Der Traum vom
Tauchen wurde für zwölf Urlauber zum Albtraum.
Da sie die Strömung falsch eingeschätzt hatten, wurden
die Touristen im Roten Meer kilometerweit von ihrem
Ausflugsboot
abgetrieben. Anderthalb Tage trieb die Gruppe, zum
gegenseitigen
Schutz einen dichten Kreis bildend, hilflos in dem
Haiverseuchten
Gewässer - bis ein Armeehubschrauber sie entdeckte und
bergen
konnte. So klingt der Stoff, aus dem seit "Der weiße
Hai" die Kino-(Alp)träume gemacht sind. Tatsächlich
handelt es sich jedoch um eine Meldung, die am 9. August
2004 in
der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschien. Und die
passt wie
eine makabere Promotion-Aktion zu einem Film, der
glücklicherweise
erst im Oktober startet - denn wer "Open Water" gesehen
hat, wird so schnell in keinen Tauchanzug mehr schlüpfen.
Im
endlosen Ozean über einem schwarzen Abgrund zu treiben,
beäugt
von Kreaturen der Tiefe, in ständiger Panik vor
Haiangriffen
- das gehört zu den Urängsten, die im Menschen tief
verwurzelt
sind. Gut, dass man als Landbewohner relativ sicher vor
einer solchen
Lost-at-Sea Situation ist. Das denken sich auch Susan
(Blanchard
Ryan) und Daniel (Daniel Travis), ein erfolgsverwöhntes
Pärchen,
das - mit Laptops und Handys permanent vernetzt - den
Alltag unter
völliger Kontrolle hat. Ihre Beziehung ist dabei fast auf
der
Strecke geblieben, und um wieder zueinander zu finden,
buchen die
beiden einen romantischen Karibik-Trip. Den Höhepunkt der
entspannten
Tage am Meer, das sich den Strandurlaubern in immer neuen,
atemberaubenden
Facetten präsentiert, soll ein Tauchausflug bilden. Wie
alle
Touristen auf dem Ausflugsboot verfügen Susan und Daniel
über
eine perfekte Tauchausrüstung, gewohnt, auch unter Wasser
alles
unter Kontrolle zu haben. Doch schon während sie sich ihre
Ausrüstung anlegen, zeichnet sich das Unheil ab - der
Skipper
übersieht beim Durchzählen Susan und Daniel und rechnet
fortan mit einer geringeren Taucherzahl als tatsächlich
vorhanden.
Die beiden Protagonisten erkunden indes ahnungslos die
Meerestiefe
und geben sich dem Zauber ihrer Bewohner hin. Dass
irgendwo weit
über ihnen der Kapitän den Anker lichtet und den Motor
startet kriegen sie auf ihrer Reise durch eine wundersame
Welt nicht
mit. Als Susan und Daniel beim Auftauchen das Verschwinden
ihres
Bootes bemerken, glauben sie zunächst an ein
Missverständnis.
Und tatsächlich - am Horizont sind Boote zu sehen. Doch
die
Zeit vergeht - und keines nimmt Kurs auf die vergessenen
Taucher.
Alleine im weiten
Ozean wandelt sich das Gesicht der Tiefe, die zuvor noch
als eine
Art unterseeischer Garten Eden empfunden wurde, in einen
höllischen,
unberechenbaren Schlund. Etwas nagt an Susans Bein,
Feuerquallen
schweben aus dem dichten Blau auf die Hilflosen zu und
plötzlich
durchschneidet ein graues Dreieck das Wasser.... Für Susan
und David beginnt ein Martyrium, das weit über ihre
psychischen
und physischen Grenzen hinausgeht.
Regisseur, Drehbuchautor und Kameramann Chris Kentis
(für
"Open Water" auf dem Sundance Film Festival hochgelobt)
verzichtet in seiner Low-Budget-Produktion auf
schockierende Spezialeffekte
und spielt mit äußerst reduzierten Mitteln meisterhaft
mit den Urängsten der Menschen vor den Schrecken der Tiefe
und ihren eigenen Abgründen. Susan und Daniel stehen
exemplarisch
für das moderne Großstadt-Pärchen, das einen hektischen
Alltag managt und in seiner Freizeit seine Grenzen gern in
Extremsportarten
austestet. Doch der Glaube, jede Situation unter Kontrolle
zu haben,
wird schnell zerstört, wenn Netz und doppelter Boden -
hier
das sichere Ausflugsboot - wegfallen und der Mensch sich
auf eine
für ihn unfassbare Schwäche reduziert wieder findet. Die
Perspektive der auf dem Wasser Treibenden ist quasi nicht
vorhanden
- wessen Kopf gerade eben aus dem Wasser ragt, kann sich
keinen
Überblick verschaffen - schon gar nicht, wenn das Meer
unruhig
ist. Und selbst wenn dieser Schiffbrüchige in seiner
extremsten
Form eine Art des Navigierens, der Orientierung finden
würde
- was sollte es ihm nützen mit nichts als einer
Sauerstofflasche,
die ihn gerade eben über Wasser hält?
Kentis
drehte "Open Water" mit einer Digicam, die den Zuschauer
ganz ohne überambitioniertes Gewackel zum Dritten im Bunde
der Gestrandeten macht und ihn erbarmungslos mitten in die
Katastrophe
katapultiert. Der Regisseur gönnt seinem Auditorium nicht
den
sicheren Platz an Land, von dem aus Steven Spielberg noch
mit dem
"Weißen Hai" seinem Publikum wohlige Schauer über
den Rücken jagte. Und immer wieder zeigt Kentis im
Kontrast
Meeres-Bilder von atemberaubender Schönheit. Seine Message
ist klar und hebt sich angenehm von dem allzu bekannten
Hollywood-Einheits-Katastrophenfilmbrei
ab: Die Natur ist nicht "böse" oder entfesselt oder
ein vermenschlichter Feind unserer Gattung - der Mensch
ist ohne
sämtliche technische Gerätschaften oder Hilfsmittel eben
auch nur ein Glied in der natürlichen Nahrungskette.
"Open
Water" wird gern als "Der Weiße Hai meets Blair
Witch Project" umschrieben. Das klingt lustig-griffig,
wird
dem Film aber nicht ganz gerecht - auch wenn Kentis selbst
nach
dem Mega-Überraschungserfolg des Indie-Streifens zu
schielen
scheint, wenn er damit kokettiert, für Special Effects
leider
kein Geld gehabt zu haben und deshalb auf echte Haie
zurückgreifen
musste. Tatsächlich macht seine Entstehungsgeschichte den
Film
interessanter und - siehe die eingangs zitierte
Pressemeldung -
auf verschiedenen Ebenen brandaktuell. Der passionierte
Taucher
Kentis hat in Tauchmagazinen über das Schicksal
vergessener
Taucher auf See gelesen. Ohne auf ein bestimmtes Schicksal
oder
einen konkreten Ort verweisen zu wollen, nahm er diese
kurzen Meldungen
als Ausgangspunkt für sein Spiel mit unseren Urängsten
und dem sehr aktuellen Gefühl der Orientierungslosigkeit.
Dies
setzte er - in jeder Beziehung realistisch - 20 Meilen vor
der Küste
der Bahamas um, wo die Dreharbeiten der nur fünfköpfigen
Crew mitten auf dem Ozean stattfanden. Die Schauspieler
verbrachten
dabei 120 Stunden im Wasser - geschützt durch Kettenhemden
unter den Tauchanzügen, die trotz der Gegenwart von
Haiexperten
vor allzu Drehbuchgemäßen Attacken schützen sollten.
Mit dieser authentischen Herangehensweise, der
psychologischen Spannung,
die sich zwischen den Figuren im absoluten Ausnahmezustand
aufbaut
und wunderbaren, garantiert nicht computergenerierten
Naturaufnahmen,
schafft Kentis einen Schocker, der einen nicht so schnell
los lässt.
"Ich wollte zum Skilaufen!" schreit Susan ihren
Lebensgefährten
in einer Szene verzweifelt an. Wasser im gefrorenen
Zustand wird
nach dem Kinobesuch wohl so mancher Zuschauer vorziehen.
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