Dass hier etwas grundsätzlich nicht stimmt, wird schon nach einer knappen Minute klar: Anne (Isabelle Huppert) kommt mit ihrem Ehemann und zwei Kindern an ihrem beschaulichen Wochenendhaus auf dem Land an und findet dort eine andere Familie vor, panisch und bewaffnet. Annes Mann wird von den Eindringlingen erschossen, sie und die Kinder ihrer Vorräte beraubt und fortgejagt. Beim Vorsteher des nächsten Dorfes bittet sie vergeblich um Hilfe, denn offensichtlich sind die Menschen mit dem eigenen Überleben genug beschäftigt. Ohne Zuflucht und Fortbewegungsmittel streifen Anne und ihre Kinder nun durchs Land, auf der Suche nach den Grundbedürfnissen des Menschen - Nahrung, Wärme und ein Dach über dem Kopf.
Es dauert eine Zeit, bis beim Zuschauer die Erkenntnis einrastet, dass Michael Haneke, österreichischer Chef-Provokateur der europäischen Cineasten-Szene, sich hier an einem postapokalyptischen Szenario versucht, was vor allem daran liegt, dass der Regisseur und Autor standhaft jeden konkreten Hinweis darauf verweigert, was zum Zusammenbruch der organisierten Zivilisation, der Flucht der Stadtbevölkerung aufs Land und dem Kampf der Menschen ums nackte Überleben geführt hat. Eine etwas gewöhnungsbedürftige Herangehensweise, aber von Haneke ist man kaum etwas anderes gewöhnt: Erste Aufmerksamkeit provozierte er 1992 mit seinem Film "Benny's Video", ein Werk über einen vermeintlich durchschnittlichen Jugendlichen, der eine Schulfreundin mit einem Bolzenschussgerät, das gewöhnlich zur Tötung von Kühen verwendet wird, erschießt und die Tat mit seiner Kamera aufzeichnet. Noch krasser fiel "Funny Games" aus, ein markerschütternder Gegenentwurf zur Ästhetisierung sinnloser Gewalt im Kino, in dem Haneke sein Publikum bis zur Schmerzgrenze und weit darüber hinaus trieb. Vor zwei Jahren kam "Die Klavierspielerin", ein extremes Portrait einer zwischen sexueller Repression und Perversion taumelnden Frau, das bei den Filmfestspielen in Cannes gleich mehrfach ausgezeichnet wurde. Haneke ist bekannt dafür, sein Publikum zu spalten, aber zumindest hält er es stets hochaufmerksam auf der Kante des Kinosessels. Naja, vielleicht doch nicht immer.
Dass mit diesem Film etwas grundsätzlich nicht stimmt, dieser Verdacht schleicht sich nach gut 40 Minuten auf die Leinwand, verhärtet sich innerhalb der nächsten Viertelstunde und bewegt sich bis zum Schluss genauso wenig von der Stelle wie Anne und ihre Kinder, nachdem sie sich einer Zweckgemeinschaft in einem verlassenen Bahnhof angeschlossen haben. Bevor es soweit ist, weiß Haneke seinen Film zumindest stilistisch interessant zu halten: In der ersten halben Stunde gibt es sozusagen keine brauchbaren Lichtquellen auf der Leinwand, beizeiten ist das Bild nur von einem Bündel brennendem Stroh, manchmal sogar noch weniger, beleuchtet. Ein Experiment in der Inszenierung von Dunkelheit, eine Aufschichtung von schwarz und grau, bis auch der letzte kapiert hat, dass die Stimmung hier bitte sehr als … äh … finster zu interpretieren ist.
Verständlich, wenn hier offensichtlich in der einen oder anderen Form das Ende der Welt droht. Die große, altbekannte Frage "Was will uns der Künstler damit sagen?" bleibt hier allerdings konsequent unbeantwortet, und irgendwie hat man das Gefühl, dass Haneke es selber nicht weiß. Laut eigenem Statement aus dem Presseheft verzichtete er bewusst auf eine klare Erklärung zur Katastrophe, weil er in einem Endzeit-Szenario nicht die Ursache, sondern die Wirkung faszinierend findet, das veränderte Miteinander der Menschen in einer Extremsituation. In der Tat erhascht man für eine kurze Zeit ein paar Züge dieser größeren Thematik nach der Ankunft von Annes Familie in besagtem Bahnhof. Während man dort auf einen (womöglich niemals kommenden) Zug wartet, der sie wohin auch immer, aber anscheinend in Sicherheit bringen wird, versucht die kleine Gemeinschaft Basiswerte wie Anstand, Moral und Recht aufrecht zu halten - ein Versuch, der durch einen gewissen Koslowski untergraben wird, der in Besitz einer Waffe und guter Schwarzmarkt-Kontakte ist, und so problemlos die Macht auf sich konzentriert.
In diesem noch halbwegs überschaubaren Szenario reißt Haneke etwa ein halbes Dutzend weiterer Subplots an, die ordentlich durcheinander geraten, als aus dem Nirgendwo eine weitere, noch größere Gruppe Strandender auftaucht und sich der Bahnhofs-Kommune anschließt. Das führt zu einem weiteren Sammelsurium an Personenkonstellationen, beendet gleichzeitig kommentarlos vorherige Strukturen (Koslowski zum Beispiel ist fortan quasi nicht mehr zu sehen), und steigert die Orientierungslosigkeit und den Unmut des Zuschauers ins Maßlose.
Ohne jeden Ansatz einer ordnenden Hand serviert Haneke zunehmend zusammenhanglose Fragmente, reißt hier mal thematisch Rassismus und Vorurteile an, wirft ohne jede Vorwarnung (und dementsprechend ohne dramatische Wirkung) einen Selbstmord in die Runde, um die Hoffnungslosigkeit der Menschen zu unterstreichen, und ist sich auch nicht zu schade, seine Besetzung ein paar Sätze über eine Gruppe mystischer Beschützer labern zu lassen, die durch die eigene Verbrennung die Menschheit vor dem Ende schützen würden. Was auch nicht mehr als eine Entschuldigung für den ansonsten völlig unmotiviert daherkommenden Schluss zu sein scheint, dem es indes auch nicht gelingt, der dramaturgisch ohnehin schon komplett kollabierten Geschichte irgendeine Art von signifikanter Aussage zu verpassen.
Feuilleton-Fetischisten mit ausgeprägtem Arthouse-Faible werden es auch in diesem Falle sicherlich schaffen, dem großen Künstler erschütternde Aussagen und gesellschaftliche Kommentare zu unterstellen, über die es sich tiefgehend nachzugrübeln lohnt. Diese sind aber, wenn überhaupt vorhanden, unter einer dermaßen erdrückenden Masse an drögem, endlos zähen Zelluloid-Kaugummi versteckt, dass das Ausgraben die Mühe schlichtweg nicht wert ist. Michael Hanekes Filme waren noch nie ein Vergnügen der konventionellen Art, aber ein Werk, dass einem beinahe den Magen umdreht, ist immerhin kein Film, in dem man nach 40 Minuten getrost einschlafen kann, und trotzdem nichts mehr verpasst. Ob "Wolfzeit" nun prätentiöses Kunstkino oder einfach grauenhaft misslungenes Großprojekt ist, interessiert jedenfalls schon lange vor dem Abspann niemanden mehr.
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