Hugo Cabret (Asa Butterfield) ist kein Kind wie jedes andere. Nach dem Tod seines Vaters (Jude Law) wurde er von seinem Onkel Claude (Ray Winstone) aufgenommen, einem grimmigen Säufer, der für die Wartung der Uhren im Bahnhof Montparnasse in Paris zuständig ist. Und nachdem Claude verschwindet, ist Hugo auf sich allein gestellt, was dem Jungen allerdings wenig ausmacht. Und so lebt er in den vergessenen Räumen hinter und unter den Uhren des Bahnhofs, immer auf der Flucht vor dem Stationsinspektor („Borat“ Sacha Baron Cohen), der Waisen sofort ins Waisenhaus abschiebt. Eines Tages macht Hugo die Bekanntschaft des verbitterten alten Spielzeughändlers (Ben Kingsley), den alle nur „Papa Georges“ nennen, sowie seiner Nichte Isabelle (Chloë Grace Moretz). Es ist der Beginn eines Abenteuers rund um einen herzförmigen Schlüssel, einen mechanischen Mann und ein altes Geheimnis...
Soso, Martin Scorsese dreht jetzt also Filme mit Kindern und (theoretisch) auch für Kinder. Helen ist schuld! Weil Martin Scorseses Frau wollte, dass ihre damals zehnjährige Tochter auch einmal einen Film von Papa anschauen kann, gab sie ihm Brian Selznicks Jugendbuch „Die Entdeckung des Hugo Cabret“ in die Hand, das die kleine Francesca gerade las. Und irgendwie verwundert es wenig, dass Scorsese mit diesem Buch viel anfangen konnte. Zum einen ist da das Thema der einsamen Kindheit, das den Italoamerikaner an seine eigene Kindheit erinnerte, in der der schwächlich-kränkelnde Scorsese lange nicht draußen mit den Kameraden herumtollen durfte und sich in die Fantasiewelt des Kinos flüchtete. Was uns flugs zum zweiten Bezugspunkt Scorseses bringt, denn „Die Entdeckung des Hugo Cabret“ ist eine Verbeugung vor und Hommage an die Pioniere der großen Leinwand. Und unter den momentan aktiven Regisseuren gibt es wohl keinen, der ehrfürchtiger oder begeisterter die Großtaten von Regisseuren der Vergangenheit lobpreist als Scorsese. Ja, damit ist „Hugo Cabret“ also mitnichten eine Auftragsarbeit oder ein merkwürdiger Crossover-Ausflug geworden, sondern sehr wohl einer der persönlichsten Filme in Scorseses langer, bemerkenswerter Filmographie. Und wenn dies dann eben in Form eines Kinderfilms in 3D-Technik stattfindet, darf man wirklich nur ganz kurz verdutzt sein und dann auch schnell in die Bereiche „fasziniert“ bis „begeistert“ vordringen.
Das gilt auf jeden Fall schon mal für die erste Minute von „Hugo Cabret“, in der eine Kamerafahrt über den schneeumwehten Dächern von Paris in den Montparnasse-Bahnhof hinein und dann in Wahnsinnstempo hindurchgeht. Klar, alles CGI und bei der Geschwindigkeit ist auch das 3D etwas schwammig. Aber diese einführende Kamerafahrt zeigt wie so viele noch folgende vor allem: Hier liebt einer das Kino mit all seinen Ausdrucksformen. Und dass es nun eben 3D gibt, wird von Scorsese als Chance, nicht als Profitmaximierung begriffen. Folglich ist sein Einsatz der dritten Dimension eine der besten seit „Avatar“. Wie jener Film benutzt Scorsese die Technik, um eine ganz eigene fantasievolle Welt darzustellen und nicht, um dem Zuschauer dummdreist alle paar Minuten etwas entgegenzuwerfen. Wenn Hugo über Leitern, durch Gänge und Luken durch die metallenen Eingeweide des Montparnasse-Bahnhofs schleicht, liefert das 3D seinen Teil dazu, dies erlebbar zu machen. Klar, „Hugo Cabret“ funktioniert auch in zwei Dimensionen, aber das 3D ist hier tatsächlich Mehrwert statt Ärgernis.
„Hugo Cabret“ ist ein Film von einem Filmliebhaber für Filmliebhaber. Formell ist das Ganze zwar ein Kinderfilm, aber ganz ehrlich: Nur die fantasievollsten und geduldigsten Kinder werden hier glücklich werden, für die meisten Kleinen reichen ja auch schon furzende und Sprüche klopfende animierte Tiere. Daher ist das passende Mindestalter für diese Leinwandfantasie auch eher im zweistelligen Bereich anzusiedeln, so zwischen 10 und 14 Jahre. Auch bei Erwachsenen entscheiden die Begriffe „Geduld“ und „Wille zum etwas Versponnenen“ über Begeisterung oder Ernüchterung. Denn temporeich ist das Ganze hier eher nicht, langsam werden die Geheimnisse um den Automaton, den herzförmigen Schlüssel und die Identität der Figur des Spielwarenhändlers gelüftet.
Dass es sich bei eben jenem um niemand Anderen als Georges Méliès handelt, einen der Urväter des erzählenden Kinos, bringt Scorseses Hommage ans Filmemachen dann endgültig heraus aus der puren Abenteuergeschichte für Kinder. In einer beeindruckenden Erinnerung des alten Méliès stellt Scorsese mit Spaß und Liebe zum Detail Méliès' Dreharbeiten nach und seine innovative „Alles fürs Entertainment“-Attitüde. Ein wundervoller Moment für den Cineasten in uns, die meisten Kinder im Publikum wird „Hugo Cabret“ zu dem Zeitpunkt aber verloren haben. Es ist halt von den meisten Dreikäsehochs nicht zu erwarten, dass Hommagen an Filminnovatoren und Plädoyers für Filmerhaltung sich mit ihren Interessen decken. Die Verfolgungsjagden mit dem Stationsinspektor dienen schon eher dazu, das jüngere Publikum zu befriedigen, aber letztlich muss man sagen: Scorseses Kinderfilm ist eher ein Film für große Kinder geworden, die in Kinosälen groß wurden und in Zelluloid träumen.
Somit ist die Begeisterung der Filmgemeinde selbst und der meisten Kritiker und Cineasten nachzuvollziehen, es ist aber auch gut möglich, dass der ein oder andere Normalzuschauer für die Richtung, die „Hugo Cabret“ in seinem letzten Drittel einschlägt, nur ein Achselzucken übrig hat. Diese Normalzuschauer dürfen daher von der obigen Wertung ruhig ein Auge abziehen. Die Kategorie „Begeisterung“ wird also durch ein paar Kleinigkeiten ein bisschen abgewertet, allen voran das sehr legere Tempo. So werden etwa auch die endgültigen Schicksale der Nebenfiguren, die den Bahnhof bevölkern, lange im Voraus angekündigt und kommen dann auch so wie gedacht. Aber schön ist es natürlich trotzdem und hat auch so ein bisschen von dem Märchensand, den uns Amélie Poulain damals in die Augen streute.
Und das ist dann letztlich auch das Urteil: einfach schön ist das, was Scorsese uns hier kredenzt, ungeachtet der im Gesamtblick etwas unausgewogenen Mischung aus Kinderabenteuer und Filmhistorie. Wer Kino liebt – als Kunstform, nicht als pure Ablenkung – der wird auch „Hugo Cabret“ lieben. Wie Méliès selbst will auch Scorsese den Zuschauer mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln in seinen Bann ziehen – und für die meiste Zeit gelingt ihm das auch. Ein Film wie der Automaton in ihm: Aus Mechanik wird Kunst erschaffen. Cineasten und solche, die es werden wollen: ab ins Kino!
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