Mit der ersten Szene denkt man direkt, man sei mit Martin Scorsese wieder zurück in dessen mean streets. Da sieht man einen leicht abgewrackten Typen mit wildem Bart, Haar und Zuhälterhut beim Billardspielen. Und während man noch kurz denkt "Robert De Niro?", merkt man: Das ist nicht de Niro, es ist Rick Danko, einer der Sänger und Multi-Instrumentalisten von The Band. Der Auftakt von "The Last Waltz" ist sofort purer Scorsese. Die straßengestählten Rock'n'Roller in einer leicht schäbigen Billardkneipe, dann die Autotour durch San Francisco. Es gibt keinen, dem man eher die Regie für eine Musikdokumentation zutrauen würde, als Scorsese.
Zur Entstehungszeit des Films 1976 war das noch nicht so ersichtlich, aber kaum einer hat Rock'n'Roll so verstanden wie Scorsese. Von der allerersten Szene in "Hexenkessel" mit den Ronettes und ihrem "Be My Baby" über die Wahnsinnsmusikmontage im Schlussakt der "Goodfellas" bis hin zum geschickten Einsatz von so unterschiedlichen Bands wie Pink Floyd und Dropkick Murphys in "The Departed" - Musik war nicht nur stets integraler Bestandteil eines Scorsese-Films, auch kaum einer weiß sie so gut in Szene zu setzen wie er. Er erkennt die Rhythmik der Musik und findet immer die richtige Montage dafür - natürlich auch hier. "The Last Waltz" ist Scorseses Dokumentation des Abschiedskonzerts von The Band und gilt zurecht als einer der besten Rock'n'Roll-Filme aller Zeiten.
Dass "The Last Waltz" diesen Status erreicht hat, liegt natürlich auch am Subjekt selbst. Vielen wird "The Band" heute nichts sagen, aber man darf sie mit einiger Berechtigung als vielleicht wichtigste, zumindest einflussreichste Band ihrer Entstehungsepoche bezeichnen. The Band waren am Anfang eine Begleitgruppe für das Touren unter Extrembedingungen, zuerst mit dem Rockabilly-Raubein Ronnie Hawkins als "The Hawks" und dann als Unterstützung der Ikone seiner Zeit, Bob Dylan. Mit Dylan spielten sie auch dessen legendäre "Basement Sessions" ein und revolutionierten dann im Anschluss, zusammen mit Dylans "John Wesley Harding" und "Sweetheart of the Rodeo" der Byrds, die amerikanische Musik.
Zum Höhepunkt der psychedelischen Musik 1968 veröffentlichten The Band mit ihrem Debüt "Music from Big Pink" ein Album wie aus einem anderen Jahrhundert. Rock'n'Roll der klang wie alte, zeitlose Folksongs, gesungen und instrumentiert von einer Gruppe Zottelbärte in Arbeiterkluft. Eine Rockgruppe, die aussah wie ein Trupp Minenarbeiter und deren organischer, versetzter Harmoniegesang stilbildend war - etwa für die Grateful Dead, selbst ja auf anderem Gebiet stilistische Vorbilder. Statt ausgetüfteltem Gleichklang erinnerten die wechselnden Einsätze der drei Sänger von The Band an den call&response der alten Musik der Sklavenplantagen. Songschreiber Robbie Robertson schrieb dazu (mehr noch auf dem zweiten, selbstbetitelten Album und Höhepunkt ihres Schaffens) Lieder, die klangen, als wären sie Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte alt.
Kurzum: Zwischen 1968 und 1970 waren The Band tatsächlich die amerikanische Band schlechthin. Danach ließen längere Arbeitspausen und schwächere Alben das Interesse ein wenig schwinden, bis zu ihrem Comeback 1976 mit "Northern Lights, Southern Cross" und der bald darauf folgenden Ankündigung, dass sich The Band zum Ende des Jahres auflösen würde. Hatten sie auf ihrem klassischen Livealbum "Rock of Ages" vier Jahre vorher noch mit dem Versprechen "I Don't Want To Hang Up My Rock'n'Roll Shoes" geschlossen, so war es nun Zeit, die Rock'n'Roll-Treter tatsächlich an den Nagel zu hängen, aber nicht ohne eine große Abschiedsparty: "The Last Waltz."
Can you hear that singing? Sounds like gold.
Maybe I can only hear it in my head.
Fifteen years ago they owned that road.
Now it's rolling over us instead.
Martin Scorsese kam eigentlich eher zufällig zum Projekt. Rock'n'Roll-Fan der ersten Stunde und bekennender Fan von The Band, war Bandleader Robbie Robertson für ihn in den 1970ern zu einem guten Freund geworden, später teilten sich beide gar eine Wohnung. Und so äußerte Scorsese die Idee, man müsse dieses historische letzte Konzert doch irgendwie dokumentarisch festhalten. Ursprünglich nur eine Privatidee Scorseses, wuchs das Projekt schnell zu einem "richtigen" Kinoprojekt, kam dabei aber Scorseses anderen ehrgeizigen Projekten in die Quere. Er war gerade dabei, seine Musicalhommage "New York, New York" zu drehen, unterbrach aber seine Arbeit dort, um sich um "The Last Waltz" zu kümmern.
Minutiös erarbeitete er Storyboards, wie man das Konzert am Besten filmen könnte. Gerade diese Vorbereitung zeichnet schließlich die Klasse von "The Last Waltz" aus, denn selten gingen Musik und ihre rhythmische Darstellung so gut Hand in Hand wie hier, obwohl natürlich noch genügend Raum für Spontanität blieb, schließlich waren die Musiker ja nicht festgenagelt, und Scorsese filmte mit einem halben Dutzend Kameras. Ein kleiner Teil des Films schließlich bestand nicht aus Konzertmaterial, sondern einem speziell aufgenommenen Auftritt der Band, die Scorsese ohne Publikum im "New York, New York"-Stil abfilmte. Diese wie ein altes MGM-Musical inszenierten Sequenzen gehören ohne Zweifel zu den Höhepunkten des Films.
Das Konzert selbst fand Thanksgiving im Winterland Ballroom von San Francisco statt, und es gab nicht nur Truthahn satt, sondern auch ein enormes Aufgebot an Stargästen. The Band hatten geladen, und so ziemlich alles, was Rang und Namen hatte und musikalisch und stilistisch zu der Band passte, kam: natürlich Ziehvater Bob Dylan, aber auch Eric Clapton, Van Morrison, Neil Young (mit legendär großem Kokskrümel in der Nase), Joni Mitchell, Blueslegende Muddy Waters, Neil Diamond (relativ unerklärlicherweise) und andere, dazu noch eine Blaskapelle und ein Orchester.
An nichts wurde gespart, und schon gar nicht an der Musik selbst. Von "Up on Cripple Creek" zu "The Weight" wurden alle wichtigen Songs von The Band gespielt, neben Eigenkompositionen der Gaststars und alten Bluesklassikern. Daher grenzt es schon an ein Wunder, wie gut The Band mit den zwei Dutzend Songs zurecht kommen. Für die musikalischen Höhepunkte sorgen allerdings die Gäste: Muddy Waters intoniert die vielleicht definitive Version des Bluesstandards "Mannish Boy", bei dem die Winterland-Halle nicht nur metaphorisch, sondern wortwörtlich bebt (wie Scorsese sich in der DVD-Dokumentation erinnert, ebenso dass diese Performance fast der geplanten Pause der Kameramänner zum Opfer fiel). Und wenn Van Morrison in seinen "Caravan" lädt, will man auch vor dem Fernseher Morrisons leicht absurden Tanz-Moves folgen und kann die Füße kaum stillhalten. Und natürlich wird's dann ein kleines bisschen rührend, wenn am Ende alle auf die Bühne kommen und Dylans enigmatisches "I Shall Be Released" singen. Denn released, freigesetzt, das wurden The Band mit ihrem "The Last Waltz".
I ain't livin' like I should.
A little rest might do me good.
Got to sinking in the place where I once stood.
I ain't livin' like I should.
Dass "The Last Waltz" eben nicht nur ein sehr guter Konzertfilm ist, sondern ein veritables und vor allem ehrliches Statement zum Rock'n'Roll an sich, liegt auch an dem Gefühl der Erlösung und Befreiung, das vor allem Robbie Robertson angesichts des letzten Walzers seiner Band empfindet. Denn die nachträglich eingefügten Interviewsequenzen mit den Bandmitgliedern bilden nicht nur ein gutes Stilmittel zur Strukturierung des Materials, sie geben dem Film auch eine Tiefe, die ihn endgültig in den Kanon der wichtigsten und besten Musikfilme überhaupt hebt.
"Wir waren 16 Jahre on the road, acht Jahre in Tanzclubs, Spelunken und Kneipen, acht in Konzertsälen, Hallen und Stadien. 16 Jahre sind genug. Es ist unmöglich, 20 Jahre on the road zu machen. Ich kann nicht einmal darüber nachdenken" sagt Robertson und man sieht förmlich die Angst in seinen Augen, Angst vor dem frühen Tod: "Die Straße war unsere Schule. Sie lehrte uns Überlebensstrategien, sie lehrte uns alles was wir wissen, und aus Respekt wollen wir es nicht in den Abgrund treiben… vielleicht ist es ja auch nur Aberglaube, aber die Straße hat viele der Größten genommen. Sie ist eine gottverdammt noch mal unmögliche Art zu leben." Etwas, was "The Last Waltz" aufzeigt wie kein Film davor und danach ist der Mythos Rock'n'Roll als das: der bröckelnde Mythos. In den verwilderten, bärtigen, von Alkohol- und Drogenexzessen ausgemergelten Musikern der Band sehen wir den Preis des Lebens on the road. Rock'n'Roll wird ja immer beschworen als Lebensstil, vor allem ist es aber ein Todesstil. Und harte, schwere Arbeit.
Diese Demystifizierung gefällt nicht allen. Ausgerechnet der amerikanische Kritikerpapst Roger Ebert, offenkundig kein Mann des Rock'n'Roll, möchte lieber die Legende drucken als die Wahrheit, vermisst Spaß am Rock'n'Roll in "The Last Waltz" und beschwert sich darüber, wie wenig nostalgisch das alles doch sei. Aber ist fröhliche Nostalgie denn noch Rock'n'Roll, oder nicht eher schon Gnadenbrot auf dem Oldiezirkus? The Band entging diesem, in dem sie sich auflöste, bevor die Straße sie verschlang oder sie vor nostalgischem Altherrenpublikum die eigene Legende verhökerten.
Leider blieb es nicht beim "Last Waltz", und es zeigte sich, wie recht Robbie Robertson hatte, es nach diesem gloriosen Abschiedsfest gut sein zu lassen. The Band reformierte sich ohne ihn als Konzerttruppe sechs Jahre später, zehn Jahre nach "The Last Waltz" erhängte sich der zeitlebens an Alkoholismus und Depressionen leidende Pianist Richard Manuel. Bassist Richard Danko folgte ihm im Jahr 1999, der friedliche Tod durch Herzinfarkt im Schlaf konnte den Grund, Dankos ungesunden Lebensstil und seine Heroinabhängigkeit, nicht verhehlen.
Am Ende hatte die Straße sie also doch noch gekriegt. Mit zwei der goldenen Stimmen der Band für immer verstummt hält nur noch Schlagzeuger (und vierter Sänger) Levon Helm das musikalische Erbe lebendig, indem er eben jene midnight rambles abhält, über deren Wichtigkeit als Ursprung von Rock'n'Roll er in "The Last Waltz" spricht. Alle anderen haben neben den Alben von The Band eben diesen Klassiker, den unvergesslichen letzten Walzer einer unvergessenen Band.
Can you hear that singing? Sounds like gold.
Maybe I can hear poor Richard from the grave.
Singing where to reap and when to sow
when you've found another home you have to leave.
("Danko/Manuel", Jason Isbell)
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