Die Rotkäppchen-Verschwörung

Originaltitel
Hoodwinked
Land
Jahr
2005
Laufzeit
81 min
Release Date
Bewertung
8
8/10
von Frank-Michael Helmke / 17. Januar 2011

Es war einmal ein Mädchen namens Rotkäppchen, das für seine Großmutter, eine erfolgreiche Leckereien-Fabrikantin, ihre Produkte auslieferte; die Großmutter, die ein heimliches Doppelleben als Extremsport-Meisterin führte; der Wolf, der als rasender Reporter auf der Fährte des gefürchteten Leckerli-Banditen war und aus reinen Gründen der Recherche dem kleinen Mädchen die Großmutter vorspielte; und ein tumber Holzfäller, der eigentlich in einem mobilen Schnitzel-Imbiss arbeitete, Schauspieler werden wollte und keine Ahnung von gar nichts hatte.
Wie bitte? Es tut sich was im Märchenwald, und das nicht nur in der aberwitzigen, herrlich durchgeknallten Trickfilm-Überraschung "Die Rotkäppchen-Verschwörung". War die Märchen- und Mythenwelt im klassischen Animationsfilm noch die Quelle ernsthafter und werkgetreuer Adaptionen (vor allem aus dem Hause Disney), hält sie seit dem phänomenalen Erfolg von "Shrek" vor allem für überaus gelungene Parodien und Verballhornungen her, welche das Geschichten- und Figuren-Allgemeingut dieses Universums genussvoll auf die Schippe nehmen und ihm so ungeahntes Gag-Potential entlocken.

"Die Rotkäppchen-Verschwörung" treibt diesen Trend nun auf die Spitze, bewegt sich in Sachen Witz und Einfallsreichtum locker auf gleicher Höhe mit "Shrek", verzichtet aber fast völlig auf ein Moral-übersüßtes Ende und liefert stattdessen lieber nonstop Nonsens, und zwar von aller feinster Sorte. Die Geschichte beginnt im Stile eines Film-Noir-Krimis, als der Detektiv Nicky Flippers (ein Frosch) im Haus der Großmutter auftaucht, um zu klären, wie es zu der recht bizarren Szene kam, welche die Polizei dort vorfand: Rotkäppchen mit einem Kaminspieß bedroht vom großen bösen Wolf, die Großmutter gefesselt umher hüpfend, und mittendrin ein schreiender und die Axt schwingender Holzfäller. Nacheinander erzählen alle vier dem Ermittler ihre Geschichte des Tages, und langsam stellt sich heraus, dass anscheinend hinter allem der lange gesuchte Goodie-Bandit steckt, der nach und nach alle Leckereien-Geschäfte des Waldes ausraubt und in den Ruin treibt.
Der besondere Spaß des Films entsteht aus der aberwitzigen Verflechtung der vier einzelnen Erzählungen, die sich an mehreren Stellen kreuzen, aber erst nach und nach enthüllen, was da überhaupt passiert ist. Was einen in der ersten Runde (Rotkäppchens Aussage) noch überrascht und irritiert aufmerken lässt ("Hoppla, was war das jetzt?"), wird in den folgenden drei Verhören erklärt und legt eine kongenial verstrickte Handlung offen, die dann in der zweiten Hälfte in der Jagd auf den Goodie-Banditen und einen fulminanten Showdown gipfelt.
Währenddessen kriegt man kaum Zeit zum Durchatmen, denn selbst die (in bester Disney-Märchentradition) fortlaufend eingeflochtenen Lieder sind temporeich und so witzig, dass sie einige der besten Lacher des Films enthalten. Eine Armada an saukomischen Nebenfiguren tut ihr Übriges fürs permanente Gelächter im Kinosaal. Die beiden Highlights sind definitiv ein verhexter Ziegenbock, der alles singen muss, was er sagt, und ein ganzes Arsenal an austauschbaren Hörnern für verschiedene Gelegenheiten hat; und das Eichhörnchen Twitchy, der Assistent des Reporter-Wolfs, das genauso schnell plappert, wie es umherflitzt.

Unglaublich rasant, unglaublich komisch und unglaublich einfallsreich überholt "Die Rotkäppchen-Verschwörung" mit seinem späten Starttermin die gesamte Konkurrenz auf der Zielgerade und mausert sich zum unterhaltsamsten Animationsfilm des Jahres. Schöner anzusehen waren allerdings andere, denn dass dieser Film für magere 15 Millionen Dollar produziert wurde, sieht man ihm auch jede Sekunde an. Die Qualität der Animationen ist im Vergleich mit den Kino-Konkurrenten weit unter Durchschnitt, was sich sowohl in den recht statisch animierten Hintergründen als auch den Figurendetails zeigt (Rotkäppchen hat nicht einmal Fingernägel oder Nasenlöcher).
Dass es den Film überhaupt gibt, ist allerdings auch dem Siegeszug der Computeranimation in den letzten zehn Jahren zu verdanken, denn inzwischen sind die Programme so ausgereift, dass man auch mit schmaleren Budgets und kleineren Produktionsteams einen Langfilm herstellen kann. "Die Rotkäppchen-Verschwörung" könnte der erste wichtige Vertreter eines neuen Trends werden: Independent-Animationsfilme. Der Zeichentrick-Kinomarkt wird nahezu komplett von den drei Branchenriesen Disney/Pixar, Dreamworks und Fox dominiert, aber so wie sich der Independent-Film in den 80ern und 90ern gegen den Hollywood-Mainstream etablierte, indem er innovativ und kreativ mit dessen Konventionen brach und mit kleinen Budgets tolle Geschichten erzählte, könnte sich auch eine Nische im Animationsbereich bilden. Zwei wichtige Protagonisten gehen auf jeden Fall schon wieder in Stellung: Harvey und Bob Weinstein, die mit ihrer Firma Miramax solchen Indie-Ikonen wie Quentin Tarantino, Steven Soderbergh und Kevin Smith den Karriereweg ebneten, haben mit ihrer neu gegründeten Weinstein Company auch "Die Rotkäppchen-Verschwörung" auf amerikanische Leinwände gebracht - und strichen einen beachtlichen Umsatz von 50 Millionen ein.

Womit auch auf dem Animationsmarkt bewiesen wäre: Man kann sich mit Innovation und Mut zur Lücke eine Scheibe vom Kuchen abschneiden, und "Die Rotkäppchen-Verschwörung" hat beides. Humor, Kreativität und Tempo lassen schon nach wenigen Minuten vergessen, dass die Animationen nicht so dolle sind, und der Film ist so schnell, wild und ironisch-witzig, dass sich Erwachsene garantiert (noch) besser amüsieren als ihre Kinder; auf die Genre-typische Familienfreundlichkeit legt man hier ohnehin nur wenig Wert.
Erfreulicherweise schneidet die deutsche Synchronisation überraschend gut ab und kommt nah ans amerikanische Original, dessen Sprecher allesamt großartige Arbeit bei der Umsetzung des brillanten Wort- und Dialogwitzes leisteten. Synchro-Neulinge wie Sarah Kuttner als Rotkäppchen und Jan Delay als singender Ziegenbock liefern neben Hans Werner Olm als Großmutter, Axel Prahl als Wolf und Smudo als Hüpfhase Boingo hervorragende Arbeit, und auch die Übersetzung ist bis auf (erwartungsgemäß) auffällige Schwachstellen bei den Liedern sehr gut geworden. Da kann auch beim deutschen Publikum kurz vor Jahresende das Zwerchfell nochmal so richtig beben.


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