L.A. Apocalypse Now or How I Learned To Stop Worrying and Love The Bomb
Dass man es hier mit einem Film zu tun hat, der nicht wie jeder andere ist, ist spätestens beim Vorspann klar. Der läuft nämlich einfach rückwärts ab. Und so ist dem Zuschauer der erste Hinweis schon gegeben: Hier stimmt etwas nicht. Dies ist nicht nur ein weiterer Film Noir über einen Detektiv (Ralph Meeker als Mike Hammer), der nach der Zufallsbegegnung mit einer später ermordeten Frau (Cloris Leachman in ihrem Leinwanddebüt) in einen Kriminalfall verstrickt wird. Auch die Geschichte selbst um die mörderische Jagd nach einem mysteriösen Gegenstand, dem ‚great whatsit', hinter dem unter anderem eine mysteriöse Femme Fatale (erster und einziger Kinoauftritt: Gaby Rogers), ein Gangsterboss (Paul Stewart) und eben Detektiv Hammer unter stetiger Mithilfe seiner Sekretärin Velda (Maxine Cooper) und seines Kumpels Nick (Nick Dennis) her sind, ist nicht einmal das wichtigste. "Rattennest" ist ein Alptraum in Schwarz-Weiß, hauptsächlich Schwarz. Düsterer als hier ist der Film Noir nie gewesen. "Rattennest" ist ein nicht lösbares Detektivpuzzle, bei dem der Weg das Ziel ist. "Rattennest" ist politische Allegorie, Kalter Krieg-Science Fiction-Parabel und herber Gewaltfilm. "Rattennest" ist der wohl unbekannteste unter den wirklich einflussreichen Filmen in Hollywoods Filmgeschichte. "Rattennest" ist ein Meisterwerk.
Die von der Zensur zerschnippelte und dreist umsynchronisierte deutsche Fassung mag eine ziemliche Ruine sein, der evokative deutsche Titel passt trotzdem perfekt. Der Film ist ein einziges Rattennest, denn alle die hier herumlaufen sind Ratten: skrupellos, heimtückisch, auf den eigenen Vorteil bedacht. Auch Mike Hammer gehört dazu. Der amerikanische Antiheld startet nicht mit John Waynes eisenhartem Ethan Edwards in "The Searchers" ("Der schwarze Falke") von 1956, er startet hier. Hammer trägt als Privatdetektiv nichts mehr von der Romantik und Mystik dieses Archetypus, er ist ein unsympathischer Kleingauner auf der Suche nach dem großen Coup wie jeder andere um ihn herum auch. Sein Geld verdient er durch Zuhälterei und Erpressung, seine "Kiss Kiss Bang Bang"-Taktiken funktionieren kaum noch. Sicher, er küsst die Mädchen, aber lässt sie sexuell frustriert zurück - so sehr, dass manch Kritiker in Hammers Freundschaft mit Automechaniker Nick eine homosexuelle Beziehung sah. Auf die Femme Fatale des Films fällt er herein wie ein Idiot. Er darf den bösen Buben Saures geben - kriegt aber genau so oft von ihnen gehörig auf die Mütze. Von der ständigen Kontrolle und Autorität eines Humphrey Bogart als Sam Spade ("Die Spur des Falken") oder Philip Marlowe ("Tote schlafen fest") ist dieser Mike Hammer so weit entfernt wie sein Darsteller Ralph Meeker von Bogies überlebensgroßen Posen.
Meeker war einer der ersten von Hollywoods method actors, und sein Porträt des Mike Hammer bleibt gerade aufgrund der Realitätsnähe im Gedächtnis: Sein ständig durch gieriges Grinsen verzogenes, jungenhaftes Gesicht, die in seinen Zügen plötzlich aufblitzende Brutalität, die angestrengte Miene, wenn er statt Prügeln tatsächlich mal nachdenken muss. Anders als fast sämtliche Detektive vor ihm ist er kein helles Köpfchen, seine Methode ist raue Gewalt. Er ist zutiefst korrupt und erwartet, dass alle anderen es auch sind. Wer sich nicht kaufen lassen will und ihm trotzdem nicht aushilft, bekommt ein paar aufs Maul. Auch Folter ist er nicht abgeneigt, hat sogar Spaß daran. "What's in it for me?" ("Was springt für mich dabei raus?") ist sein ständiger Leitsatz, der einzig sein Handeln bestimmt. Sein Geld verdient Hammer hauptsächlich durch Erpressung und das Zwingen seiner ihm treu ergebenen Sekretärin Velda in die Prostitution.
Damit unterscheidet er sich auch von der literarischen Vorlage von Mickey Spillane, in dessen gewaltpornographischen Werken (die absoluten Megaseller in den 1950er Jahren) Hammers Brutalität, Rechtskonservativität und Vigilantentum noch dumpf abgefeiert wurden. Auf der Leinwand hat er nichts mehr Ehrenwertes, wirkt auch im Vergleich zum unverletzbaren und immer cool bleibenden Killer der Vorlage fast lächerlich, verletzlich, allen Figuren hier immer einen Schritt hinterher. Mit fast schadenfroher Schärfe lassen Drehbuchautor A.I. Bezzerides und Regisseur Robert Aldrich ihn in sein eigenes Verderben (und das der gesamten Stadt) laufen. Das explosive Finale überlebt Hammer um Haaresbreite - laut Aldrich aber nur, um zu sehen, was er angerichtet hat.
Jenseits inhaltlicher Revidierung von Heldenmustern und subversiven Sticheleien gegen die vorherrschende "Der Zweck heiligt die Mittel"-Logik der McCarthy-Ära ist es natürlich auch der Stil, der "Rattennest" zum unbestreitbaren Klassiker und wohl unbekanntesten der wirklichen amerikanischen Meisterwerke macht. Das Spiel mit Licht und Schatten, Perspektiven und Bauten hatte ja der Urvater aller stilistischen Filmextravaganzen, "Citizen Kane", vorgegeben. Aber was Aldrich und sein Kameramann Ernest Laszlo hier mit der Vorgabe veranstalten, übertrifft fast noch die etwas statische Form von Orson Welles' historischem Vorgänger. Mit außergewöhnlichen, ungewöhnlichen, ja unmöglichen Perspektiven verlassen sie das pur Abbildende des Mediums Film und erhöhen es - wie das nur die großen tun - ins Interpretierende.
Da werden etwa Raum und Zeit ständig außer Kraft gesetzt, wenn ein Kleingangster eine Treppe heruntergeworfen wird stürzt er durch Kameramanipulation scheinbar nach oben, oder der Zuschauer findet sich in der Perspektive eines Autos wieder, und zwar just in dem Moment, in dem es einen Menschen unter sich zerquetscht. Dazu kommt ein mutwillig asynchroner Soundtrack, der die Momente des Films, welche die Realitätsebene längst verlassen haben, noch zusätzlich unterstreicht.
"Rattennest" ist purer Alptraum, die Chronik einer Zivilisation kurz vor dem Ende. Kunst und Schönheit gilt nichts mehr, jeder will nur noch den schnellen Reibach machen, bevor die große H-Bombe alles beendet. Der Originaltitel "Kiss Me Deadly" ist (nicht nur dort) passend, denn die dargestellte Welt ist eine Welt verstrickt in ihre letzte Liebesaffäre mit dem Tod. Natürlich ist die Bombe nicht explodiert und die erzählerische Zuspitzung auf die Nuklearbedrohung verankert den Film massiv in der atomaren Paranoia der 50er Jahre. Aber der grenzenlose Kulturpessimismus und die Faszination dieser taumelnden Gesellschaft, konterkariert von der schönen neuen Welt der Baby Boomer mit ihren schicken Art Deco-Apartments und neuen technologischen Maschinen, ist zeitlos.
Auch ein halbes Jahrhundert später hat der Film nichts von seiner morbiden Faszination oder seinem Schrecken verloren. Hier gibt es immer noch Szenen, die mächtig hinlangen. Die Folter der unglückseligen Christina am Anfang etwa. Zu sehen ist eigentlich nichts, nur ein paar nackte Beine, die ins Bild baumeln. Mehr ging auch aufgrund der Zensur nicht, vor allem aber kommt hier das Motto zum tragen, dass Ungezeigtes viel unheimlicher ist als alles, was man konkret ins Bild rückt. Die Gewalt spielt sich im Kopf des Zuschauers ab, alles muss viel schlimmer sein als es die Kamera zeigen könnte (oder dürfte), das ist klar vom markerschütternden Schreien. Dann hören die Beine auf zu strampeln, aber das Schreien geht weiter - völlig irrationalerweise und unerklärbar. Dieses als simplen filmischen Fehler abzutun wäre falsch: Obwohl "Rattennest" als B-Film mit begrenztem Budget und Drehplan ausgestattet war, saß mit Aldrich kein Neuling oder Amateur hinter der Kamera. Dies ist nur eine der vielen Szenen, die auf reiner Inhaltsebene keinen Sinn machen, aber genau dadurch den Zuschauer verstören und sich ins Unterbewusstsein graben.
"Rattennest" mag den Filmen, die endgültig mit der romantischen Figur des Leinwandschnüfflers aufräumten, gute 20 Jahre voraus gewesen sein, aber seine Saat wurde von diesen Filmen in den 1970er Jahren vorbildlich zur Ernte gebracht: Ob Jack Nicholsons J.J. Gittes im anderen Meisterwerk des Subgenres, Roman Polanskis "Chinatown" (1974), Gene Hackmans planloser Harry Moseby in Arthur Penns "Die heiße Spur" ("Night Moves", 1976) oder gar die von Robert Altman typisch satirisch überzeichnete Version von Chandler's Philip Marlowe, dargestellt von Elloit Gould, in "Der Tod kennt keine Wiederkehr" ("The Long Goodbye", 1973) - sie alle sind Ziehsöhne von Meekers Mike Hammer. Gleichzeitig war "Rattennest" auch der (fast) letzte Film der sogenannten schwarzen Serie, des Film Noir während seiner historischen Grund- und Hochphase. Danach kam nur noch Orson Welles' "Im Zeichen des Bösen" ("Touch of Evil", 1958), der sich ebenso wie "Rattennest" mit seinen überzogenen Stilmitteln wie gleichzeitiger Höhepunkt und Abgesang auf Themen, Motive und Stil des Film Noir ausnimmt.
Die Einflüsse dieser bitterbösen Parabel aus den Zeiten des Kalten Krieges auf die Filmgeschichte reichen aber weit über das ursprüngliche Genre hinaus. Die radikale Erzählform des in Frankreich von den jungen Chabrol und Truffaut wie ein Zelluloidgott verehrten Aldrich inspirierte sie zu ihren eigenen Brüchen filmischer Konventionen in den Filmen der Nouvelle Vague. Das von allen gejagte ‚great whatsit', welches das Zentrum der Geschichte bildet, wurde gerade von der Generation von nichtakademischen Popkultur-Regisseuren besonders gern aufgenommen, etwa von Alec Cox in "Repo Man" oder - wohl am bekanntesten - von Quentin Tarantino in "Pulp Fiction". Der Koffer mit dem leuchtenden aber unbekannten Inhalt, den die Auftragskiller Jules und Vincent wiederbeschaffen sollen, ist ein direktes Zitat auf diesen Film.
"Rattennest" ist zumindest in den USA der vielleicht am meisten untersuchte und besprochene Film seiner Ära, und dennoch ist er kein ‚totes' Kulturgut. Er hat die Kraft, auch heute noch Zuschauer aus den Schuhen zu fegen, sofern sie sich von klassischen Erwartungshaltungen lösen und den bizarren Routen der Jagd nach dem ‚great whatsit' folgen mögen. Bei jedem Anschauen dieses Films findet man neue, interessante Aspekte, die einem vorher nicht aufgefallen waren. Robert Aldrich, wie Sam Peckinpah oder Don Siegel einer der klassischen Männer-Regisseure Hollywoods, mag bekanntere Filme als diesen gedreht haben, allen voran "Der Flug des Phoenix" und "Das dreckige Dutzend", aber bessere nie. Dies ist auch sein Triumph, denn er hat aus dem wohl schlimmstmöglichen Ursprungsmaterial durch geschickte inhaltliche Abwandlung und endlose visuelle Innovation einen Klassiker geschaffen, ohne dessen mutige Pionierarbeit ein Teil der filmhistorischen Fortentwicklung kaum denkbar gewesen wäre.
PS: Ein Wort noch zur erwähnten verunstalteten deutschen Fassung. Diese wurde nicht nur von der damaligen Zensur äußerst stümperhaft um fast sämtliche Gewaltszenen (sowie zwei weitere, für Hammer nicht sehr schmeichelhafte Szenen) erleichtert, sondern in der Synchronisation mutwillig abgeändert, um ein wesentlich positiveres Bild des Detektivhelden zu zeichnen. Hier ist Hammer dank dreister Umschreibung eine fast klassische Heldenfigur, was dem Film natürlich ein Großteil von Anliegen und Wirkung nimmt. Daher ist es in diesem Fall nicht nur anzuraten, sondern eigentlich unumgänglich, die englische Originalsprachfassung zu schauen. In Zeiten der DVD sicherlich machbar, auch wenn für den Autor nicht ersichtlich ist, ob die deutsche FSK-18 DVD sämtliches ursprünglich geschnittene Material enthält.
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