Once Upon a Time in Anatolia

Originaltitel
Bir Zamanlar Anadolu'da
Jahr
2011
Laufzeit
157 min
Genre
Release Date
Bewertung
9
9/10
von Margarete Prowe / 18. Januar 2012

„Once Upon a Time in Anatolia“ ist ein Meisterwerk, das Achtsamkeit lehrt. Auf 157 Minuten treibt das Publikum in einem Ozean grandioser Cinemascope-Aufnahmen, über dem nur ein Hauch von Handlung weht und in dem auch noch scheinbar unzusammenhängende Small-Talk-Fetzen schwimmen. Der türkische Auteur-Filmer Nuri Bilge Ceylan ist kein Freund simpler Erklärungen oder Holzhammerhinweise, sondern überlässt es dem Zuschauer, die über die epische Breite verstreuten Puzzleteilchen dieses überaus untypischen Kriminalfilms zusammenzusetzen. Dem Aufmerksamen bietet sich am Ende ein vielschichtiger Blick auf universelle Themen wie Tod und Verlust und auf die türkische Gesellschaft in Anatolien.

Eine Wagenkolonne fährt in der Dunkelheit durch die anatolische Steppe. Darin sitzen der Staatsanwalt, der Arzt, der Kriminalkommissar, sein Fahrer und einige Soldaten sowie ein Mörder und sein Bruder. Gesucht wird die Leiche, doch der Mörder kann sich nicht mehr erinnern, an welcher Stelle er sie vergraben hat. Endlos fährt die Gruppe durch scheinbar immer gleiche Hügel, unterhält sich über die Prostataprobleme des Staatsanwalts, die Vorzüge von Büffeljoghurt oder über eine zukünftige Mitgliedschaft der Türkei in der EU. Ein Ende der Suche scheint nicht in Sicht und die Männer werden immer müder, ungeduldiger und emotionaler.

„Once Upon a Time in Anatolia“ basiert auf einer wahren Geschichte von Co-Autor Ercan Kesal, der früher als Arzt bei einer solchen nächtlichen Leichensuche dabei war, die sich ewig hinzog und bei der sein Fahrer irgendwann tatsächlich sagte: „Eines Tages wirst du deinen Kindern davon erzählen können mit den Worten: 'Es war einmal in Anatolien...'“ Der Filmtitel bezieht sich laut Regisseur somit auch ursprünglich nicht auf Sergio Leones „Spiel mir das Lied vom Tod“ (auf Englisch „Once Upon a Time in the West“ beziehungsweise „C'era una volta il West“ im Original), sondern auf das Märchenhafte dieser Nacht, die außerhalb der Realität zu stehen scheint.

Eigentlich sollten Überlänge, Handlungsarmut, ewige Kamerafahrten, Small Talk und endlose Diktate für den Polizeibericht zu gähnender Langeweile führen, anstatt den Zuschauer so zu fesseln, dass er fasziniert und visuell beglückt noch lange danach über das Werk sinniert. Doch „Once Upon a Time in Anatolia“ ist der reifste und erzählerisch anspruchsvollste Film des schon als „türkischer Ingmar Bergman“ bezeichneten Nuri Bilge Ceylan und gewann in Cannes 2011 verdient den Großen Preis der Jury, der ebenfalls an „Der Junge mit dem Fahrrad“ (Luc und Jean-Pierre Dardenne) vergeben wurde. Ceylan wird dort immer wieder mit Preisen ausgezeichnet: Für seinen Film „Drei Affen“ (2008) gewann er in Cannes den Regiepreis, „Iklimler - Jahreszeiten“ (2006) wurde mit dem FIPRESCI Preis ausgezeichnet und "Uzak - Weit“ (2002) gewann wie „Once Upon a Time in Anatolia“ dort den Grand Prix.

Andere Kriminalfilme beginnen mit einer Leiche, deren Mörder anschließend gesucht wird. In „Once Upon a Time in Anatolia“ wird die Leiche sogar länger gesucht als andere Filme überhaupt lang sind. Den Charakteren geht es nicht so, dass sie immer mehr wissen wollen, je mehr sie erfahren, sondern genau andersherum: Je mehr sie erfahren desto weniger wollen sie eigentlich wissen. Den Film hindurch werden schmerzhafte Wahrheiten ans Licht gebracht, bis die Suche nach der Wahrheit zum Ende des Films so aufgeladen ist, dass sich die Frage stellt, ob es Menschen nicht doch besser geht, wenn sie die Märchen, die sie in ihrem Herzen bewahren, auch weiterhin behalten dürfen.

Vor der Kameraarbeit kann man sich nur verbeugen. Der Kameramann Gökhan Tiryaki, der auch schon bei „Drei Affen“ und „Ikimler – Jahreszeiten“ filmte, findet immer das perfekt gerahmte Bild. Regisseur Ceylan ist auch als Fotograf bekannt, was sein besonderes Verhältnis zu den Bildern erklärt. Die wunderbaren Establishing Shots über Steppe, Dorf oder Stadt sind perfekt komponiert und atmosphärisch wirksam. Auch die Nahaufnahmen einzelner Protagonisten, die schweigend frontal in die Kamera blicken, während sie oder andere als Stimme aus dem Off eine Geschichte erzählen, verstärken die Wirkung dieser besonderen Nacht. Die Bilder sind von geisterhaften starken Schatten geprägt in der Dunkelheit, durch die nur Autoscheinwerfer oder Kerzen strahlen, und alles badet in Gelb und Ocker. Statt eines Soundtracks verwendet Regisseur Ceylan nur die Geräusche der Umgebung. Hunde bellen, Blätter rascheln und über allem liegt der heulende Wind in der Dunkelheit.

Die Geschichte wird aus männlicher Sicht erzählt (schauspielerisch großartig umgesetzt), doch wird der große Einfluss der Frauen, die entweder abwesend sind oder anwesend, aber nicht sprechen, im Verlauf des Films immer deutlicher. Ein Witwer trauert um seine Frau, ein Geschiedener schaut sehnsüchtig auf ein gemeinsames Foto aus vergangenen Zeiten, die Ehefrau eines anderen ruft ihn mitten in der Steppe an. Visuell besonders einprägend präsentiert wird die schöne Tochter des Dorfvorstehers in der Gemeinde, in der der Suchtrupp auf einen Tee einkehrt. Beleuchtet von einer Kerze tritt sie aus der Dunkelheit vor all die Männer wie ein Geschöpf des Malers Jan Vermeer und ruft in ihnen unterschiedliche Emotionen hervor.

Das Verhältnis zwischen Mann und Frau besonders auch in der türkischen Gesellschaft wird in immer anderen Facetten gezeigt. Auch unter den Männern wechseln Perspektiven und Sympathien, und so ist nichts so einfach schwarz-weiß, wie es zuerst erscheint. Es mag sein, dass das Drehbuch auch deswegen hier so vielschichtig und nuanciert ist, da es nicht nur von Ceylan und dem ehemaligen Arzt Ercan Kesal geschrieben wurde, sondern auch von der Frau des Regisseurs, Ebru Ceylan, die zusätzlich zu ihrer Drehbucharbeit auch als Regisseurin, Produzentin und Schauspielerin in Kurz- und Langfilmen tätig war. In „Once Upon a Time in Anatolia“ wird nicht nur ein Kriminalfall gezeigt, sondern eine ganze Kultur. Die Suchenden werden wichtiger als die Suche. Die Auslassungen und das Schweigen zwischen den Sätzen erzählen die Geschichte genauso wie die Dinge, die sich jenseits des Kameraausschnitts abspielen – Mord, Betrug, Scheidung oder der Tod einer Mutter nach der Geburt.

So webt „Once Upon a Time in Anatolia“ einen reichen Teppich aus winzigen Details zu einer zeitlosen Geschichte menschlicher Sinnsuche im Angesicht des Todes, die sich erst durch genaues Hinsehen und Hinhören offenbart. Der Zuschauer, der sich darauf einlässt, wird erst nach 157 Minuten verstehen, wie sich alle Details zu einem Ganzen zusammengefügt haben, und ehrfürchtig staunen. Doch wer danach gefragt wird, was er gesehen hat, wird vermutlich nur sagen können: „Es fuhr eine Gruppe Menschen mit Polizeiwagen durch die anatolische Steppe und suchte eine Leiche.“

Bilder: Copyright

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