Wieder einmal werden wir im dunklen Kino vom japanischen Animations-Meister und Oscar-Preisträger Hayao Miyazaki in ein Zauberland entführt, aus dem wir zwei Stunden später mit großen Augen wieder heraustreten. Nachdem schon "Prinzessin Mononoke" und "Spirited Away - Chihiros Reise ins Zauberland" deutsche Zuschauer in ihren Bann schlugen, dürfen wir uns nun über sein kostbares und facettenreiches neues Juwel "Das wandelnde Schloss" freuen, welches schon jetzt nach "Titanic" und "Spirited Away" der dritterfolgreichste Film aller Zeiten in Japan ist und weltweit bisher mehr als 200 Millionen Dollar einspielte.
Die junge Hutmacherin Sophie (Sunnyi Melles) verliebt sich in einer von Kriegsgerüchten brodelnden Stadt in den Zauberer Hauro (Robert Stadlober, "Crazy", "Sommersturm"), dem man nachsagt, er würde jungen Mädchen das Herz stehlen (wörtlich gemeint). Von der eifersüchtigen Hexe aus dem Niemandsland wird Sophie jedoch in eine Greisin verwandelt und muss nun versuchen, den Fluch zu brechen. Dabei landet sie in Hauros wandelndem Schloss, einem Schrotthaufen auf Beinchen, schließt einen Pakt mit einem Feuer-Dämon, trifft wundersame Freunde wie die Vogelscheuche Rübe und beweist Mut und Aufrichtigkeit.
Zugespitzt kann man es auch so zusammenfassen: Naiv-schüchternes Mädchen von 90 Jahren verliebt sich in metrosexuell-eitlen Weichei-Zauberer vor Elsass-trifft-Neuengland-Kulisse. Klingt verrückt, ist aber brillant.
Miyazaki hat mit "Das wandelnde Schloss" nicht nur einen verzaubernden Animationsfilm geschaffen, sondern auch eine ausgezeichnete Literaturverfilmung. Doch während die meisten davon ihren Ursprungswerken nicht gerecht werden, da bei der Umsetzung zu viel Atmosphäre, Inhalt und Tiefe verloren geht, schafft es Miyazaki, dass sein Film das Buch sogar überflügelt. Schon dafür hat er Hochachtung verdient.
Diana Wynne Jones' Buch "Howl's Moving Castle" ("Sophie im Schloss des Zauberers") aus dem Jahre 1986 ist einer der Klassiker englischer Kinderliteratur geworden, der sogar "Harry Potter"-Autorin J. K. Rowling als Inspiration für ihre eigenen Bücher diente. Miyazaki hat bei der Verfilmung konsequent all das weggelassen, was am Buch störte. Im Buch gibt es massenhaft Figuren, die man je nachdem, was man gerade im Text erfahren hat, wieder komplett in einem anderen Licht sehen muss und die Handlung dementsprechend auch, wodurch am Ende sogar Erwachsene hilflos versuchen, die Geschichte zu entwirren und zu begreifen.
Der die Leser wohl am meisten irritierende Schauplatz des Buches ist Wales, von wo Howl ursprünglich stammt - ein neuzeitlicher Ort, wo Autos fahren und die Kinder vorm Computer hocken und schließlich das Game zum Buch spielen (Diese Episode hat Miyazaki zum Glück unter den Tisch fallen lassen). Durch Zauberei entstanden Frankenstein-Geschöpfe (ein Hirn von diesem, ein Herz von dem da und so weiter), die der Handlung des Buches selbst entsprechen: Wie bei einem Frankenstein-Monster wurde hier mit groben Nähten ein Flickwerk aus Einzelteilen zusammengesetzt, das nun fast 20 Jahre später von Miyazaki vorsichtig auseinander genommen und mit feinen Stichen neu verbunden wird zu einem Märchen, das deutlich die Handschrift des Regisseurs trägt - zu erkennen an den Blob-artigen Gehilfen der Hexe, der Fokussierung auf wesentliche Eigenschaften der Figuren (im Buch wird Sophie rätselhaft über ein Drittel zur nervigen alten Zicke), dem schier unermesslichen Detailreichtum der Bilder und natürlich an den malerischen Landschaften, Städten und Räumen, in die man am Liebsten gleich selbst einziehen möchte. Gleichzeitig kann man sich erfreuen an der wunderbaren Musik, die der mittlerweile seit 20 Jahren mit Miyazaki zusammenarbeitende Joe Hisaishi komponierte.
Wie Wynne-Jones litt auch Miyazaki in seiner Kindheit unter den Nachwirkungen des Zweiten Weltkriegs. Wohl deshalb weitete er die Anspielungen auf einen Krieg im Werk der Autorin zu wahrhaftig monströsen Kriegsmaschinen aus, vor denen niemand, weder Mensch noch Natur, sicher sein kann. Gerade in den wunderschönen Landschaften wirken diese technologischen Ungetüme wie Eindringlinge, die sich alles unterjochen und damit zerstören werden. Im Film werden der Krieg und die ausbrechende Panik gezeigt, doch bleiben die politischen Gründe für den Konflikt schwammig und unwichtiger als die Auswirkungen auf die Bevölkerung, auf welche hier das Augenmerk gerichtet ist.
Miyazaki weigert sich dabei, Charaktere nach Hollywood-Manier in Gut und Böse einzuteilen und sie in ihren Rollen erstarren zu lassen. Er sagt selbst, dass die menschliche Natur so einfach nicht ist, sondern viel komplexer arbeitet. So werden in "Das wandelnde Schloss" Figuren, die mächtig waren, alt und schwach; andere, die feige waren, mutig, während wieder andere zu ihrer wahren Form und Gestalt zurück finden (also ihrem eigentlichen Ich).
Diese Komplexität offenbart sich am Schönsten in den alten Menschen, die selten so liebevoll dargestellt wurden wie in diesem Film. Auf spielerische Weise wird hier vermittelt, wie schwer es alte Menschen haben, mit welchen körperlichen Einschränkungen sie kämpfen müssen und wie man sich, obwohl man sie vielleicht früher nicht mochte, doch mit diesen nun hilfsbedürftigen Menschen auseinandersetzen muss. So wird die Hexe aus dem Niemandsland als alte Frau liebevoll und mit Würde behandelt, obwohl sie Sophie vorher mit einem Fluch belegte. Und das "Wett-Treppensteigen" der alten Damen hat nicht nur komische, sondern auch berührende Aspekte. Die Szenen, in denen Schwächen geäußert oder gezeigt werden, gehören hier zu den intensivsten des ganzen Films.
Wir treffen in "Das wandelnde Schloss" auch auf Figuren, die an Miyazakis andere Filme erinnern: So treibt der Feuer-Dämon Calcifer so unermüdlich das Schloss an, wie Kamaji mit seinen vielen Armen das Badehaus in "Spirited Away" bediente. Die Vogelscheuche erinnert an den Gesichtslosen aus demselben Film, während die Maschinen auf "Laputa: Castle in the Sky" beziehungsweise "Crimson Pig" verweisen. Diese Markenzeichen sind jedoch nicht im Sinne von simpler Wiederholung zu verstehen, sondern werden jeweils anders genutzt und den Gegebenheiten angepasst - trotz aller Routine kann Miyazaki seine Motive mit jedem Film noch neu erfinden.
Erzählerisch gehört "Das wandelnde Schloss" zu den komplexesten Filmen des japanischen Animations-Großmeisters. Die Tür des Schlosses öffnet sich zu verschiedenen Orten und Zeiten, so dass der Zuschauer nie weiß, was ihn als nächstes erwartet. Dies sorgt für ein schönes Spannungsmoment, macht es mit den zahlreichen Subplots aber für den Betrachter zu einer größeren Herausforderung, dem Plot zu folgen. Eine westlich-stringente Erzählweise wird hier definitiv nicht angestrebt.
Wie bei "Prinzessin Mononoke" und "Spirited Away" muss sich der Zuschauer auf das Abenteuer einlassen, das ihn erwartet. Auch hier (wie schon bei "Chihiros Reise") kommt das Ende sehr plötzlich, doch sollte man sich auch vor Augen halten, wie unsere klassischen Märchen beendet werden: Der Prinz küsst die Prinzessin (oder erschlägt den Drachen oder was Prinzen sonst so machen), im nächsten Satz fallen sie sich in die Arme und "wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute". Ende. Fürs Märchen-Genre ist ein schnelles Ende also nur konsequent.
Miyazaki, der auch im Westen mittlerweile als Künstler so anerkannt ist, dass ihm das renommierte New Yorker Museum of Modern Art im Juni diesen Jahres eine eigene Werkschau widmete, stellt hier erneut seine außerordentliche Kunstfertigkeit unter Beweis. Wie lange und anhaltend der Regisseur die Filmwelt schon mit einzigartigen Ausnahmewerken verzaubert, zeigt sich auch daran, dass er auf den 62. Internationalen Filmfestspielen in Venedig Anfang September dieses Jahres den Goldenen Löwen für sein Lebenswerk erhalten wird - eine Auszeichnung, die noch nie an einen Animationsfilmemacher verliehen wurde.
Seit er sein eigenes Manga "Nausicaä" 1984 für die Leinwand adaptierte (welches ab September 2005 endlich bei uns auf DVD erscheint), ist Miyazaki durch seine Werke zum Fixstern am Anime-Himmel geworden, der nicht nur Japaner die Kinos stürmen lässt, sondern auch westliche Regisseure zum Schwärmen bringt. So nennt Pixar-Chef John Lasseter ("Toy Story, "Monster AG") Miyazakis Filme eine Quelle permanenter Inspiration und bewundert seine Arbeit innerhalb des Studio Ghibli so sehr, dass Lasseter Ghibli als Modell für den Aufbau von Pixar benutzte. Brad Bird ("The Incredibles") nennt Miyazaki seinen Lieblings-Filmemacher und größtes Vorbild. Und auch bei Disney, die seine Filme in den USA vertreiben, ist der Japaner der Renner: So musste der Präsident der Disney-Studios Michael Eisner zugeben, dass Miyazakis "My Neighbor Totoro" lange der Lieblingsfilm seiner Kinder war, obwohl sie ihn nur im für sie unverständlichen Japanisch sehen konnten. Das höchste Lob jedoch kam vom Altmeister des japanischen Kinos, Akira Kurosawa (1910-1998, "Die Sieben Samurai", "Rashomon"). Kurosawa sagte mit japanischer Bescheidenheit, man solle die Arbeit von Miyazaki nicht herabsetzen, indem man sie mit seiner vergleiche.
Die Möglichkeiten für seine untypische und künstlerische Art des Filmemachens außerhalb von Studios, die ihn zu Kommerzialisierung oder Sequels zwingen könnten, ergaben sich erst durch die weise Entscheidung von Hayao Miyazaki und Isao Takahata, 1985 das Studio Ghibli (bedeutet "heißer Wüstenwind") zu gründen. Ohne dieses hätten wir vielleicht in Europa nie einen seiner Filme zu Gesicht bekommen.
Doch was ist "Das wandelnde Schloss" nun eigentlich: Kinderfilm, Anti-Kriegsfilm, Science-Fiction, Märchen oder eine Parabel über das Älterwerden? Wie so oft bei Miyazaki verweigert auch dieser Film jedwede Schubladen-Zuordnung. Der Regisseur selbst sagt schmunzelnd über sein Werk: "Mein Zielpublikum ist ein 60-jähriges Mädchen." Und so sollten auch wir "Das wandelnde Schloss" betrachten: Mit dem Herzen eines Kindes. Wenn wir dann tief berührt und verzaubert aus dem Kino kommen, können wir uns schon auf das nächste Jahr freuen: Dann soll Miyazakis nun 20-jähriger Film "Laputa: Castle in the Sky" endlich auch in unsere Filmhäuser kommen. Bis zum nächsten Traum ist es nicht mehr lang.
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