JFK - Tatort Dallas

Originaltitel
JFK
Land
Jahr
1991
Laufzeit
189 min
Regie
Bewertung
von Matthias Kastl / 20. Juni 2010

"This is my Godfather", so schwärmt Regisseur Oliver Stone noch heute von seinem umstrittenen Politthriller, der Anfang der 90er Jahre nicht nur in den US-Medien, sondern auch im amerikanischen Kongress für heftige Debatten sorgte. Harrscher Kritik hat sich der provokante Filmemacher in seiner langen Karriere ("Platoon", "Natural Born Killers", "W.") ja schon fast mit einer gewissen Regelmäßigkeit stellen müssen, doch diese Aussage des Enfant terrible Hollywoods wollen wir mal ganz ohne Wenn und Aber unterschreiben und sogar gleich noch einen draufsetzen. "JFK" ist einer der packendsten Politthriller der Filmgeschichte, der Stone auf dem Zenit seines kreativen Schaffens zeigt. Ein cineastisches Feuerwerk unterschiedlichster Stilmittel, welches auf atemberaubende Weise eine Lehrstunde über das gestalterische und dramaturgische Potential des Mediums Film erteilt. Zugleich ist dieser Verschwörungsthriller aber auch noch ein Zeugnis leidenschaftlichen Filmemachens, dessen sehr freie Auslegung historischer Ereignisse eine wirklich interessante Frage aufwirft, nämlich wie viel Wahrheit man bei einem historischen Ausgangsstoff denn zu Gunsten von Entertainment nun eigentlich opfern darf. Mit anderen Worten, diese cineastische Tour-de-Force ist ein auf allen Ebenen faszinierendes Werk, das für so vieles steht, was wir am Kino lieben. Willkommen auf unserer Bestenliste, Mr. Stone.

Herzlich Willkommen wurde auch der 35. Präsident der Vereinigten Staaten John F. Kennedy am 22. November 1963 auf dem Flughafen in Dallas. Die Stunden danach sind Geschichte, das Bild des offenen Fensters des Schulbuchdepots am Dealey Plaza noch heute eingebrannt in das kollektive Gedächtnis einer ganzen Nation. Die mysteriösen Umstände des Attentates heizten über Jahrzehnte die Spekulationen über ein mögliches Mordkomplott an, ein Verdacht, dem schon im Jahre 1967 der Staatsanwalt Jim Garrison in New Orleans nachging. Basierend auf dessen Ermittlungen, und einer Vielzahl weiterer Verschwörungstheorien begibt sich Stone mit Garrison (gespielt von Kevin Costner) auf die Suche nach der "Wahrheit". Der mysteriöse Tod des mutmaßlichen Attentäters Lee Harvey Oswald (Gary Oldman), merkwürdige Ungereimtheiten in dem von der Regierung in Auftrag gegebenen Warren-Report, der das Attentat aufklären sollte, die scheinbare Verstrickung des zwielichtigen Geschäftsmannes Clay Shaw (Tommy Lee Jones) und des extravaganten David Ferrie (Joe Pesci) - all dies lässt Garrison und sein Ermittlungsteam schon bald vermuten, auf eine Verschwörung allerhöchster Ebene gestoßen zu sein.

Über drei Stunden lang begleitet der Zuschauer in "JFK" Garrison bei seinen Ermittlungen. Man sieht wie Verschwörungstheorien aufgestellt und wieder verworfen, Zeugen verhört und Unmengen an Informationen gesammelt werden. Im Wesentlichen besteht das Drehbuch aus einer Aneinanderreihung von Diskussionsrunden, Befragungen und gleich mehrerer minutenlanger Monologe. Klingt nun wirklich nicht nach packendem Kino und wäre es in den Händen vieler Filmemacher wohl auch nicht geworden. Doch genau hier liegt die Brillanz in Oliver Stones filmischer Umsetzung, die den Wortmarathon zu einem packenden Politthriller aufpäppelt, in dessen Licht selbst mancher Actionfilm zum spannungsarmen Kindergeburtstag verkommt.
Wie das geht? Nun, in dem man einfach ganz tief in die dramaturgische und visuelle Trickkiste greift und mal eben jedem Filmstudenten eine Gratislehrstunde über das Filmemachen erteilt. Ein Blick auf die eindrucksvolle Eröffnungssequenz veranschaulicht das am Besten. Hier wird eine schier unglaubliche Menge an wichtigen Hintergrundinformationen in nur wenige Minuten gepackt, doch als ob der Betrachter nun nicht schon genug verarbeiten müsste, wird gleichzeitig auch noch bei der Inszenierung Vollgas gegeben. Da wird mit den unterschiedlichsten Filmformaten jongliert (Super 8, 16mm, 35mm), Schwarz-Weiß-Aufnahmen mit Farbaufnahmen gemischt, von 4:3 auf Widescreen gewechselt und verwackelte Handkameraaufnahmen mit schnellen Schnitten kombiniert. Von diesem handwerklich perfekt umgesetzten visuellen Feuerwerk, durch das der Film auch im weiteren Verlauf immer wieder geschickt das Tempo verschärft, kann man sich nur schwer nicht mitreißen lassen.
Das sah übrigens auch die Academy so, und drückte Kameramann Robert Richardson für dessen brillante Handhabung der unterschiedlichen Filmformate und eine bis ins kleinste Detail ausgeklügelte Lichtsetzung gleich mal einen Oscar in die Hand. Was dessen Aufnahmen aber oft erst so packend macht, ist die wohl diskussionswürdigste Methode des Films, den Zuschauer in seinen Bann zu ziehen: die geschickte Verwebung von historischen Filmaufnahmen mit aufwendig nachgestellten Spielszenen.
Die moralische Diskussion dazu heben wir uns für später auf, und betrachten stattdessen erst einmal genauer Stones clevere Vorgehensweise. Ein wundervolles Beispiel ist hier die Verwendung des originalen 8mm-Films vom Abraham Zapruder, der die letzten Sekunden Kennedys in der fahrenden Präsidentenlimousine festhielt. Diese Originalaufnahmen werden in der Eröffnungssequenz unter anderem mit inszenierten Schwarz-Weiß-Aufnahmen kombiniert, die den Eindruck erwecken, als ob man auf einmal mit Kennedy zusammen in der Limousine sitzt. Wenig später werden einem dann nachgestellte wackelige Handkameraaufnahmen präsentiert, die wiederum Zapruder selbst beim Filmen zeigen - natürlich ebenfalls im 8mm-Look. Genau diese virtuose Montage aus Originalmaterial und fiktiven Szenen lässt diese Sequenzen so beängstigend real erscheinen, auch weil das Produktionsteam für die Aufnahmen mal eben ganze drei Wochen lang die berüchtigte Elm Street in Dallas sperren ließ.

Montage, genau dieses Wort muss dabei immer wieder im Zusammenhang mit "JFK" fallen. Denn die Oscar-prämierte Arbeit, welche die Herren Joe Hutshing und Pietro Scalia hier am Schneidetisch vollbracht haben, ist schlichtweg gesagt eine Meisterleistung der Filmgeschichte. Auf welche Art und Weise hier die nun folgenden zahlreichen Diskussionsrunden und Monologe mit Bildmaterial unterfüttert werden, gehört einfach auf den Lehrplan einer jeden Filmhochschule. Hier nur die passenden Bilder zu liefern wäre zu einfach, stattdessen wirbeln die beiden das Zeit- und Realitätsgefühl des Zuschauers kräftig durcheinander, um ihn gleichzeitig mit einer unglaublichen Masse an zusätzlichen Informationen zu füttern. Da werden zu Zeugenaussagen schon mal Bilder gezeigt, die genau diese entkräften oder andere Alternativen anbieten. In einem anderen Fall wird eine Diskussionsrunde immer wieder mit einer Szene unterschnitten, welche die Erstellung einer Fotomontage Oswalds dokumentiert, obwohl dieses Thema erst viel später angesprochen wird.
Handlungsstränge und Theorien werden auseinander gezogen, zerstückelt und über den ganzen Film verteilt, um dann irgendwann wieder zusammengesetzt zu werden. Doch dieser Wahnsinn hat Methode, und genau das macht dieses Werk so unglaublich faszinierend. Dass bei all dem Vor- und Zurückspringen auf der Zeitleiste, der Fülle an Informationen und der temporeichen Inszenierung mit all ihren visuellen Spielereien man nie wirklich die Übersicht verliert, ist schon so etwas wie ein kleines Wunder - oder eben einfach nur das Resultat eines cleveren Drehbuches und der eindrucksvollen Arbeit einer Menge unglaublich talentierter Menschen. Zu denen darf man dann auch gleich noch Komponistenlegende John Williams zählen, dessen nachdenklich-patriotische Filmmusik noch einmal eine Schippe Intensität draufpackt.

Ja, da sitzt ganz schön viel Talent hinter der Kamera, aber davor sieht die Sache keinen Deut schlechter aus. Im Gegenteil, wer für Nebenrollen auf Schauspieler wie Jack Lemmon, Walter Matthau oder Donald Sutherland zurückgreifen kann, darf sich wahrlich glücklich schätzen. In einer anderen Szene sitzen dann auch mal eben Tommy Lee Jones, Kevin Bacon, Joe Pesci und Gary Oldman am selben Tisch - den Neid seiner Regiekollegen hat Oliver Stone hier sicher. Doch auch wenn insbesondere die starken Auftritte von Jones und Pesci wohl am ehesten im Gedächtnis der Zuschauer haften bleiben, seien aus diesem phantastischen Ensemble an dieser Stelle einmal ausdrücklich zwei auf den ersten Blick eher unscheinbar wirkende Leistungen hervorgehoben. Zum einen die von Kevin Costner, der in bester James Stewart-Manier durch sein ruhiges Auftreten zum moralischen Fels in der Brandung wird. Bei all dem Trubel um ihn herum nun wirklich keine leichte Aufgabe, insbesondere wenn man dann am Schluss noch einen über 20 Minuten langen Monolog halten darf. Zum anderen ist auch die Leistung von Gary Oldman zu würdigen, der es mit seiner sehr introvertierten Darstellung Oswalds schafft, Sympathien für den mutmaßlichen Attentäter zu wecken, ohne ihn aber gleichzeitig zum unschuldigen Chorknaben zu degradieren.
Über drei Stunden lang darf man diese wundervollen Schauspieler also bei ihrer Arbeit beobachten, unterstützt von einer vor Energie und Einfällen nur so strotzenden Inszenierung. Das Ergebnis ist eine mitreißende Zeitreise in eines der dunkelsten Kapitel amerikanischer Geschichte und einer der cineastischen Höhepunkte der 90er Jahre. Zugleich herrscht am Ende aber auch fassungsloses Entsetzen darüber, dass bei all diesen Ungereimtheiten, die hier aufgedeckt werden, offiziell immer noch die These des Einzeltäters vertreten wird. Doch bevor man der angestauten Wut nun freien Lauf lässt, lohnt es sich einmal kurz durchzuschnaufen und sich dessen bewusst zu werden, was da gerade mit einem geschehen ist. Denn man ist eben nicht nur drei Stunden lang brillant unterhalten, sondern mindestens ebenso brillant manipuliert worden.

"Dramaturgische Freiheiten", dieser Ausdruck begegnet einem immer wieder in Oliver Stones Audiokommentar auf der DVD. Er gibt hier ganz offen zu, zugunsten von Dramatik und Entertainment des Öfteren mal eine kleine Auszeit von der Wahrheit genommen zu haben. Genau hier liegt aber nun das große Problem des Films. Zum einen macht die virtuose Inszenierung, insbesondere durch die Vermischung von historischem Filmmaterial mit fiktiven Spielszenen, es oft unmöglich genau diese Grenzen zwischen Fiktion und Wahrheit noch zu erkennen. Zum anderen nimmt sich der Film nicht nur eine paar kleine dramaturgische Freiheiten, sondern gleich mehrere Wagenladungen davon. Hier kommen nicht nur einfach ein paar Figuren vielleicht etwas besser oder schlechter weg, als sie es eigentlich verdient hätten. Nein, hier werden gleich komplette Personen dazu erfunden, entscheidende Fakten verdreht und Indizien auf so haarsträubende Weise interpretiert, dass sich viele US-Medien wohl wie an einem reich gedeckten Thanksgiving-Tisch vorkamen. Mit Inbrunst stürzten sie sich auf den Politthriller und nahmen dessen Verschwörungstheorien teilweise so auseinander, dass einem der arme Oliver Stone schon fast leid tun konnte. Eingebrockt hat er sich das freilich selber, und so muss man dann unweigerlich die Gretchenfrage stellen, an der sich die Geister bei diesem Film scheiden: Darf man bei einem historisch so brisanten Thema eine derartig freie Interpretation durchgehen lassen?
Eine interessante Antwort auf die Frage liefert wieder einmal Kritikerpapst Roger Ebert in seiner Verteidigung von "JFK": "Film ist das falsche Medium für Fakten... ich will Emotionen". Da mag ihm nun manch Dokumentarfilmer vehement widersprechen, doch zumindest was den Spielfilm angeht ist dies ein durchaus berechtigter Einwand. Ebenso darf nicht vergessen werden, dass es in dem Fall JFK nun eben doch viele umstrittene Punkte gibt, die wohl nie aufgeklärt werden können. So gesehen bleibt Stone ja fast gar keine Wahl, als sich in einigen Momenten für die eine oder andere Spekulation zu entscheiden. Seine jeweilige Auslegung mag mancher dann als zu abwegig befinden, doch ist das wirklich so schlimm angesichts der Tatsache, dass man mit den meisten Theorien größter Wahrscheinlichkeit nach sowieso daneben liegt? Am Besten man lässt Stone selbst zu Wort kommen. Dieser hat "JFK" interessanterweise als "Countermyth" bezeichnet, als seinen Gegenmythos zum Bericht der Warren-Kommission. Genau das ist der springende Punkt, dass man diesen Film eben nicht als faktengetreue Aufarbeitung des Attentats betrachten darf, sondern stattdessen als eine durchaus exotische Ansammlung von Verschwörungstheorien, hinter denen eigentlich eine ganz andere, viel wichtigere Botschaft steckt.
Denn im Kern geht es in "JFK" eben nicht um die Frage, wer denn nun genau hinter den Attentaten steckte, sondern um etwas viel grundlegenderes: die Beziehung zwischen den Bürgern und ihrer Regierung. Die einseitige Informationspolitik und das Zurückhaltung wichtiger Dokumente seitens der US Regierung hat maßgeblich zum Gefühl der Amerikaner beigetragen, nie die ganze Wahrheit über den Tod ihres Präsidenten erfahren zu haben. Garrison verleiht diesem Gefühl eine kraftvolle Stimme, und steht für den Mann von der Straße, der nicht wie ein kleines Kind wichtige Fakten vorgekaut und vorenthalten bekommen möchte. Wie leidenschaftlich Oliver Stone zu diesem Thema steht, wird auf faszinierende Weise wieder in dessen Audiokommentar deutlich. Obwohl dieser fast zehn Jahre nach dem Erscheinen des Filmes aufgenommen wurde, und obwohl Stone offensichtlich vorbereitete Zettel und Notizen vor sich liegen hat, verliert der Regisseur gegen Ende doch auf einmal jegliche Contenance. Unzufrieden mit den Regierungsberichten der letzten Jahre zu diesem Fall, bricht es nur so aus ihm heraus: "Nobody gives a shit. It's all bullshit".

Hier brodelt wirklich ein Vulkan, und es stimmt da schon ein bisschen traurig, dass Stone in den letzten Jahren doch deutlich zahmer geworden ist. Denn die von Garrison kritisierte Desinformation seitens der Regierung, der Konformismus der Bürger und das blinde Vertrauen in die Medien - all dies sind Themen, die spätestens seit dem letzten Irakkrieg wieder so aktuell wie nie zuvor sind. Mit "JFK" hat Stone dabei Anfang der 90er Jahre doch eindrucksvoll gezeigt, dass ein Film tatsächlich auch auf die politische Ebene Einfluss nehmen kann. Als Reaktion auf den Film verabschiedete der amerikanische Kongress 1992 ein Gesetz, das unter anderem die Veröffentlichung weiteren Beweismaterials nun schon einige Jahre früher als ursprünglich geplant veranlasst. Ob dies auch geschehen wäre, wenn Stone ein etwas diplomatischeres Werk abgeliefert hätte, darf dabei durchaus bezweifelt werden.
So ist "JFK" schlussendlich eben nicht einfach nur ein technisch brillanter Film, sondern zeigt, trotz oder besser gesagt gerade wegen seines so diskussionswürdigen Inhalts, was man mit diesem Medium doch tatsächlich alles erreichen kann. Nur noch ein Grund mehr, dieses faszinierende Stück Filmkunst dahin zu stecken, wo es hingehört: auf eine Bestenliste.


toller artikel, toll geschrieben!

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10
10/10

Der Artikrl beweisst mal wieder, dass Filmszene.de das beste deutsche private Filmmagazin ist.

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