Dokumentarfilme fristen ein bedauerliches Schattendasein in unseren Kinos. Kaum ein Streifen dieses Genres kommt in großer Stückzahl in die Lichtspielhäuser. Vieles bleibt lokal beschränkt oder tourt als Festival getarnt durch das Land (letztes Beispiel: UeberArbeiten http://diegesellschafter.de/filmfestival/). Umso erfreulicher, dass neben tollen Filmen wie "Am Limit" oder "Enron" auch Tali Shemeshs auf dem Leipziger Dokumentarfilmfestival ausgezeichneter Film "The Cemetery Club" jetzt viele Kinogänger erreichen kann.
Mit ihrem sehr berührenden und auch persönlichen Film porträtiert die junge Regisseurin zwei Frauen: Ihre Großmutter Lena und deren Schwägerin Minya. Beide Frauen wurden in Polen geboren und haben die Schrecken des Zweiten Weltkrieges und des Holocaust am eigenen Leib erlebt. Heute sind die beiden rüstigen alten Damen Mitglieder der Mount Harzl Academy, ein Verein, der sich jeden Samstag im Sommer auf dem Nationalfriedhof von Jerusalem trifft. Ausgerüstet mit Klappstühlen ziehen sie auf eine schöne Wiese, um über tiefgehende philosophische Fragen zu diskutieren oder selbstgeschriebene Gedichte vorzutragen. Doch ganz oben auf der Charta dieses freiwilligen "Sozial-Vereins" steht, dass diese wöchentliche Zusammenkunft gegen die Einsamkeit im Alter ankämpfen soll.
Das sind die beiden parallelen Geschichten, die Tali Shemesh in
ihrem Film zeigt. Am intensivsten sind die Momente von "The
Cemetery Club", wenn Shemesh ihre Großmutter nach ihrer
Jugend befragt. Es sind die Erzählungen aus dem Ghetto von
Lodz, über die Flucht und die Ankunft in Auschwitz, die einen
unfassbar berühren. Vor allem, weil sie mit einer ungewohnten
Beiläufigkeit ans Licht kommen. Es sind wirklich zwei beeindruckende
Persönlichkeiten, die der Film porträtiert. Auf der einen
Seite Lena, als starke, clevere und selbstbewusste Frau, die aus
eigener Kraft nach dem Krieg in Israel Jura studiert hat und dies
auch immer wieder betont. Minya hingegen hat nie studiert, und so
sind die beiden Frauen auch vom Charakter her sehr unterschiedlich.
Da wundert man sich zwar nicht dass es bei einem Urlaub am toten
Meer immer mal wieder zu Streitigkeiten kommt, doch die Wortgefechte
sind in ihrer Unerbittlichkeit dann doch erstaunlich und unerwartet.
Einmal geraten die beiden alten Damen in einen Streit über
einen polnischen Offizier, den sie mal gekannt haben, dann sagt
Lena verärgert zu ihrer Schwägerin, die sie nicht aussprechen
lässt: "Du magst einiges wissen über Hühner
und Hunde, über Kühe und Blumen, aber vergiss nicht, dass
du niemals Literatur, Geschichte oder Recht studiert hast, wie ich."
Später sieht man beide wieder zusammen am toten Meer über
die Figur anderer Menschen lästern.
Filme wie "The Cemetery Club" sind mutig, da die Macher
in ihre eigene Familiengeschichte eindringen, sich so vor den Augen
von fremden Kinogängern entblößen. Sie sind deshalb
auch oft ein Wagnis. Im Falle dieser israelischen Produktion darf
man aber durchaus von einem Glücksfall sprechen. Denn wir erfahren
nicht nur etwas über die Freundschaft zweier Frauen oder über
das Glück
der alten Menschen der Mount Herzl Academy, nein, viel mehr schwingt
hier auch immer die Wahrhaftigkeit der Geschichte
mit. Vor allem die des Zweiten Weltkrieges und der Naziverbrechen.
Wenn ein Mitglied der Herzl Academy ein Erich Kästner-Gedicht
vorlesen will, zögert er zu Hause, ob man denn das deutsche
Gedicht auch auf deutsch vorlesen könne.
Das ist eine Art, wie hier das Vergangene mitschwingt. Die andere,
wesentlich Bewegendere ist, wenn
Lena sich an die Ankunft in Auschwitz erinnert. Sie erzählt
wie sich die Türen der Waggons öffneten und alle Menschen
vor Ort sofort von den Neuankömmlingen Brot wollten. Aber die
hatten keines mehr und wussten auch nicht an was für einem
bestialischen Ort sie hier angekommen sind. Die Probleme und Schwierigkeiten,
die Spielfilme zum Thema des Holocaust haben, werden seit Steven
Spielbergs "Schindlers Liste" immer wieder heiß
in den Feuilleton-Debatten diskutiert. Die meisten Dokumentarfilme
zu diesem Thema sind über diese Zweifel erhaben. Die Authentizität
haben sie durch Zeitzeugenberichte zwangsläufig in ihrer Erzählung
integriert und müssen so um ihre Angemessenheit nicht fürchten.
Lenas Aussage ist ein beeindruckendes Beispiel hierfür.
Angesichts dieses so ernsten Themas ist der der Film über weite
Strecken unerwartet komisch, wenn zum Beispiel die Diskussionen
der Academy immer mal wieder ausufern, so dass man nur durch eine
Trillerpfeife einigermaßen wieder Ruhe in die Gruppe bekommt.
Aber in genau diesen Momenten bemerkt man, wie sehr diese alten
Menschen genau solche Treffen brauchen, in denen sie sich mal hemmungslos
über alles auslassen können was ihnen auf dem Herzen liegt.
Die Zeit geht auch an den Mitgliedern der Mount Herzl Academy nicht
vorbei. Immer wieder stirbt ein Mitglied und es zeigt sich, wie
schnell ein Menschenleben ausgelebt ist. Am Ende der Dokumentation
reichen die Kräfte der meisten Mitglieder nicht mehr aus, um
jeden Samstag den langen Weg zum Friedhof mit dem Klappstuhl unter
dem Arm zurückzulegen. Und so wird kurzerhand entschieden,
dass die weiteren Treffen im Altersheim stattfinden sollen.
So springt Tali Shemeshs Film immer wieder zwischen tieftraurigen
Bildern und urkomischen Situationen hin und her und bewahrt den
gezeigten Menschen immer ihre Würde. Ein berührender und
faszinierender Einblick in das Leben von sehr liebenswürdigen
Menschen, und ein wichtiges Dokument über die langsam aussterbende
Generation der Holocaust-Überlebenden.
Neuen Kommentar hinzufügen