"Da eine gut ausgebildete Miliz für die Sicherheit eines freien Staates erforderlich ist, darf das Recht des Volkes, Waffen zu besitzen und zu tragen nicht beeinträchtigt werden." Mit diesem Argument sicherten die amerikanischen Verfassungsväter einst das Recht auf freien Waffenbesitz, das in den USA bis heute bestand hat. Welche Auswirkungen dieses Recht zur bewaffneten Selbstverteidigung haben kann, zeigen nicht nur die grausamen Schulmassaker wie an der Columbine Highschool oder der Universität von Virginia, und auch Michael Moore war mit seiner Oscar-prämierten Dokumentation "Bowling for Columbine" nicht der erste Filmemacher, der sich dem Thema annahm. Der britische Regisseur Neil Jordan bietet nun mit seinem neusten Film "Die Fremde in Dir" mit Jodie Foster in der Hauptrolle sein eigenes und sehr finsteres Bild der amerikanischen Waffengesellschaft.
Die zweifache Oscar-Gewinnerin Foster spielt die erfolgreiche Radiomoderatorin Erica Bain, die bei einem nächtlichen Spaziergang mit ihrem Verlobten David (Naveen Andrews) überfallen und äußerst brutal zusammengeschlagen wird. Nach drei Wochen wacht Erica aus dem Koma im Krankenhaus auf und erfährt, dass ihr Liebster den Überfall nicht überlebt hat. Für sie bricht eine Welt zusammen. Das Wiedereingliedern in den Alltag fällt ihr schwer und auch die Polizei, die die Ermittlungen führt, ist in Ericas Augen keine Hilfe. So verzweifelt und gequält von immer wiederkehrenden Panikattacken, entschließt sie sich selbst für ein wenig Sicherheit zu sorgen und kauft sich eine Waffe. Als sie unfreiwillig in einen Überfall gerät, erschießt Erica einen Menschen. Der Schock nach dieser Tat ist zwar vorhanden, doch langsam fängt in ihr etwas an zu wachsen. Eine neue, fremde Persönlichkeit. Erica wird zum Selbstjustiz übenden Racheengel. Doch auch die Polizei in der Person des Detectives Mercer (toll wie immer - Terrence Howard) fängt an, sich für den mysteriösen Killer zu interessieren.
"Die Fremde in Dir" (endlich mal ein deutscher Verleihtitel der sogar besser als das Original ist) löste in den USA nicht nur unter Kritikern sehr kontroverse Diskussion aus. Er polarisiert und spaltet gleichermaßen. Der Grund hierfür liegt in seiner kompromisslosen Umsetzung des Plots und in seiner ambivalenten, von Jodi Foster brillant verkörperten Hauptfigur. Erica Bain wird damit zum interessantesten Kinocharakter der laufenden Saison und riecht förmlich nach einer weiteren Oscar-Nominierung für die Ausnahmedarstellerin.
Dabei ist das Drehbuch leider die größte Schwäche des Films. Erica wird innerhalb von zehn Minuten als extrem glückliche und zufriedene Person skizziert. Die Zeit ist knapp um sie als Charakter ins Herz zu schließen. Soll man sie mögen, weil sie erfolgreich und wohl situiert ist? Reicht das? Das Skript ist vielmehr an der Wandlung Ericas interessiert, steht sich dabei aber etwas selbst im Weg, da "Die Fremde in Dir" sich als Suspense-lastiger Thriller ausgeben möchte und somit immer wieder die genretypischen Versatzstücke bedient. Dies wird besonders deutlich bei den Untersuchungen der Polizei. Terrence Howard und Jodie Foster geraten immer wieder aneinander und es scheint, dass der Plot ein konventionelles Katz-und-Maus-Spiel in Gang bringen möchte, welches in einem Finale gipfelt, das wohl vielen als absurd und lächerlich erscheinen wird.
Doch diese Betrachtungen wären oberflächlich und das ist Neil Jordans Film ganz und gar nicht. Schaut man sich seine vorherigen Werke wie "Breakfast on Pluto", "The Crying Game" oder auch "The Good Chief" an, dann erkennt man, dass darin immer Charaktere im Fokus stehen, die nie so recht wissen wer sie wirklich sind. Es ist ein Spiel der Identitäten, egal ob das der sozialen oder der politischen. Erica Bain ist daher geradezu ein Prototyp für den Regisseur, und jenseits seiner offensichtlichen erzählerischen Schwächen liegt der Reiz des Films in dieser Studie eines verzweifelten Charakters, der sich in einer posttraumatischen Phase entscheidet, nie wieder zu einem Opfer zu werden. Eine einsame Rächerin, die mit jedem Mord Selbstjustiz übt, da sie dem Polizeisystem nicht mehr vertraut. "Die Waffe gibt ihr die Macht zu sagen: Ich werde leben und du wirst sterben", sagte Jodie Foster in einem Interview über ihre Filmfigur. "Und so verständlich und authentisch dieses Verhalten ist, ist es doch auch beschämend und monströs. Denn die Frage ist ja: Wie weit würdest Du gehen? Wo ist die moralische Grenze? Ist sie hier, hier, oder hier?" Man kann es selber nicht besser auf den Punkt bringen. Auch Detective Mercer zweifelt an der Effizienz seiner Arbeit.
Die Spirale, die Erica mit jedem Mord den sie begeht immer weiter vorantreibt, hat sie vollkommen im Griff. Es ist unfassbar faszinierend Jodie Foster dabei zu zusehen, wie sie gegen einen inneren Dämon ankämpft. Wie sie einen Mord aufgenommen hat und sich im Nachhinein selbst dabei zuhört. Sie führt ihre eigenen Ermittlungen durch. Sie ist auf der Suche nach sich selbst. Die Morde selber sind eiskalt inszeniert, und immer wenn Erica abdrückt zeigt Neil Jordan ihr Gesicht für einen kurzen Augenblick in Zeitlupe. Das ist erschreckend und unheimlich bewegend zugleich. In ihrer Radiosendung erzählt sie später, dass sie nie gedacht hätte, dass sie selber ein Opfer der urbanen Angst werden könnte. "Ich dachte es trifft immer die anderen", sagt Bain.
Neil Jordan lotet auf sehr spannende Weise und ohne dabei belehrend zu wirken die latente Bedrohung in Großstädten aus, und vor allem ist "Die Fremde in Dir" eine punktgenaue Betrachtung der amerikanischen Psyche, die natürlich geschädigt ist von den Auswirkungen des 11. Septembers, und bezeichnenderweise spielt der Film in New York. "Ich bin kein Gesicht, nur eine Stimme" antwortet Erica Bain als ihr eine Fernsehshow angeboten wird. Ihre Radiosendung heißt Street Walks. Sie wandert mit einem Mikro durch die Straßen der Stadt und nimmt nur Hintergrundgeräusche auf. Die vorbeiratternde U-Bahn, das Dribbeln des Basketballs, das Hupen der Taxifahrer, das Rascheln der Büsche. New York ist hier nur ein Geräusch. Jordan verzichtet auf große Panoramaeinstellungen und Kamerafahrten durch die bekannten Orte der Metropole. New York ist eine Geisterstadt, ein Phantom. An jeder Ecke, so schildert es der Film, lauert die Gefahr. Ein Bankraub, ein Drogendealer oder ein Killer. Jeden kann es treffen, so wie Erica. Sie wird in einem kleinen Tunnel niedergeschlagen, der sich "Strangers Gate" nennt. Die unbekannte, ungewisse Bedrohung, die im Untergrund nur darauf lauert, heraus zu brechen - und das Leben für immer zu verändern.
Der Film steht und fällt jedoch mit der Frage, ob er Ericas kaltblütiges Morden legitimiert. Zwar tötet Erica keine Unschuldslämmer, sondern Kleinverbrecher oder Mörder auf freiem Fuß, doch darf sie das? Der Chef-Filmkritiker der New York Times A.O. Scott schrieb in seiner negativen Kritik über den Film: "'Die Fremde in Dir' ist ein Pro-Selbstjustizfilm, den sogar Liberale mögen werden." Nun, den Kollegen in allen Ehren, doch ein Pro-Selbstjustizfilm ist dieses Werk auf gar keinen Fall. Vielmehr ist er eine spröde Studie der Trauer nach der Katastrophe. Er lässt einen nicht kalt, er arbeitet mit einem, teilweise sogar gegen einen und lässt einen sehr lange nicht wieder los. Wann konnte man das zuletzt über einen Hollywoodfilm sagen?
In der letzten Einstellung sieht man den schwarzen Umriss einer Frau. Nur eine dunkle Silhouette. Dann Ericas flüsternde Stimme: "Man wird nie wieder diese andere Person sein können, die man vorher war. Es gibt kein zurück mehr." Die Apokalypse des Individuums und ein ohnmächtiges Bild für den Wahnsinn, der das Herz zerfrisst.
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