Jana Hensels Debütroman "Zonenkinder" wird momentan wie eine Art Bibel der Erinnerung und Neubesinnung herumgereicht. Die Wendegeneration, damals zwölf bis fünfzehn Jahre alt und im Verschwinden eines Landes entstanden, gibt das Buch wie heiße Ware an ihre anderen Ost- und Westfreunde weiter. Da stehen wichtige, kleine Dinge drin, die fast alle schon vergessen hatten, die einige noch gar nicht wussten und sehr viele nie mehr erfahren werden.
Dieser Tage tummeln sich auf dem Potsdamer Platz, direkt neben dem Ex-Niemandsland der Ex-DDR, zum 53. Mal tausende von Besuchern auf den Berliner Filmfestspielen. Ein perfekter Ort und mit der Festivalsparte ‚Perspektive Deutsches Kino' ein ideales Forum, um dem Publikum zu beweisen, dass Deutsches Kino doch kein Ödland mit gelegentlich herüberziehenden Schauern ist.
In eben diesem Umfeld präsentierte Regisseur Wolfgang Becker ("Das Leben ist eine Baustelle") seinen neuen Film: "Good Bye, Lenin!" - eine hinreißende und bewegende gesamtdeutsche Dramödie, gespickt mit gekonnt platzierten Dokuschnipseln. Regisseur Becker, und allen voran Drehbuchautor Bernd Lichtenberg, ist es zusammen mit einem exquisiten Ost/West-Schauspielerensemble gelungen, auf eine etwas eigenwillige, wunderschöne Art eine Geschichte über die deutsche Geschichte zu erzählen: Nicht als zynische Parodie auf die Vergangenheit, sondern mit dem großen Humor, der auch über sich selbst lachen kann. Nicht als Abgesang auf verlorene Zeiten, sondern mit viel Charme und Herz für die Menschen unter uns.
So wie die Kerners, eine nicht ganz alltägliche Familie in Ostberlin, Herbst 1989. Die Postkartenidylle des real existierenden Sozialismus bröckelt. Zwischen den aufgeputschten Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR und den großen Demonstrationen für Reformen, auf denen tausende Ost-Berliner "Wir bleiben hier!" oder "Gorbi, hilf uns!" rufen, beginnt sich die deutsche Welt zu wenden und verändert sich gleichzeitig das Leben der Kleinfamilie Kerner.
Alex Kerner (Daniel Brühl) ist gerade 21 und somit nach eigener Ansicht auf dem Höhepunkt seiner männlichen Ausstrahlungskraft. Das wäre an Aufregendem dann aber auch schon alles. Auf einer Demo läuft er nicht gerade aus politischem Eifer oder Interesse sondern eher aus Langeweile mit. Seine Mutter Christiane (Katrin Saß) hatte elf Jahre zuvor von Mitarbeitern der Staatssicherheit erfahren, dass ihr Mann bei einer Dienstreise in Westberlin geblieben ist. Für eine andere Frau habe er Republikflucht begangen und werde nie mehr zurückkehren. Nach der schweren Verdauung dieses Schocks war Christiane fortan mit dem sozialistischen Vaterland verheiratet und wurde eine leidenschaftliche Aktivistin gegen die kleinen Ungerechtigkeiten des DDR-Alltags.
Nun, am 40. Jahrestag der DDR, soll Alex' Mutter für ihren unermüdlichen Kampf für die sozialistische Sache sogar ausgezeichnet werden. Gerade auf dem Weg zum Palast der Republik platzt sie in die gewaltsame Auflösung einer Demonstration und wird Zeuge, wie ihr Sohn verhaftet wird. Den Schock steht ihr Herz nicht durch, und nach einem Infarkt fällt Christiane ins Koma.
Den Fall der Mauer, die Wende und die ersten freien Wahlen in der DDR verschläft' sie auf der Intensivstation eines Berliner Krankenhauses. Für alle überraschend erwacht Christiane im Sommer 1990, kurz vor der Fußballweltmeisterschaft, wenige Monate vor dem Tag der deutschen Einheit. Die behandelnden Ärzte warnen Alex und seine Schwester Ariane (Maria Simon), dass jede größere Aufregung eine extreme Gefahr für das Leben seiner Mutter bedeutet.
Aber, wie soll Alex seiner Mutter erklären, dass es die Welt da draußen wie sie sie kannte nicht mehr gibt? Deutschland ist bald wiedervereinigt - freie Marktwirtschaft, hartes Unternehmertum, Spekulanten und die D-Mark fluten in die ehemalige Deutsche Demokratische Republik. Alex hat seine Anstellung bei der abgewickelten PGH Fernsehreparatur verloren und verkauft jetzt, zusammen mit seinem Kumpel Denis (Florian Lukas), für ein Westberliner Unternehmen Satellitenschüsseln an den Osten. Ariane hat ihr Studium der Wirtschaftswissenschaft geschmissen und arbeitet jetzt bei Burger-King Drive In. Nichts ist mehr so, wie es war.
Aus Angst vor einem neuen Herzinfarkt beschließt Alex, seiner Mutter vorzuspielen, dass die DDR noch existiert. Die gemeinsame 79m² große Plattenbau-Wohnung wird der Ort ihrer schnellen Erholung und einer aussichtslosen Inszenierung von ‚Alltag-DDR'. Komplikationen sind unvermeidbar: Was tun, wenn es ihre geliebten Spreewaldgurken und andere DDR-Produkte in dem neuen EDEKA um die Ecke einfach nicht mehr zu kaufen gibt? Wenn sie plötzlich die Nachrichtensendung "Aktuelle Kamera" sehen will? Oder von ihrem Bett aus, auf der gegenüberliegenden Hochhauswand, das erste Coca-Cola-Plakat entdeckt? Während sich Alex einerseits voller Neugier in die neue Zeit stürzen will, konserviert er andererseits zu Hause die alte Welt seiner Kindheit. Je länger Alex versucht das Spiel aufrecht zu erhalten, desto stärker spürt er den Widerspruch zwischen seinem Rückzug in die künstliche DDR-Idylle und einer neuen Wirklichkeit, die er seiner Mutter aber vor allem sich selbst nicht länger vorenthalten kann.
Diese Geschichte lebt von den überraschenden Wendungen und abstrusen Bluffs mit der Historie, mit denen uns Drehbuchautor Bernd Lichtenberg und Co-Autor Wolfgang Becker immer wieder verzaubern. Zurecht erhielt "Good Bye, Lenin!" bereits den Deutschen Drehbuchpreis. Obendrein ist es gut recherchiertes Kino: Zu keinem Zeitpunkt hat der Zuschauer das Gefühl, lediglich in einem ausstattungs-überfrachteten DDR-Nostalgiestreifen zu sitzen (wie bei "Sonnenallee"). Die Geschichte der Kerners wird sowohl in Story als auch visuell immer in einem ausgewogenen Verhältnis zwischen realistischem Ton, Humor und Dramatik erzählt.
Vielleicht schafft es in diesem Jahr wieder ein deutscher Beitrag, sowohl die kritische Berlinalejury als auch das anspruchsvolle internationale Publikum zu überzeugen. Dieser deutsch-deutsche Film über das Abschiednehmen bringt zumindest alles mit, um von seinen Zuschauern geliebt zu werden: Eine unwiderstehliche, kuriose Handlung und uneingeschränkt großartige Haupt- und Nebendarsteller. Allen voran der junge Daniel Brühl ("Das weiße Rauschen", "Nichts Bereuen"), dem in seinem Spiel absolut glaubhaft (als gebürtiger Kölner!) und ergreifend der Spagat Gefühlschaos-Wende gelungen ist - Orientierungslosigkeit und Zukunftsängste treffen auf Abenteuerlust, große Erwartungen und neue Ziele.
Ein kleiner unkonventioneller Snack-Tipp für alle kommenden Zuschauer: Die herzhaften Spreewälder Gurken machen sich ganz hervorragend zum nebenbei Verzehren während der "Good Bye, Lenin!"-Vorstellung. Das ist geräuschärmer als Chips aus der Tüte und stärkt obendrein den Ostdeutschen Markt. Also, Guten Appetit und viel Vergnügen im Kino bei einem deutschen Film, der sich wirklich jedes Lob, jeden Preis und jeden Publikumserfolg verdient hat. Der ultimative Beitrag zur Wiedervereinigung, der außerdem beweist, dass das deutsche Kino noch lange nicht tot ist, solange sich mit der deutschen Geschichte so tolle Geschichten erzählen lassen.
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