Etre et avoir - Sein und Haben

Originaltitel
Etre et avoir
Land
Jahr
2002
Laufzeit
105 min
Bewertung
von Patrick Wellinski / 14. November 2010

 

Dokumentarfilme haben es in Zeiten des 100 Millionen Dollar Mainstreamkinos schwer. Oft werden sie sträflich vernachlässigt und kommen erst gar nicht auf die Leinwände unserer Kinos. Ausnahmen wie Michael Moores Populismus-Projekte bestätigen nur die Regel. Umso aufmerksamer wird man, wenn ein Film aus Frankreich selbst auf DVD eine kleine Revolution unter Genrekennern auslöst.

Eine der ersten Szenen des Films: Durch einen kleinen Raum mit hochgestellten Stühlen schleichen langsam zwei Schildkröten durch das Bild. Eine symbolträchtige Aufnahme, denn in "Etre et avoir" verabschiedet sich der bekannte französische Dokumentarfilmer Nicholas Philibert von aller Effekthascherei - vom unübersichtlichen schnellen Schnitt und unverständlichen Erzählformen. Anstatt dem typischen dokumentarischen Voyeurismus einzubringen, versucht er endlich zu atmen und sucht freien Raum. Außerdem zeigt er durch die Kamera die Magie, die Menschen um sich versprühen und wie die grundlegenden Emotionen unseren Alltag bestimmen und lässt den Stellenwert des Wortes Zeit in einem ganz anderen Licht erscheinen.

"Was glaubst du? Wie weit kann man zählen?" fragt der Lehrer seinen besten Schüler nach der Stunde. "Bis tausend?" antwortet dieser unsicher. "Und was ist mit 1001 und 1024?". Professor Lopez, Sohn spanischer Emigranten, lehrt in einer kleinen französischen Dorfschule irgendwo in der Auvergne. Unter den 13 Schülern, welche Lopez täglich selber mit einem kleinen Bus zur Schule fährt, befinden sich vierjährige Kindergartenkinder aber auch elfjährige Grundschulabsolventen. Die Kindergartenkinder sitzen ganz weit vorne im Klassenzimmer an sehr kleinen Tischen. Die Drittklässler sitzen in der Mitte des Raumes und die ältesten sitzen ganz weit links am Computer. Lopez korrigiert Diktate, versucht den jüngsten das Zählen beizubringen und kann aber auch mal philosophische Fragen stellen wie :"Warum gehst du zur Schule?". Er organisiert Schlittenfahrten im Winter, um zwei Minuten später mit dem kleinen Oliver über seinen kranken Vater zu sprechen.
Man beobachtet den ganzen Schulalltag mit äußerster Skepsis: Handelt es sich hier etwa um eine rein utopische Vorstellung von Schule? Kann so etwas überhaupt existieren? Gewohnt an das mangelhafte Schulsystem unseres Landes und immer noch unter Pisa-Schock stehend, kann das Publikum "Etre et avoir" im ersten Moment nur wie ein modernes Märchen auffassen. Aber die Kinder in diesem Film sind echt und das wichtigste, George Lopez ist auch echt. Jeder würde sein Kind dem 60-jährigen Lopez anvertrauen, er schafft es in den heutzutage toten Begriff Pädagoge neues Leben einzuhauchen. Autoritär aber empfindlich, witzig und teilweise auch schroff. Immer ein offenes Ohr für seine Schüler, hat er auch ein sehr inniges Verhältnis zu ihnen, doch bewahrt immer die nötige Distanz zwischen Schüler und Lehrer. Unfassbar ist auch seine Geduld, die er aufbringt. Es ist eher seine Lebensphilosophie und nicht seine psychologische Intelligenz die seine Art zu unterrichten so einzigartig macht. Das wichtigste ist jedoch ,dass er die Kinder wie erwachsene Menschen behandelt und mit ihnen über viele Themen diskutiert, die angesichts ihrer Tragweite nicht mal Eltern ansprechen würden.

Philibert durchleuchtet das heutige Schulwesen und zeigt, dass die Fähigkeit des authentischen Erziehens, sowohl von Eltern als auch von Lehrern, verloren gegangen ist.Hat "Etre et avoir" nur deshalb solch eine Furore in Frankreich gemacht? Es sei angemerkt, dass die französische Kritikervereinigung den Film zum besten Film des Jahres 2003 gewählt hat. Man achte auf die Betonung: zum besten Film allgemein und nicht in der Kategorie Dokumentarfilm. Über zwei Millionen Zuschauer sahen den Film in Frankreich und somit war die Nominierung zum Cesar von der europäischen Filmakademie mehr als verdient.
Die Schönheit des Films liegt in der Einfachheit mit der Nicholas Philbert über die einfachsten Themen und Wahrheiten spricht. Er versucht nicht den Zuschauer neu zu moralisieren und spielt nicht mit gefälschten Emotionen. Nein: "Etre et avoir" ist eine dokumentarische Suche nach der Wahrheit in einer virtuosen und artistischen Form.

 


10
10/10

volle 10 punkte - mein vorgänger hat soweit recht. Warum aber hälst du dem Lopez vor, dass er pädagogische Fehler macht? ist das wichtig? wirst du keine machen?

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7
7/10

Wir haben den Film im Französischunterricht geguckt. Ich finde ihn auch nur ansprechend für Leute die etwas mit Pädagogik zu tun haben. Die Kinder sind sehr süß und man muss oft über sie lachen. Doch trotzdem ist dieser Film nicht jedermanns Sache

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10
10/10

lopez ist mensch.. und das kann ihm niemand vorwerfen... aber er ist ein heraustechender pädagoge, mit mitgefühl, interesse an seinen schülern, nicht nur als schüler, sondern als menschen, und ein mensch, dessen beruf auch berufung ist.

wenn nur alle lehrer ein klitzekleines stück lopez hätten, dann...

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10
10/10

Ich habe diesen Film lange vor meinem Lehramtstudium gesehen (damals noch kein angehender Pädagoge) und habe während des Schauens nicht nur einmal mit den Tränen gekämpft (und oft verloren :) ). Etre et Avoir zeigt uns in unserer heutigen Gesellschaft, worauf es wirklich ankommt!
Lehrer sein ist eine Berufung und das Europäische Schulsystem stellt dieser Berufung nicht nur ein, sondern zig Beine. Aber es gibt Nieschen, und diese sollten sich die Lehrer suchen... im Angedenken an diesen Film.

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10
10/10

wunderbar, magnifique.... j'ai vu le film au tv.... merci beaucoup, dankeschön

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10
10/10

salut, les profs de la future.
der film lief bei den hofer inernationalen filmtagen bereits 2002. ich wollte, ich hätte so einen lehrer wie mr. lopez einmal in meinem leben gehabt. leider lehrt er ja nicht mehr.
die lustigste szene ist für mich immer noch, wo die kleine vorschülerin einen radiergummi aus ihrer gebunkerten sammlung geklaut kriegt, vorher aber von mr. lopez zur ruhe ermahnt wurde. da kann die kleine keinen krach mehr machen und hyperventiliert beinah in ihrer empörung: "t´as, t´as vu ca, ce mec m´a volé mon gomme!" ravissant.
mein sohn hat sich übrigens zum beruf des grundschullehrers entschlossen. nicht wegen der frauenquote, sondern aus überzeugung.
ich bin sehr stolz auf ihn.

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LE film, c'est super <3

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Ich bin pensionierte Lehrerin und möchte - nachdem ich den Film zutiefst berührt gesehen habe - noch einmal anfangen: in einer Dorfschule! Ein leider verachtetes System.
Es ist wahr: Der Lehrer / die Lehrerin wirkt durch das, was er/sie IST, als MENSCH aus sich selbst gemacht hat.

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