Der
Bandwurmtitel ist schon die erste Warnung: Hier ist ein Film, der
so lang ist wie sein Titel andeutet. Immerhin ist durch die Titelwahl
eines klar: Wenigstens muss man sich bei diesem Film nicht um mögliche
Spoiler sorgen. Um die Ermordung des Jesse James, ihren Hintergrund
und
ihre Nachwirkungen zu erzählen nimmt sich der australische
Regisseur Andrew Dominik gehörig Raum, Zeit und Muße.
Ergebnis ist dann ein sperriges Monster von Film, das geschlagene
zweieinhalb Stunden ohne eine wirkliche Actionszene oder ein klassisches
Duell verbringt.
Dominik hat einen zweifellos sehr seltsamen Film abgeliefert, eine
als Western verkleidete psychologische Studie der beiden im Titel
angesprochenen Männer, die sich kurz vor dem titelgebenden
Ereignis in eine fast unerträglich klaustrophobische Mischung
aus Paranoia, Hysterie und Suizidgedanken vermischt. Sagen wir das
mal so: Wer einen klassischen Western mit Guten und Bösen,
Duellen auf staubigen Hauptstraßen, Saloonprügeleien
usw. erwartet, der ist hier an der völlig falschen Adresse.
Dies sind eher Impressionen von Sigmund Freud im Amerika des späten
19. Jahrhunderts.
Völlig zurecht auch die Nennung beider Männer im Titel,
denn wer hier die große Jesse James-Show erwartet, ist ebenfalls
falsch dran. Wenn überhaupt ist dies Robert Fords, und damit
Casey Afflecks Film. Brad Pitt wurde für sein Porträt
des berühmten Outlaws in Venedig in Abwesenheit als bester
Darsteller ausgezeichnet, aber es wird Casey Afflecks weinerliches,
wunderliches Milchgesicht sein, das man nach dem Film im Gedächtnis
behält. Pitt gibt den von Depressionen geplagten und des falschen
Ruhms müden James ähnlich seiner Porträts in "12
Monkeys" und "Fight Club"
als launische Ansammlung von nervösen Ticks, plötzlichen
Gewaltausbrüchen und der manisch-dreckigen Pitt-Lache, die
noch jeden von der Verrücktheit ihres Trägers überzeugen
kann. Das wahre Wunder aber ist Casey Afflecks Porträt des
Bob Ford, das wie die Parodie eines pubertierenden Teenagers wirkt
und damit ja auch nicht falsch liegt, war Robert Ford zum Zeitpunkt
des Todesschusses ja gerade mal 20 Jahre alt.
Affleck moduliert den Groupie Ford in Anwesenheit seines Idols Jesse
James perfekt, alles nervöses Lächeln oder falsches Lachen,
ausweichende Blicke, Lippenbeißen und heimliches Studieren
des angebeteten Stars. "Du machst mich nervös" sagt
Frank James (der skandalös zu wenig eingesetzte Sam Shepard)
ganz am Anfang zu Robert Ford, und das Publikum wird ihm da zustimmen.
Ford ist ein Bündel offener Nervenenden und damit wie erhofft
seinem Idol James ganz ähnlich. Böswillig könnte
man sagen: Das Porträt zweier Freaks, von dem einer dann den
anderen erschießt.
Der Film, so sein Regisseur, sei mutwillig lang und langsam, um
eine Erfahrung zu sein, eine Erkundung Amerikas und dessen Psyche.
Lang, langsam und psychologisch ist der Film, und im Grunde ist
es anstatt eines wirklichen Plots das Psychoduell seiner zwei Hauptdarsteller,
das den Film trägt. Interessanteste Theorie des Films und des
zugrunde liegenden Romans von Ron Hansen ist sicherlich die Deutung,
dass ein depressiver Jesse James Selbstmordgedanken trug und sich
von Robert Ford mehr oder weniger bereitwillig exekutieren ließ.
Die entsprechende Sequenz im Film lässt zumindest relativ wenige
Zweifel.
Wenn dieser Film schon kein rechter Western im klassischen Sinne
ist, dann ist es zumindest eine höchst akkurate Studie von
Starverehrung und Stalkertum, in der der Stalker dann aus zu gleichen
Teilen enttäuschter,
nicht erwiderter Fanliebe und eigener Geltungssucht zur Waffe greift.
Und es geht um Mythenbildung und deren inhärente Falschheit.
Bei diesem Thema bietet sich ja kaum jemand besser an als Jesse
James, der nicht nur Dieb sondern kaltblütiger Killer, Rassist
und Soziopath war, in der amerikanischen Folklore aber als romantische
Robin Hood-Figur verklärt wird, der im Bürgerkrieg seine
Unschuld verlor und für die in eben jenem Krieg entrechteten
kleinen Leute des Südens einstand und es den verhassten Yankees
durch Bank- und Zugüberfälle heimzahlte. In einer kurzen
Szene des Films, in der Missouris Gouverneur Bob Ford rekrutiert,
wird dies thematisiert und das Bild zumindest ansatzweise korrigiert:
James ging es nie um eine politische Haltung, sondern um die eigene
Bereicherung.
Allerdings bleibt durch den zeitlichen Rahmen des Films, der die
Monate von Fords erstem Zusammentreffen mit den James-Brüdern
bis zur Ermordung James' nachzeichnet, dieser Hintergrund lückenhaft.
James war - von einem Zugüberfall abgesehen - quasi im Vorruhestand,
inkognito als Thomas Howard mit seiner Familie lebend. So blitzen
nur kurz James' mörderische Attribute auf und die Dekonstruktion
der Mythen wird nur per Erzählerstimme erklärt. Hier wäre
eine filmische Lösung wie ein paar Flashbacks vielleicht überzeugender
gewesen.
Die
Geburt des Films war keine einfache. Die Finanzierung stand nur
aufgrund Pitts Teilnahme, richtig schwierig wurde es aber erst nach
Abschluss der Dreharbeiten. Der ursprünglich geplante Start
für den Herbst 2006 wurde flugs gestrichen und um ein Jahr
nach hinten geschoben, da fast alle Beteiligten beim Zusammensetzen
des Puzzles, das Dominik mit seinem formidablen Kameramann Roger
Deakins entworfen hatte, in unterschiedliche Richtungen wollten.
Schneideraummarathons folgten, mindestens ein halbes Dutzend verschiedener
Schnittfassungen wurde probiert. Warner Brothers, wahrscheinlich
entsetzt ob der unkommerziellen Form des Materials, wollten die
wenigen gedrehten Actionszenen in den Vordergrund rücken, auch
Brad Pitt hatte eigene Ideen, wie der Film auszusehen habe, und
irgendwo mittendrin dann Regisseur Dominik, der es irgendwie allen
und auch noch sich selbst recht machen wollte und musste. Von der
ersten viereinhalbstündigen Schnittfassung heruntergekürzt
auf einen dreistündigen ‚director's cut', wurde auf Drängen
des Studios noch eine halbe Stunde herausgeschnitten. Ein überlanger,
langsamer revisionistischer Western, der im Schneideraum allen Beteiligten
Sorgenfalten bereitet - da war doch mal was?
Natürlich muss man hier unwillkürlich an Michael Ciminos
"Heaven's Gate" denken, jenen berühmt-berüchtigten
Antiwestern von 1979, der unfairerweise als der Film geführt
wird, der eigenhändig und höchstpersönlich das Kino
des New Hollywood zu Grabe trug, dabei aber bei allen unbestreitbaren
Schwächen und Fehlentscheidungen eine Schönheit und einen
cineastischen Atem hat, den man im heutigen Kino vergebens sucht.
Und zumindest an manchen Stellen erreicht auch "Die Ermordung
des Jesse James durch den Feigling Robert Ford" solche Momente.
Wenn beim Eisenbahnüberfall die vermummten Banditen auf den
Stopp des bremsenden Zugs warten und dabei wie verlorene Gespenster
im Funkenregen einer ungewollten Geisterbahn aussehen, das sind
dann solche Momente.
Und eines muss man diesem Film auch lassen: Wie "Heaven's Gate"
vertritt er die Suche nach Lyrik und Schönheit inmitten eines
detailverliebten Realismus. Dieser Realismus heißt hier, dass
Pistolenschüsse hohl und dumpf knallen (oder besser: puffen)
wie feuchte Feuerwerkskörper und dass der
einzige Schusswechsel ein absolutes Chaos ist, in dem sich die beiden
Kontrahenten aus nächster Nähe verfehlen. Denn die Mär
vom Duell der Meisterschützen, in dem man dem Gegner eine Kugel
genau zwischen die Augen verpasst, ist natürlich genauso falsch
wie die Groschenromane über Jesse James' Heldentaten: Man war
schon froh, den Gegner überhaupt zu treffen und ihn irgendwie
außer Gefecht zu setzen.
Aber zurück zu einem anderen Scharmützel, nämlich
dem im Schneideraum, denn natürlich steht die Frage im Raum,
ob bei allem Umstellen und Umschneiden denn nun auch ein flüssiger,
zusammenhängender Film herausgekommen ist, für denn man
sich zweieinhalb Stunden ins Kino setzen möchte? Ja und Nein.
Ja, weil der Film zwar lang und langsam, aber nicht langweilig ist.
Und nein, weil trotz allem nicht der erhoffte große Wurf bei
rausgekommen ist. Heimlich hatte man ja ob des ungewöhnlichen
Projekts und seiner Umsetzung auf ein Meisterwerk gehofft, einen
der letzten großen Western, der dem Genre noch einmal etwas
Entscheidendes hinzufügt. Aber dafür ist "Die Ermordung
des Jesse James" bei aller durchaus vorhandener Radikalität
denn doch nicht radikal genug.
Die Dekonstruktion der Figur Jesse James hätte ruhig noch etwas
drastischer ausfallen dürfen, um dem Projekt gerecht zu werden.
Und inmitten der ausufernden Laufzeit fehlt es doch ein wenig an
Höhepunkten. Hier wird belauert, gegrübelt, sich in Verbalduellen
abgeschätzt. Aber richtig viel passiert bis zur Mordtat trotzdem
nicht. Und während manche (und dazu ist auch der Rezensent
zu zählen) das gemächliche Tempo durchaus zu schätzen
wissen werden, wird dieser Film auf einen nicht geringen Teil des
Publikums schlicht langweilig wirken.
Daher
hier noch mal ausdrücklich: Wem Überlänge, Handlungsarmut,
bedeutungsvolle Pausen und psychologische statt körperliche
Aktion nicht zusagen, der sollte lieber auf das angeblich höchst
gelungene Remake des Klassikers "3:10 To Yuma" mit Russell
Crowe und Christian Bale warten. "Die Ermordung des Jesse James
durch den Feigling Robert Ford" bietet dagegen immerhin exzellente
Darsteller (auch Sam Rockwell als Bob Fords Bruder Charlie ist hier
hervorzuheben), tolle Kameraarbeit und einen schönen, elegischen
Score von Nick Cave und den "Bad Seeds" und "Grinderman"-Kollege
Warren Ellis, dessen Violine dominiert, während Cave dafür
als Saloonsänger auftreten darf, der einen verklärenden
Song über das Titelereignis zum Besten gibt.
Diese Szene, wie überhaupt die letzte halbe Stunde, gehören
denn auch zu den Höhepunkten des Films, der endlich bei seinen
Punkten zum Thema Starverehrung und Geschichts(um)schreibung angekommen
ist. Und während dies nicht zwangsläufig zu spät
kommt, wird nur der Geduldige hier belohnt. Wenn Ford für ein
piekfeines Publikum auf der Bühne wieder und wieder den Mord
nachstellt, erreicht "Die Ermordung des Jesse James durch den
Feigling Robert Ford" letztendlich die Prägnanz, die in
manchen vorhergehenden Szenen fehlte. Und nach dem herrlich ironischen
Ende fällt einem zu diesem langen, schwierigen, aber letztendlich
lohnenden Film schließlich nur das alte Motto der Grateful
Dead ein: What a strange long trip it has been.
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