Niemals Selten Manchmal Immer

Originaltitel
Never Rarely Sometimes Always
Land
Jahr
2020
Laufzeit
101 min
Genre
Release Date
Bewertung
9
9/10
von Frank-Michael Helmke / 28. Februar 2021

"Niemals Selten Manchmal Immer" beginnt mit dem Auftritt der jugendlichen Hauptfigur Autumn bei einer Talentshow an ihrer Schule, und das Lied, das sie singt, wie sie es singt und für wen sie es singt, vermittelt eine deutliche Ahnung davon, dass dieses Mädchen eine sehr hässliche Erfahrung hinter sich hat. Es ist eine brillante Eröffnung, weil sie nicht nur sofort eindrücklich die Hauptfigur charakterisiert und die Atmosphäre für den Rest des Films setzt - ein instinktives Mitgefühl für Autumn und ein latentes, nervenaufreibendes Unwohlsein wegen dem, was hier offensichtlich unter der Oberfläche lauert - sondern auch ohne direkte Erklärung alles offenbart, was man als Zuschauer über Autumns Situation wissen muss. Sie hat sich auf etwas eingelassen, dass sie nun sehr bereut. Und sie muss jetzt ganz allein mit den Konsequenzen klarkommen. 

Autumn ist schwanger, wie ihr beim Besuch einer Beratungsstelle bestätigt wird. Und weil sie in einer sehr konservativen, ländlichen Region der USA aufwächst, geht dieser Termin direkt mit wenig subtilen Manipulationsversuchen einher, dass Autumn dieses Kind als ein Geschenk betrachten sollte und jeder Gedanke an eine Abtreibung einer Sünde gleichkommt. Doch Autumn will dieses Kind nicht. Sie will es ganz sicher nicht. Wie sehr sie dieses Kind nicht will, veranschaulichen ihre nun folgenden Handlungen, und warum sie es nicht will, hat man eigentlich schon bei besagtem Talentshow-Auftritt begriffen.

Gesprochen wird darüber aber kein einziges Wort. Nicht nur, weil Autumn ein sehr verschlossenes Mädchen ist, deren Umfeld sie geradezu dazu zwingt, nichts von dem zu zeigen, was emotional in ihr passiert. Sondern auch und vor allem, weil Regisseurin und Autorin Eliza Hittman es auf brillante Weise versteht, wirklich filmisch zu arbeiten und über weite Strecken allein ihre Bilder sprechen zu lassen. Generell wird hier nicht viel geredet, und der Film verrät einem nur sehr wenig - aber alles, was man wissen muss. 

Die einzige Person, auf die Autumn sich in ihrem Dilemma verlassen kann, ist ihre Cousine und beste Freundin Skylar. Und weil es in ihrem Bundesstaat minderjährigen Mädchen verboten ist, ohne Einwilligung der Eltern eine Abtreibung vornehmen zu lassen, machen sich die beiden per Bus auf in die Großstadt New York, wo die Gesetzeslage anders ist. Ohne elterliche Hilfe und nur mit sehr kleinem Budget müssen die beiden Mädchen vom Land sich nun allein durch den bürokratischen, medizinischen und emotionalen Albtraum kämpfen, der sie dort erwartet.

"Niemals Selten Manchmal Immer" ist ein Film über eine Abtreibung. Nicht mehr, aber vor allem nicht weniger. Denn damit nimmt er sich eines vor allem in den USA sehr kontroversen Themas an, um das im Kino sonst ein möglichst großer Bogen gemacht wird. Eliza Hittman hingegen ist hier auf einer eindeutigen Mission unterwegs, und zwingt ihr Publikum detailversessen und authentisch, das gesamte Prozedere mitzugehen, das Autumn durchlaufen muss. Hittmans Film ist hier geradezu dokumentarisch präzise: Hier soll nichts ausgelassen oder beschönigt werden, denn es geht ganz klar darum, zu verdeutlichen, was ein Mädchen in Autumns Situation durchmachen muss. 

Hittmans Film ist klar politisch, und mit welcher Haltung er gedreht wurde, ist mehr als offensichtlich. Doch gerade angesichts dessen, was für eine allgemeine Aussage zum Thema Abtreibung sie hier machen will, ist es außergewöhnlich und bemerkenswert, wie sie das enorme Spektrum dieses Themas gleichzeitig komplett reduziert und wie mit einem Vergrößerungsglas aus dem gesamten Kosmos "Abtreibung" hineinzoomt auf eine einzelne, sehr persönliche Geschichte. "Niemals Selten Manchmal Immer" dreht sich einzig und allein um Autumn und ihre Abtreibung. Es gibt kein Davor, und es gibt kein Danach.

Das einzige, was es hier sonst noch gibt, ist die besondere Freundschaft zwischen Autumn und Skylar. Wie die Mädchen miteinander umgehen, was zwischen ihnen alles unausgesprochen und doch vollkommen klar bleibt, ist inmitten dieses sehr politischen Films gleichzeitig ein berührendes und intimes Porträt einer besonderen Mädchen-Freundschaft. Wobei diese ganz spezifische Beziehung zwischen Autumn und Skylar durchaus als allgemeingültige Beobachtung aus der Geschichte herausprojiziert: Jemand in Autumns Situation ist nahezu existenziell auf weibliche Solidarität angewiesen, und wie die Handlung zeigt, wird sie diese von vielen Frauen nicht bekommen.

Was allerdings immer noch mehr ist, als sie von den Männern erwarten kann. Mit bitterer Konsequenz dokumentiert Hittman wie beiläufig die alltäglichen Belästigungen, mit denen junge Frauen wie Autumn und Skylar leben müssen, von nervig-penetrant bis hin zu abgrundtief widerwärtig. Es ist einer von diversen Aspekten, mit denen Hittman ihr Publikum gekonnt in die Perspektive und Wahrnehmung ihrer jugendlichen Heldinnen hineinzieht. Der Ausflug in die unbekannte, reizüberflutete und latent gefährlich wirkende Großstadt wird in seiner gefühlten Bedrohlichkeit nur noch dadurch gesteigert, dass die beiden sich offenbar vor jedem Mann in Acht nehmen müssen, der ihnen zu nahe kommt. 

Dass Hittmans Film extrem authentisch und realitätsnah wirkt, liegt nicht nur an ihrer naturalistischen Erzählweise, sondern auch an der Inszenierung ihrer Figuren, die hier allesamt eben nicht wie Filmfiguren wirken, sondern wie direkt aus der Wirklichkeit gepflückte Menschen. Dass man es hier weitgehend mit unbekannten Schauspiel-Gesichtern zu tun hat, hilft da natürlich, ganz entscheidend für die Wirkung des Films ist aber auch das enorme Talent, dass die beiden jungen Hauptdarstellerinnen an den Tag legen. Speziell Sidney Flanigan als Autumn ist mehr als nur eine Sensation, angesichts dessen, dass dies hier ihr Filmdebüt ist und dass ihre Figur ihre Emotionen über weite Strecken hinter einem Schutzpanzer aus vermeintlicher Gleichgültigkeit und fiesen Sprüchen versteckt.

Umso erschütternder ist dann die Schlüsselszene des Films, die ihm auch seinen Titel gibt. Als Autumn während der Hinleitung zu ihrer Abtreibung einen Fragebogen zu ihren sexuellen Erfahrungen beantworten soll, mit den vier standardisierten Antworten "Niemals, Selten, Manchmal, Immer", deutet der Film nur über Autumns spärliche Antworten und ihre emotionalen Reaktionen an, was für Erlebnisse sie tatsächlich bis an diesen Punkt geführt haben. Es ist eine Szene, die gleichzeitig meisterlich umgesetzt und nur schwer zu ertragen ist, wegen den Untiefen, die sich hier auftun. Was Sidney Flanigan hier schauspielerisch leistet, während die Kamera minutenlang nicht einmal von ihr wegschneidet, ist atemberaubend.

Es ist eine denkwürdige Szene im Zentrum eines mehr als denkwürdigen Films. "Niemals Selten Manchmal Immer" demonstriert eindrucksvoll, wieviel Wucht ein vermeintlich kleiner Film entwickeln kann, wenn er mit der nötigen Leidenschaft und Überzeugung umgesetzt ist. Es ist die Reduzierung auf das absolut Notwendige, die ihn so besonders macht, und gerade dadurch, dass nur angedeutet wird, was Autumn widerfahren ist, bekommt ihr individuelles Schicksal die nötige Allgemeingültigkeit: Wohl kaum jemand wird nach diesem Film noch sagen können, dass man Autumn eine Abtreibung hätte verwehren sollen. Und wenn nicht ihr, dann auch nicht allen anderen Frauen. Mrs. Hittman: Mission erfüllt. 

"Niemals Selten Manchmal Immer" ist am 01. Oktober 2020 in den deutschen Kinos angelaufen - Pandemie-bedingt also eigentlich gar nicht. Seit dem 11. Februar ist er auf DVD und Blu-Ray erhältlich sowie über alle gängigen Online-Streaming-Videotheken. 

Bilder: Copyright

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