Frederick Wiseman, Altmeister des amerikanischen Dokumentarfilms, feiert in seinem 38. Film das Ballett-Ensemble der Pariser Opera Garnier und liefert seinen ästhetisch wohl schönsten Film ab - aber leider nicht seinen besten. Ballettfans werden diesen Film lieben, den anderen bietet sich ein langer Blick auf tanzende Menschen und das Palais Garnier (das Haus des "Phantoms der Oper"), der zwar meditativ und visuell berückend ist, aber dafür wenig dramatische Höhepunkte bietet. Bekannt ist der mittlerweile 80-jährige Wiseman unter anderem als Vertreter des Anspruchs, dass man als Dokumentarfilmer wie eine Fliege an der Wand sein muss. Er gehört zur Richtung des "Direct Cinema", die in den 60ern entstand und postulierte, dass Dokumentarfilme nicht mehr durch Komposition des Bildes entstehen sollten (wie zum Beispiel im Genre-Klassiker "Nanuk, der Eskimo", in dem Robbenfangszenen gestellt wurden), sondern sich durch die Direktheit der Bilder auszeichnen. Kein künstliches Licht, keine Kommentare, keine Interviewfragen, ja, so wenig Eingreifen wie nur möglich war hier das Ziel. Von Europäern wird für diese Richtung häufig der Begriff "Cinema Verité" synonym verwendet, den Wiseman allerdings hasst, da er ihn zu französisch-aufgeblasen findet. Wie man seine Arbeitsweise auch nennt, bei beiden Richtungen werden zum Teil hunderte Stunden an Rohmaterial gedreht und anschließend wird das Werk im Schnitt aus ausgesuchten Ausschnitten dieses Wusts an Material zusammengesetzt. Mit seinen 158 Minuten ist "La Danse" somit eher kurz für seinen Regisseur, der immerhin für den Schnitt 13 Monate brauchte. Wunderschön ist das Ergebnis anzusehen, jedoch nicht immer leicht zu verstehen. Es ist Wiseman nicht genug, sich auf Szenen aus ein oder zwei Stücken zu beschränken, alle sieben Balletts in der von ihm begleiteten Spielzeit werden in Ausschnitten gezeigt, das Spektrum reicht vom Klassiker "Der Nussknacker" bis zu Mats Eks modernem Werk "Das Haus der Bernarda Alba". So unterscheidet es diesen Film von anderen Wiseman-Werken, dass hier Vorwissen eigentlich nötig ist, um den Genuss auch als solchen verstehen zu können. Wiseman empfindet dies wohl nicht so, er zeigt gleich in den ersten Minuten, wie die Direktorin für Tanz, Brigitte Lefèvre, in einem Telefonat sagt, es sei egal, ob das Publikum die Aufführung versteht, es müsse sie nur fühlen. Beeindruckend und von großer visueller Kraft ist dies allemal, besonders, da gleich zu Anfang gesagt wird, dass nicht einmal die großen Sponsoren bei den Proben dabei sein dürfen. Das Filmpublikum kann hier also für seine Kinokarte etwas erleben, was selbst den 25.000-Dollar-Spendern versagt bleibt. Es wird auch bei den Aufführungen kein Publikum gezeigt, so dass sich der Blick immer exklusiv anfühlt. Dabei sind die Kamerawinkel weit und man sieht die Tänzer in voller Größe, was sich überaus wohltuend von anderen Produktionen abhebt, wo die Bewegung über die Kamera erzeugt wird, so dass der Zuschauer nur einen sehr eingeschränkten Blick auf das Geschehen hat, während er einem Fuß oder Bein nachschauen muss, anstatt die ganze Ballerina sehen zu dürfen. Verklärung dieser Art ist normalerweise nicht Wisemans Sache, und so waren und sind seine Filme immer da am besten, wo sie auch die Spannungen innerhalb einer Institution wie einer Schule oder einem Krankenhaus beleuchten. Glücklicherweise widmet sich Wiseman in seinem nächsten Film einer Boxhalle ("Boxing Gym"), das klingt schon eher nach dramatischen Höhepunkten, die man bei dieser Ballett-Revue auf die Dauer doch ein wenig vermisst. Wer als Ballettfan nach diesem Film trotzdem noch nicht genug hat: 1995 drehte Wiseman einen Film über das American Ballet Theater ("Ballet"). Dieser ist sogar 170 Minuten lang. |
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