B. Aires

Originaltitel
Solo por hoy
Jahr
2000
Laufzeit
100 min
Regie
Release Date
Bewertung
9
9/10
von Simon Staake / 7. Januar 2011

Eine WG in Buenos Aires. Hier wohnen:
Morón. Leicht dicklich, recht schüchtern und sehr unglücklich verliebt. In Mitbewohnerin Ailí. Will Regisseur werden. Interviewt Menschen auf der Straße mit der Videokamera. Fragt sie "was Glück bedeutet", weil er es selbst sucht. 
Ailí. Chinesische Einwanderin. Ihre künstlerischen Begabungen liegen brach, seit sie als Motorradkurier jobbt. Wird sie das überdenken? Wird sie Morón erhören?
Toro. Die dicke Stimmungskanone. Reinigt Hotelzimmer, redet viel Unsinn, tagträumt von der großen Schauspielkarriere. Sein erstes Casting wird ein Erfolg. Oder doch nicht?
Enquis. Hübsch, einsam und mit Fernweh. Stressiger Job als Helfer in der Großküche. Er träumt davon, seine große Liebe in Paris in einem Café zu treffen. Vielleicht muss er nicht so weit entfernt suchen?
Fer. Moróns älterer Bruder. Nur zeitweilig eingezogen. Soll ein Zimmer streichen. Geht nicht. Er ist zu deprimiert. Was wird sein deutscher Boss dazu sagen?
Und als heimlicher Gaststar des Films: Ladies und Gentlemen, treffen sie Buenos Aires...

Nach letzter Woche und dem Start von "Pieces of April" heißt es auch jetzt noch mal "Augen auf" für einen kleinen, feinen Film, der nur auf sehr wenigen deutschen Leinwänden laufen wird. Drei, um genau zu sein. Wer aber Zugang zu einem der drei Kinos hat, der möge doch eiligst dorthin, bevor "B.Aires" aus ihnen wieder verschwindet. Belohnt wird man mit einem sehr schönen Film übers Erwachsenwerden mit all seinen bittersüßen Seiten, von dem argentinischen Debütanten Ariel Rotter. Jobsuche, Partnersuche - die Standbeine des Subgenres bleiben dieselben. Aber es ist eben alles aufrichtiger, liebevoller, witziger, origineller und weniger einfältig als in der Standardware, die Hollywood so zum Thema fabriziert. Zwar schrammen ein zwei Charaktere haarscharf am Stereotyp vorbei (der dicke Witzbold, der schweigsame Schönling), aber jede der Figuren hier ist glaubwürdig und realistisch, bekommt verdiente Aufmerksamkeit und Mitgefühl. Hier kriegen auch dickliche Jungs ein Mädchen, und nicht auf verlogene Art. 
Unerlässlich für das Porträt dieser jungen Leute ist aber, wie die Nachwuchsdarsteller ihre Rollen durchgehend überzeugend mit Leben füllen. Ein wunderbar funktionierendes Ensemble. Eine Performance sahnt dennoch die meisten guten Szenen und lautesten Lacher ab: Damián Dreizik als untalentierter, aber von sich eingenommener Schauspieler in spe wirkt wie die argentinische Jungvariante von Jack Black. Ähnlich wie bei dessen mit sprühendem Anarchowitz ausgestatteten Charakteren freut man sich auch hier jedes Mal, wenn der übermütige Toro ins Bild tritt. El toro encohetado der guten Laune.
Schönste Idee Rotters ist, Moróns Videoaufnahmen zwischen die Haupthandlung zu schneiden, in denen die Menschen auf der Straße erklären, was Glück für sie ist. Das ist mal absurd, mal witzig, mal einfach nur schön. Ob dies nun echte Aufnahmen sind oder einfach nur verdammt gut gespielte - Rührenderes, ja Anrührenderes, hat man lange nicht gesehen. Wie überhaupt Rotter sich in der Wahl der Mittel nur ein einziges Mal vergreift. Den Autoverkehr in Buenos Aires in Zeitraffer zu filmen und als Metapher für das Leben, das an den jungen Protagonisten vorbeizieht, zu gebrauchen - das ist abgenudelt und platt. Aber was soll's. In der Torheit der Jugend darf's auch mal eine Plattheit sein. Es bleibt die Einzige. 
Ansonsten hat Rotter alles im Griff: Die einzelnen Erzählstränge um die chaotischen WG-Bewohner etwa zeichnen durch ihre kreisförmigen "Vorwärts-Zurück-Gehe nicht über Los"-Bewegungen das Leben geschickt nach, wie es sich Anfang/Mitte der eigenen 20er, wenn "der Ernst des Lebens" anfängt (oder eben auch nicht), abspielt. Denn mal ehrlich, wessen Karrieren und/oder Liebesaffären verlaufen schon so gradlinig, wie es uns Hollywood immer gerne glauben macht? Das Leben ist eben weder ein langer, ruhiger Fluss, noch ein ständiger Wildwasserfall - sondern das hilflos-unbeholfene Paddeln in einem großen See von Möglichkeiten und Entscheidungen, der eigenen wie der der Anderen. Darum geht's in "B.Aires". Für Ailí etwa, die vor wichtigen Fragen steht: Weiter als Motorradkurier jobben - oder doch der Kunst nachgehen, die sie mittlerweile fast vergessen hat. Den unbeholfen um sie werbenden Morón nehmen - oder lieber doch nicht. 
Und so ähnlich gestaltet sich das Treiben in "B.Aires" für alle Charaktere, frei nach Moróns ernüchterter Feststellung "Wir sind das, was wir tagtäglich machen, nicht das, was wir uns erträumen". In kleinen, wunderbar beobachteten Szenen lässt Jungregisseur Rotter, dessen eigene Erinnerungen in die Hauptfigur Morón einflossen, diese liebevoll gezeichneten Charaktere ihre Lehren ziehen - ob sich ihr Leben dadurch nun entscheidend ändert oder nicht. Denn damit macht sich "B.Aires" endgültig zu einem wunderbar ehrlichen Film zum Thema: Patentlösungen gibt's nicht, Happy Ends werden höchstens angedeutet. Wird Equis die Traumfrau aus dem französischen Café treffen? Wird Toro die, sagen wir mal: undistinguierte Bühnenrolle annehmen? Einzig Ailí und Morón gönnt Rotter eine klare Entscheidung, vielleicht weil Morón sein Zelluloid-Ich ist und es verdient hat. Aber den Rest kennen nur die pulsierenden Straßen von Buenos Aires.

P.S.: Danke an Flax Film, dass Sie mit diesem Streifen und dem in Kürze folgenden "Tierra" wahre Schätze zu Tage fördern, die viel zu lange keine deutsche Leinwand erblickten.

Bilder: Copyright

Neuen Kommentar hinzufügen

Der Inhalt dieses Feldes wird nicht öffentlich zugänglich angezeigt.

Klartext

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
  • Website- und E-Mail-Adressen werden automatisch in Links umgewandelt.
CAPTCHA
Diese Aufgabe prüft, ob du menschlich bist um Bots zu verhindern.