Eine Stadt irgendwo in Belgien. In Zeiten der Wirtschaftskrise wird auch auf Schwächere keine Rücksicht genommen, wie Sandra (Marion Cotillard) feststellen muss: Aus der Krankheitspause nach einer Depression kommend, muss sie erfahren, dass ihr Posten ersatzlos gestrichen werden soll. Ihre Mitarbeiter in einer kleinen Firma für Solartechnik haben abgestimmt: Entweder es gibt dieses Jahr eine Prämie für die Mitarbeiter oder Sandra kann ihren Job behalten. Für beides ist (angeblich) kein Geld da. Und da sich die Arbeit offenbar auch mit einer Person weniger bewerkstelligen lässt, haben die Mitarbeiter gegen sie gestimmt. Zusammen mit ihrer Kollegin Juliette (Catherine Salée) kann Sandra den Chef überzeugen, die Wahl wiederholen zu lassen. Aber es ist Feierabend am Freitag Nachmittag und die Wahl soll Montag morgen noch vor Arbeitsbeginn abgehalten werden. Also bleiben Sandra mit der Unterstützung ihres Mannes Manu (Dardenne-Brüder-Veteran Fabrizio Rongione) nur zwei Tage und eine Nacht um ihre Kollegen nach und nach abzuklappern und sie zu bitten, ihre Meinung zu ändern...
Das ist doch mal eine willkommene Abwechslung vom Galaxis-Retten der Sommersaison: Dramatisch hoch sind die Einsätze hier also nur im direkt auf die Personen zugeschnittenen Vergleich. Aber, und hier zeigt sich die Klasse der Dardenne-Brüder, sie lassen einen nicht vergessen, wie sehr diese vermeintlich kleine Geschichte für ihre Protagonisten zum lebenserschütternden Drama wird, so auch in einer Sequenz nach etwa der Hälfte des Films, die dem Zuschauer einen Schlag in die Magengrube verpasst, dabei jedoch wie der Rest des Films völlig unaufgeregt und stoisch realistisch abgefilmt wird. Beides sind ja mittlerweile bekannte Dardenne-Merkmale, die sie am Besten im Cannes-Gewinner „Das Kind“ zusammenbrachten.
Überhaupt kann und darf man sich auf diesen Film eigentlich nur einlassen, wenn man das Kino der Dardennes kennt und mag, ansonsten wird man sich hier vermutlich zu Tode langweilen. Andererseits: Bei der obigen Inhaltsangabe ist ein Übermaß an Actionfans ja eh nicht zu erwarten. Was die Dardennes neben dem Realismus und dem Hang zur kleinen Geschichte weiterhin auszeichnet, sind die kleinen Gesten und Momente, von denen auch hier wieder viele gelingen, und zwar ohne das in Hollywood ja oftmals nicht abzuwendende Gefühl des Zuschauers, der Regisseur (oder hier: die Regisseure) habe diese nur durch geschickte Manipulation erreicht.
Ein Beispiel für das subtile Vorgehen der Dardennes: In zwei Szenen zeigen sie eine mit Musik aus dem Autoradio untermalte Autofahrt von Sandra und ihrem Mann. In der ersten läuft mit der französischen Version von „Needles and Pins“, „La Nuit N'en Finit Plus“ (von Petula „Downtown“ Clark!) ein trauriger Song, den ihr Mann abschalten will, um seine Frau in positiver Stimmung zu halten. „Ich mag dieses Lied“ sagt Sandra und signalisiert: „Ich bin stark genug, ein deprimierender Song wirft mich nicht um“. Und so drehen sie das Radio lauter. Gespiegelt wird diese Szene in der zweiten Hälfte des Films. Zusammen mit der Kollegin Anne (Cristelle Cornil) fahren sie durch die anbrechende Nacht. „Ich mag Rock'n'Roll“ sagt Sandra und ihre Kollegin sagt „ich auch“. Und dann wird das Radio lauter gedreht und alle drei grölen den Refrain von Thems „Gloria“ aus voller Kehle mit. Lebensfreude, hier bin ich. Was andere Regisseure mit musikunterlegter Montage und anderen (Manipulations-)Stilmitteln gezeigt hätten, bleibt konsequent im zurückgenommenen Stil der Dardennes und wirkt dadurch umso stärker.
Während sich zumindest die franko-belgischen Stars mittlerweile darum reißen, einmal mit den Gebrüdern Dardenne zu drehen, müssen diese ja aufpassen, dass ihre realistischen Kleinode nicht von Stars mit Wunsch nach Indie-Chic gekidnappt werden. Hier ist das dankenswerter Weise nicht passiert, obwohl Hauptdarstellerin Marion Cotillard ja mittlerweile durchaus als glamouröser Star durch geht, erst Recht seit ihrer Hochzeit mit Guillaume Carnet und Rollen in Christopher Nolans letzten Filmen. Aber Cotillard spielt hier wunderbar zurückgenommen und auch wenn sie es nicht immer schafft, davon abzulenken, dass es sich um Schauspiel handelt – so wie es die Laiendarsteller der frühen Dardenne-Filme quasi notgedrungen machten – so bleibt ihre Leistung hier bemerkenswert. Das stille Leiden einer fragilen Depressiven hätten viele mit ordentlich Firlefanz und großer Geste aufgetakelt und dadurch abgewrackt, Cotillard spielt das dagegen genau richtig hier.
„Zwei Tage, eine Nacht“ ist ein wirklich bemerkenswertes Drama geworden, eine Destillation von menschlichem Dilemma in ihrer kleinsten und gleichzeitig größten Form. Die Dramatik verbirgt sich in banalen Dialogen und verdeckt doch nie, dass es hier für Sandra quasi um Leben und Tod geht. Dennoch entwickelt der Film nicht ganz die enorme emotionale Wucht von „Das Kind“ und auch nicht ganz dessen Klasse, reiht sich aber problemlos in die bemerkenswert qualitätsstringente Filmografie der Dardenne-Brüder ein. Und ist zweifellos einer der besten Filme des Kinoherbstes.
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