless, die mehr zählen als das tieftraurige, ohnmächtige, letztlich auch konsequente Ende, für das Emile Hirsch im Method acting-Stil diverse Kilos abnahm, um den ausgemergelten McCandless in seinem Hungertod entsprechend darzustellen. Kleine Glücksmomente, unscheinbar und doch unendlich wertvoll, die nicht nur McCandless in Erinnerung blieben, sondern auch dem Zuschauer in Erinnerung bleiben werden. Mindestens ebenso sehr wie die fantastischen Naturaufnahmen und die Leistung aller Schauspieler.
Storybedingt ist dies fast eine Einmannshow, die von Hirsch großartig gemeistert wird. Er zeigt in seiner Figur sowohl die enthusiastisch-charmanten Seiten, als auch die sturen, egoistischen, die ihn nicht vollends zum Sympathieträger machen. Man muss Chris McCandless weder vollständig verstehen noch sein Verhalten komplett gut heißen, um "Into the Wild" trotzdem begeistert bis zum bitteren Ende zu verfolgen. Und Hirsch leistet dazu eben auch seinen Teil, nach Talentproben wie "Der Club der Cäsaren" und "The Girl Next Door" zeigt er hier zum ersten Mal seine komplette dramatische Bandbreite, die noch auf große Taten in der Zukunft spekulieren lässt.
All dies wäre aber nichts ohne die exzellenten Leistungen der Nebendarsteller, ohne die dieser Film nicht annähernd so toll wäre. Ob Catherine Keener und der völlig unbekannte Brian Dierker als Hippiepaar, Vince Vaughn als Farmer, Kristen Stewart als Nachwuchssängerin oder Hal Holbrook als alter Witwer auf der Suche nach menschlichem Kontakt - alle spielen ihre Figuren so überzeugend, dass man hier fast vergisst, dass man durchaus bekannte Schauspieler vor sich hat, so real wirken diese Charaktere.
Die Szenen mit diesen Reisebekanntschaften bleiben auch am meisten im Gedächtnis: Die zärtliche Vertrautheit von Jan und Rainey, ihre Eigenwilligkeit und seine Beatnik-Gelassenheit. Farmer Wayne, dessen joviales Äußeres nicht ein gutes Maß an Lebenserfahrung übertönt und der McCandless vor seinem Alaskatraum warnt. Und dann Ron Franz, McCandless' letzte Station vor dem "Magic Bus" in Alaska. Wenn Franz Chris mit Tränen in den Augen um etwas Außergewöhnliches bittet, und Chris antwortet, sie würden nach seiner Rückkehr aus Alaska darüber sprechen, bricht es einem das Herz. Nicht nur, weil man weiß, dass McCandless nicht zurückkommen wird, sondern weil der Film hier die Bittersüße menschlicher Emotionen perfekt vereint.
Die Form - zahlreiche Naturaufnahmen, teilweise von atemberaubender Schönheit, gepaart mit einem Off-Kommentar von Chris' Schwester - erinnert natürlich an Terrence Malick ("Der schmale Grat"), aber die wohl beste Referenz ist David Lynchs "The Straight Story". Hier wie dort geht es um eine Reise durch Amerika, in deren Verlauf der Protagonist die unterschiedlichsten Menschen trifft. Und damit ist es auch eine Liebeserklärung an das Land und die Leute darin geworden, kongenial unterlegt mit der wunderbaren Musik von Pearl Jam-Sänger Eddie Vedder.
Sean Penn, der politische Aktivist, der Aufklärer und Aufrührer, gibt sich hier ganz der Geschichte, ihren Figuren und Stimmungen hin. Klar darf man seine Romantisierung eines Mannes, der eine Prüfung zum Mannwerden ablegt, in dem er abseits der Zivilisation harmonisch mit der Natur lebt, etwas einseitig finden. Zyniker könnten auch sagen: Das kommt davon, wenn man als naiver junger Amerikaner zuviel Henry David Thoreau liest. Aber der elementaren Wucht seiner Geschichte, ihrem Atem und ihrer Schönheit kann derlei durchaus berechtigte Kritik nichts anhaben. "Into the Wild" ist trotz allem eine überwältigende Erfahrung - und daher kann der Autor hier auch nichts anderes, als die Höchstnote zu vergeben.
"Into the Wild" ist ein Film, auf dessen Erzählstil und -tempo man sich zwar einlassen muss, der es einem aber leicht macht. Anders als etwa "Die Ermordung des Jesse James durch den Feigling Robert Ford", der mutwillig langsam, diffus und schwierig war, ist "Into the Wild" zwar ebenfalls lang, aber deutlich unterhaltsamer. Ersterer ist ein langer Film, bei dem man jede Minute spürt; hier hat man einen verhältnismäßig schnellen Zweieinhalbstundenfilm vor sich. Die Länge darf also keine Abschreckung sein. Es wäre auch zu schade, sich den Reichtum an Eindrücken, den "Into the Wild" erweckt, deswegen entgehen zu lassen. Denn er ist nicht nur qualitativ das erste Muss des Kinojahres, sondern auch einer der wenigen Fälle, wo man überzeugt sagen kann: Dieser Film ist ein Erlebnis. Und das sollte, ach was, das muss man erleben.
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