Festival-Tagebuch: Die 71. Internationalen Filmfestspiele von Cannes 2018

von Margarete Prowe / 12. Mai 2018

Frauen, Filme und die Frage nach Netflix

Cannes 2018

Nach #MeToo und den Weinstein-Enthüllungen stehen die 71. Filmfestspiele in Cannes im Zeichen der Frauen. Schon in der ersten Pressekonferenz wurde Festivalleiter Thierry Frémaux mehrfach nach dem Skandal gefragt. Er betonte, man habe vorher nichts von den Taten Weinsteins gewusst, sich aber als Festival sofort distanziert. Das Festivalteam traf sich mit dem Ministerium für Kultur und dem für Gleichberechtigung, um herauszufinden, was man tun könne und schuf zum Beispiel eine Telefonhotline für Personen, die Übergrifflichkeiten erfahren. Zudem gibt es vor Ort verschiedene Initiativen, die sich für Frauen in der Filmindustrie einsetzen. Fremaux betonte ebenfalls, dass die neunköpfige Wettbewerbs-Jury in Cannes jedes Jahr zu gleichen Teilen aus Männern und Frauen besteht und nur das Geschlecht des jeweiligen Jury-Präsidenten bestimmt, welches Geschlecht im entsprechenden Jahr die Mehrheit inne hat. Dank Jury-Präsidentin Cate Blanchett sind es dieses Jahr die Frauen. Die Anzahl von Wettbewerbs-Filmen aus der Hand weiblicher Regisseure ist trotzdem ziemlich übersichtlich: Diesmal gibt es drei. Die italienische Filmemacherin Alice Rohrwacher, die libanesische Regisseurin Nadine Labaki und die Französin Eva Husson sind im Wettbewerb vertreten.

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Für einige Aufregung zu Beginn des Festivals sorgte auch die Frage, ob der Abschlussfilm "The Man Who Killed Don Quixote" von Terry Gilliam überhaupt gezeigt werden darf, da noch ein Gerichtsurteil zu den Filmrechten ausstand (ein ehemaliger Produzent hatte geklagt, er hätte noch Rechte am Film). Doch rechtzeitig kam die Entscheidung, dass das Werk aufgeführt werden darf. Ebenfalls gezeigt werden, wenn auch nur außerhalb des Wettbewerbs, wird "The Houe that Jack built", der neue Film von Lars von Trier, der nach ziemlich unglücklichen Äußerungen über Hitler sieben Jahre lang Persona Non Grata in Cannes gewesen war.

Durch die Auseinandersetzung mit Netflix gibt es in Cannes dieses Jahr nur wenige amerikanische Filme, denn es dürfen laut Entscheidung der Festivalleitung nur noch Filme im Wettbewerb sein, die auch in den französischen Kinos laufen werden und zudem drei Jahre lang nicht im Internet ausgestrahlt werden dürfen. Das widerspricht natürlich komplett dem Geschäftsmodell von Netflix, das sich immer mehr als Produzent von Filmen namhafter Arthouse-Regisseure profiliert. Dadurch fehlen zum Beispiel "If Beale Street Could Talk" (von Barry Jenkins) und die Neil-Armstrong-Biografie "First Man" von Damien Chazelle, sowie Orson Welles' legendärer unvollendeter Film "The Other Side of the Wind" und Alfonso Cuaróns "Roma", sein erster Film seit "Y Tu Mamá También", der wieder in Mexiko spielt. Festivalleiter Frémaux gab auch offen zu, dass man zusätzlich jedes Jahr Filme für den Wettbewerb verliert, für die auf Oscar-Nominierungen gehofft wird. Denn fürs Oscar-Rennen ist eine Herbst-Premiere geschickter als eine Frühlingspremiere in Cannes.

So einiges ist neu und anders in diesem Jahr. Es gibt einen Selfie-Bann für den roten Teppich und die Presse sieht die Filme nun nicht nicht mehr vor allen anderen, sondern gleichzeitig mit oder nach der abendlichen Premiere, so dass den Regisseuren ihr großer Abend nicht durch schlechte Vorabpresse und Twitter-Kommentare verhagelt wird. Den Medienvertretern wurde diese nicht so positiv aufgenommene Änderung verkauft mit den Worten: "Cannes fußt auf vier Säulen - der Presse, den Autorenfilmemachern, dem Glamour und dem Markt." Das gibt offensichtlich die Prioritäten-Reihenfolge nicht korrekt wieder. 

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Dank einer anderen Neuerung konnte Presse aber auch zum ersten Mal eine Live-Übertragung der Festival-Eröffnung im Pressesaal verfolgen. Allerdings wurden die französischsprachigen Teile der Zeremonie nicht übersetzt und so beneideten viele dort den nebenan im Großen Saal sitzenden Javier Bardem um seinen Übersetzungs-Ohrknopf. Im Publikum lächelte auch eine entspannte Julianne Moore, Benicio del Toro lachte viel, der diesmal Präsident der Jury der Sektion "Un Certain Regard" ist, und auch Chloe Sevigny (als Jurymitglied der Critics' Week Selection) war dabei. Zu Beginn der Zeremonie wurde ein Ausschnitt aus "Pierrot le Fou" von Jean-Luc Godard gezeigt, aus dessen Film das Bild auf dem diesjährigen Festivalplakat stammt. Die Sängerin Juliette Armanet sang "Les Moulins de Mon Coeur", ein Lied, welches 1969 den Oscar für den besten Song gewann. Thierry Frémaux bat die Jury-Präsidentin Cate Blanchett auf die Bühne, die strahlendschön in einer schwarzen rückenfreien Robe erschien, nachdem ein sehr gut gemachter Zusammenschnitt von Szenen aus ihren vielen Filmen gezeigt wurde. Martin Scorsese und Cate Blanchett eröffneten dann gemeinsam das 71. Filmfestival de Cannes - ein köstlicher Moment, da Blanchett in ihren hohen Schuhen neben dem kleinen Scorsese aussah wie eine Riesin. Weitere Jurymitglieder sind in diesem Jahr Chang Chen, Ava DuVernay, Robert Guediguian, Khadja Nin, Lea Seydoux, Kristen Stewart, Denis Villeneuve and Andrey Zvyagintsev.

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Nun aber endlich zu den Filmen! Den Auftakt bildete der spanischsprachige und in Spanien spielende "Todos lo saben" ("Alle wissen es") des iranischen Filmemachers Asghar Farhadi ("Nader und Simin - Eine Trennung"). Trotz fantastischer Schauspieler (Cruz, Bardem und der tolle argentinische Schauspieler Ricardo Darin aus "In ihren Augen") schafft es "Todos lo saben" leider nicht, sein Publikum so zu fesseln, wie es Farhadis andere Werke taten. Der Film handelt von einer Familie, in der die Entführung der Teenager-Tochter dazu führt, dass man sich alten Familiengeheimnissen stellen muss. Die Mutter Laura (Penelope Cruz) trifft auf einer Familienhochzeit in einem spanischen Kaff auf ihre Ex-Flamme Paco (Javier Bardem, im wahren Leben mit Cruz verheiratet). Während eines Stromausfalls wird ihre Tochter entführt und die Täter sollen laut einem Bekannten, der bei der Polizei war, aus ihrem direkten Umfeld stammen. Jeder misstraut nun jedem und vergrabene Ressentiments der gesamten Familie bahnen sich bald ihren Weg an die Oberfläche. Obwohl dies sehr spannend klingt, kommt "Todos lo saben" nicht so richtig vom Fleck. Zu wenig wird leider auch Cruz eingesetzt, die hier hauptsächlich nur traurig guckt.

Penelope Cruz wurde auf der anschließenden Pressekonferenz übrigens gefragt, ob sie die gleiche Bezahlung wie ihr Ehemann Javier Bardem für den Film bekam. Sie bejahte dies. Es tut sich etwas in der Filmbranche! Asghar Farhadi erinnerte bei diesem Anlass auch noch einmal an seinen iranischen Kollegen Jafar Panahi, dessen neuer Film "Three Faces" in Cannes gezeigt wird, der aber seit 2010 sein Land nicht mehr verlassen darf, da er der "Propaganda gegen die Islamische Republik" schuldig befunden wurde.

Der nächste Teil dieses Filmszene-Spotlights befasst sich mit dem russischen Punk-Rock/New-Wave/Disco-Film "Leto" (Sommer) sowie dem Filmemacher Ryan Coogler ("Black Panther") sowie dem polnischen Schwarz-Weiß-Film "Zimna Wojna" (der Kalte Krieg), in dem polnische Folkoremusik in kommunistischen Zeiten den Hintergrund für eine große Liebesgeschichte bildet.

Punkrock im Sommer, Folklore in Polen und der Filmemacher hinter dem schwarzen Superhelden "Black Panther"

Ein weiterer Filmemacher, der sich gerade unter Hausarrest befindet wie der von Farhadi genannte Jafar Panahi ist der Russe Kirill Serebrennikov, dessen wunderbar nostalgisches Musikdrama "Leto" viel Beifall nach der Pressevorführung auf dem Festival erhielt. Serebrennikov wurde kurz vor Ende der Dreharbeiten unter Hausarrest gestellt aufgrund von Vorwürfen der Veruntreuung öffentlicher Gelder beim Leiten eines Theaters. Er hatte sich zuvor gegen die Annexion der Krim und für die russische LGBT-Community ausgesprochen. Kirill wurde danach zwar erlaubt, das Postprocessing von "Leto" zuhause durchzuführen, konnte aber zum Beispiel zum Besprechen der Filmmusik nicht kontaktiert werden, was bei einem Musikfilm natürlich schwierig ist.

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"Leto" spielt im Sommer des Jahres 1981 in Leningrad und handelt von einer Dreiecksliebesgeschichte und der Entstehung einer neuen Band. Der erfahrene Star der Leningrader Rockszene ist Mike Naumenko (Roman Bilyk), der Sänger der damals auch real existierenden Band "Zoopark" (1981-1991), eine der Gruppen, die den russischen Rock begannen. Mike begegnet bei einer Strandparty Viktor Tsoi (Teo Yoo), Sänger der in der Sowjetunion später ebenfalls bekannten Band "Kino". Mike und Viktor dürfen mit ihren Bands nur auf Russisch singen und können nicht einfach Coverversionen der von allen geliebten westlichen Bands wie den Rolling Stones, den Sex Pistols oder Talking Heads machen. Bei Auftritten im von der Partei genehmigten Clubhaus darf das Publikum in "Leto" weder tanzen noch zu sehr mitwippen, da dann sofort Aufpasser einschreiten. Auch die Texte müssen von einer Dame von der Partei abgenommen werden. Viktors Liedzeilen ecken an, da sie zu sehr von seinem Slacker-Tum geprägt sind und er eigentlich nur seine Ruhe will statt zu arbeiten. Doch werden diese Sätze der Zensorin einfach als "lustige Texte" verkauft, es handele sich um eine "lustige Band" und so darf Viktor nun doch im Club auftreten. Mike ist Viktors Idol und wird sein Mentor, was dadurch kompliziert wird, da Natasha, Mikes Freundin und Mutter seines kleinen Sohns, sich in Viktor verguckt.

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In seinen schönsten Szenen erinnert "Leto" an Cameron Crowes "Almost Famous". Nicht nur gibt es tolle Musik, es wird getrunken, gefeiert, nackt gebadet und alles ist in Erwartung, was werden wird. Doch gleichzeitig handelt "Leto" auch von einem Lebensgefühl, dass wie bei "Almost Famous" nicht für immer andauern kann. In ihrer Welt jedoch sind die Protagonisten in diesem Sommer die Könige. Einmal wird Mike gefragt, ob er nicht in den Westen gehen will, weil er solch ein Talent hat. Er antwortet schlicht: "Es lebt sich ganz gut im Sumpf, wenn man die Kröte Nummer 1 ist." Es ist nicht nur die Musik, die einen für "Leto" einnimmt, sondern auch die eigenwillige Ästhetik, die mal an Musikvideos, mal an gekritzelte Tagebucheinträge erinnert. Absurd, aber herrlich sind die wilden Szenen, in denen westliche Musik nachgesungen wird und die Refrains von irgendwelchen Passanten kommen. In der interessantesten Szene wird der junge Musiker namens "Punk" von einem Kriegsveteranen dafür bepöbelt, dass er ein Punk ist. Daraufhin ziehen die Jungs prügelnd und "Psycho Killer" mit den S-Bahn-Mitfahrern singend durch die Waggons.

Die Schwarz-Weiß-Sequenzen werden immer wieder mit Kritzeleien in weiß und rot übermalt und am Ende erscheint einmal mehr ein junger Mann namens "Skeptik" und hält ein Schild hoch, dass dies alles gar nicht passiert ist. Skeptik negiert während des Films immer wieder das gerade Geschehene, wenn es gegen das repressive System revoltiert hat. Trotz ein paar Längen ist "Leto" einfach ein richtig großer Spaß, was in Cannes aufgrund oftmals sehr ernster Filminhalte nicht so oft der Fall ist.

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Ein Film mit Musik ganz anderer Art ist das Werk "Zimna Wojna" (der Kalte Krieg) des polnischen Regisseurs Paweł Pawlikowski, in dem manche Kritiker schon den potentiellen Gewinnerfilm des Festivals sehen. Pawlikowski gewann mit seinem vorigen Werk "Ida" den Oscar für den besten fremdsprachigen Film und die Erwartungen an sein neues Werk waren entsprechend hoch. "Zimna Wojna" ist ein Film, der wirkt, als habe man den polnischen Film mit dem französischen verheiratet, eine visuell bestechende Kritik der kommunistischen Zeit in Polen, eingerahmt in eine große Liebe über alle Hindernisse und Ländergrenzen hinweg. Das Ganze spielt vor dem Hintergrund polnischer ländlicher Folkloremusik und Folklorentänze. Und das wie schon bei "Ida" auch noch in Schwarz-Weiß und im fast quadratischen Filmformat von 1,37:1. Die Kameraaufnahmen sind fantastisch, die Musik trägt die Liebesgeschichte durch den Film und die Schauspieler sind jederzeit überzeugend, wenn sie auch nur wenig gemeinsame Chemie haben, was die einzige Schwäche ist.

Der Dirigent und Pianist Viktor (Tomasz Kot) und die Choreographin Irena (Agata Kulesza) nehmen im Süden Polens in den Bergen traditionelle Gesänge auf und suchen dafür Talente aus den Dörfern, aus denen sie einen Chor polnischer Folkoresänger und -tänzer schmieden können. Unter den Vorsingenden ist auch Zula (Joanna Kulig), die auf Bewährung in Freiheit ist. Der Dirigent kann seine Augen nicht mehr von ihr nehmen und befragt sie nach den Gründen für ihre Haft: "Mein Vater hat mich mit meiner Mutter verwechselt und ich habe ihm mit einem Messer den Unterschied gezeigt." Die Truppe wird schnell berühmt, doch reicht es der Partei bald nicht mehr, nur Folkloremusik zu hören, sondern nun sollen auch Lieder über das internationale Proletariat einstudiert werden. Die Chorleiter können sich nicht dagegen sträuben. Viktor wird immer unglücklicher und weiß mittlerweile auch noch von seiner Geliebten Zula, dass sie ihn als Teil ihrer Bewährungsauflagen bespitzeln muss. So wollen beide beim anstehenden Konzert in Ostberlin rübermachen. Doch Ost und West liegen hier nicht nur ideologisch, sondern auch artistisch weit auseinander.

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Eine besondere Reihe in Cannes sind die "Rendezvous mit...", früher noch "Masterclasses" genannt. Der für das Rendezvous vorgesehene Saal ist jedes Jahr zu klein, man steht Stunden vorher an, alle sind ganz aufgeregt und wenn man es hineingeschafft hat, so ist es jedes Mal eine Bereicherung. Selten kommt man Regisseuren, Schauspielern oder Filmmusikkomponenten so nahe außerhalb des persönlichen Interviews. Zudem sitzt man inmitten von Stars, die sich das auch nicht entgehen lassen wollen, wie zum Beispiel 2012 Nicole Kidman und Clive Owen oder dieses Mal der Rapper "The Weeknd" und der französische Instagram-Star "Wilhem".

So war es auch beim "Rendezvous mit Ryan Coogler", dem Regisseur von "Black Panther" und "Creed - Rocky's Legacy". Im Publikum saßen diesmal auch zwanzig junge schwarze Filmstudenten, die Coogler in Paris und Marseille hatte von der französischen Schauspielerin  Aïssa Maïga aussuchen lassen und die von ihm die Reise nach Cannes als Nachwuchsförderung bezahlt bekamen. Auch Coogler hatte einst eine besondere Form der Nachwuchsförderung erfahren: Wie er erzählte, hatte er das Glück, dass Forrest Whittaker damals junge Filmstudenten kennenlernen wollte, um gemeinsam Projekte zu machen. Whittaker  gefiel Ryans Pitch von "Nächster Halt: Fruitvale Station" über Racial Profiling in den USA, und so wurde der Film tatsächlich produziert. Nach "Fruitvale Station" durfte Coogler dann "Creed - Rocky's Legacy" drehen und mit der Marvel-Verfilmung von "Black Panther" gelang dem Regisseur mit dreißig schon der endgültige Durchbruch auf der internationalen Bühne. Dreißig war für Ryan Coogler eine besondere Zahl, denn er hatte sich dieses Alter nie vorstellen können: In Oakland, wo er aufwuchs, war man als afroamerikanischer Mann mit 25 Jahren entweder tot oder im Gefängnis. Doch Coogler schaffte es raus und hatte auch noch etwas, was viele seiner Freunde nicht hatten: Ein gutes Verhältnis zu seinem Vater, der dazu auch noch Teil der Familie war - nicht verschwunden, im Knast oder getötet.

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Als er für "Black Panther" zugesagt hatte, wurde er erst einmal sehr aufgeregt, was er sich da aufgeladen hatte und welche immensen Erwartungen es an diesen Film geben würde. Seine Frau schickte ihn daraufhin in den Comic-Laden gegenüber seiner alten Grundschule, in dem er damals die Black-Panther-Comics entdeckt hatte. Ryan Coogler hing als Kind jeden Tag nach der Schule vor dem Basketball-Training im Laden rum und las, bis man ihn rauswarf, da er kaum Geld für Comics hatte. Eines Tages fragte er, ob es auch Comics gäbe, in denen schwarze Menschen wie er vorkommen und bekam ein Heft von Black Panther in die Hand gedrückt.

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Das Basketball-Training ermöglichte ihm später ein Stipendium für die Uni. Zufällig war dort eines seiner Pflichtfächer "Kreatives Schreiben". Ryans Lehrerin erkannte sein Talent und ermutigte ihn. Doch auch seine Eltern hatten ihn schon filmisch geprägt: "Mein Vater mag Filme, in denen Menschen auf die Fresse bekommen - wie zum Beispiel Chuck-Norris-Filme. Meine Mutter hat mehr Filmgeschmack, aber natürlich sahen wir nie fremdsprachige Filme. Mein erster fremdsprachiger Film war an der Uni, als ich Meirelles brasilianischen Film "City of God" sah." Ebenfalls inspirierten ihn Alfonso Cuaróns "Y tu Mamá también" sowie Alejandro González Iñárritus "Amores Perros" und Jacques Audiards "A Prophet".

Coogler fragte Marvel, wie sie sich Black Panther vorstellten. Sie wollten ihn als James-Bond-Figur, der dem Marvelfilmuniversum ihrer Meinung nach noch fehlte. Doch je mehr sich Coogler mit dem Stoff beschäftigte, deso mehr merkte er, dass ihn das Verhalten der Leute aus Wakanda an die Mafia erinnerte. Und so wurde "Der Pate" seine Inspiration für den Film. Coogler berichtet, er hätte dies lange niemandem erzählt, da er annahm, dass die Leute ihn für völlig abgehoben halten, wenn er einen Superheldenfilm im Stile des Paten machen will. Als Vorbereitung für Black Panther wurden jedoch nicht nur Mafia-Filme geguckt, sondern Coogler fuhr auch zum ersten Mal im Leben nach Afrika. Seine Tour dort startete in Kapstadt, wo er in "Disney-genehmigten" Hotels wohnte, in denen die einzigen Mitarbeiter, die ebenfalls schwarz waren, die Hotelpagen und Küchenjungen waren, mit denen er fortan viel Zeit verbrachte. Einer der Hotelpagen nahm ihn mit ins Township zu seiner Familie, wo er immer wieder zu Besuch kam und viel über den Alltag der Schwarzen in Afrika lernte. Später fuhr er nach Kenia, wo die Familie von Lupita Nyong'o lebte. Die Spuren der Kolonialisierung bemerkt man laut Coogler in Afrika überall, so wie auch die Kolonialisierung alle Afroamerikaner geprägt hat. Coogler fand die Figur von T'Challa, dem Helden seines Films, auch daher so spannend, weil er ein schwarzer Mann ist, der nie Kolonialisierung erfahren hat, ohne Ängste aufwuchs und im Bewusstsein, dass er eines Tages über Wakanda herrschen würde. Sein Gegenspieler hingegen, Killmonger, wuchs mit einem großen Bewusstsein der Kolonialisierung in den USA auf und war, wie auch Ryan Cooglers Freunde im Kindesalter, ohne Vater zurückgeblieben.

Die Premiere von "Black Panther" fand Coogler einfach irre: nicht nur waren George Lucas und seine Frau Mellody da, sondern auch etwa 50 Familienmitglieder des Regisseurs inklusive seiner 90-jährigen Oma und sein 90-jähriger Schwieger-Opa, beide im Rollstuhl. "Bei dieser Premiere fühlte ich mich als Teil einer großen Familie aller anwesenden Kinobesucher, auch mit denen verwandt, die ich bislang noch gar nicht kannte." Mit diesen Worten und einem Lächeln schloss der immer noch etwas schüchtern wirkende Ryan Coogler das Rendezvous.

Im nächsten Teil dieses Berichts geht es um einen schlafenden Riesen der Filmbranche, einen alten Meister und seinen neuen Experimentalfilm und um den Mann hinter der Dark-Knight-Trilogie.

Die neue Filmnation Saudi-Arabien, Konfuses vom Altmeister und Erhellendes von Christopher Nolan

Mitte April öffnete in Saudi-Arabien nach 35 Jahren das erste Kino wieder mit dem Film „Black Panther“, der dem Kronprinzen Salman gut gefiel, da es darin um einen Prinzen geht, der sein Land modernisiert – so wie Salman es seit 2017 selber tut. Schon 2012 hatte es trotz des Kinoverbots ein Film einer saudi-arabischen Regisseurin, Haifaa Al Mansour, auf die internationale Bühne geschafft: „Das Mädchen Wadjda“, der erste abendfüllende Film mit saudi-arabischer Regie überhaupt.

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In Cannes ist Saudi-Arabien 2018 nun zum ersten Mal vertreten und stellte sich bei einem Frühstück mit der Presse im 5-Sterne-Hotel als „der schlafende Riese der Filmbranche“ vor. Viele Filmproduzenten sind interessiert, denn Saudi-Arabien ist ein reiches Land mit gleichzeitig sehr jungen Bewohnern. Die absolute Monarchie will eigene Talente ins Ausland schicken, eigene Filmschulen etablieren sowie durch hohe Förderquoten internationale Produktionen ins Land holen. Trotzdem gibt es weiterhin Zensur und an heiligen Stätten wie in Mekka darf nicht gefilmt werden, wie man erfuhr.

Die anwesenden Journalisten und Filmbranchenvertreter stellten viele kritische Fragen, besonders zu Frauenthemen, von den Kleidungsvorschriften bis hin zu Zensur und der Förderung weiblicher Talente. Die Fragen hörten einfach nicht auf, so dass das Saudi Film Council später noch zu einer Diskussion zu Frauen in seiner Filmbranche einlud und offen zugab, dass die erfolgreicheren saudi-arabischen Filmemacher Frauen sind, wie eben Haifaa Al-Mansour.

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Ähnlich kontrovers wie die Politik Saudi-Arabiens kann man auch den Wettbewerbsbeitrag „Le Livre d‘image“ („Das Buch des Bildes“) von Regielegende Jean-Luc Godard diskutieren, dem mit 87 Jahren auch ältesten im Wettbewerb vertretenen Filmemachers. Das Werk besteht nur aus Filmschnipseln von wenigen Sekunden, manchmal sogar nur Sekundenbruchteilen, und Ton- und Musiksequenzen, die nicht mit dem Filmausschnitt zusammenpassen müssen, sowie dem Monolog des Meisters, der teils recht abstruse Dinge sagt. Godards „Le Livre d‘image“ zeigt eine düstere Weltsicht, sinniert über die Bedeutung des Bildes anhand von hunderten verschiedener Werke, von Hitchcocks „Vertigo“ bis hin zu You-Tube-Videos des IS, zeigt Atombomben und Vietnamszenen sowie ein ganzes Kapitel über Züge.

Godard ist in Cannes zwar nicht körperlich anwesend, doch thront er über allem, weil das diesjährige Plakat aus einem seiner älteren Filme stammt. Seine frühen Werke wie „Außer Atem“ kennen viele, doch das Spätwerk dieser Ikone der „Nouvelle Vague“ interessiert in seiner Radikalität des „Nicht-Erzählerischen Erzählens“ mittlerweile nur noch eine sehr kleine Fan-Schar an Cineasten. Man stellt sich die Frage, ob diese Filme mittlerweile nicht in musealen Sammlungen von Videokunst passender aufgehoben wären. Trotz seiner Radikalität und der Tatsache, dass Godard nur per Facetime auf einem Handy an der Pressekonferenz zu seinem Film teilnahm, so dass sich die Journalisten einzeln über das Telefon beugen mussten, bekommt „Le Livre d‘image“ in Cannes sehr gute Kritiken. Ein paar Filmkritiker aus Großbritannien gestanden nach der Vorführung: „Wir können gar nichts negatives über Godard schreiben, in England wird er geliebt und die Leute erinnern sich nur an sein Frühwerk.“

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Ein weiteres „Rendezvous“ in Cannes fand mit dem Mann hinter der Dark-Knight-Trilogie statt. Christopher Nolan wollte in Cannes weniger über Inhalte als über Film-Technik sprechen, auch weil er hier war, um zum 50-jährigen Jubiläum von Stanley Kubricks „2001 - Odyssee im Weltraum“ den Film auf 70 Millimeter zu zeigen, um einem jüngeren Publikum diesen Meilenstein wieder so erfahrbar zu machen, wie er damals 1968 gesehen wurde. Im Publikum des Rendezvous saßen daher auch der Hauptdarsteller von „2001“, Keir Dullea, sowie Kubricks Stieftochter Katharina Kubrick. Nolan selbst sah „2001“ als Kind mit seinem Vater in London im Kino und war nach eigener Aussage damals sehr erstaunt über diese ganz andere Art des Erzählens.

Nolan schaffte es nicht an eine Filmschule und drehte anfangs einfach samstags mit seinen Freunden Filme. „Man wusste nie, wer kommen würde und so mussten wir alles mal machen, vom Schnitt bis zum Ton, daher bin ich heute ganz schön nervig für meine Filmcrew, da ich alles schon mal gemacht habe und genug mitreden kann, um ihnen zu sagen, wenn sie etwas noch besser machen könnten.“ Statt Film studierte Nolan Englisch und sagt heute, dass er durch sein Literaturstudium unglaublich viel lernte, was er später als Filmemacher brauchen konnte. Anfänglich fand er es unerträglich, dass die Intention des Autors oftmals gar nicht so beim Publikum ankommt, sondern dass dieses auch Dinge in ein Werk interpretiert, die der Autor gar nicht bewusst hineingetan hat. Erst die Interpretation anderer Werke im Studium zeigte ihm, dass das okay ist und er sich nicht so darüber aufregen muss.

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Nolan gibt zu, dass er den analogen Film liebt und es in „Dunkirk“ vermeiden wollte, digitale Effekte einsetzen zu müssen. Darum nutzte er „Old School“-Techniken und verwendete unter anderem Pappfiguren von Soldaten in Massenszenen sowie Papp-Laster im Bildhintergrund. Er bemängelt, dass mittlerweile bei der Archivierung des Filmerbes nicht mehr die brennbaren Original-Filmrollen eingelagert werden, sondern alles stattdessen digitalisiert wird. Für ihn ist wichtig, dass es sich beim digitalen Film und beim analogen Film um zwei sehr unterschiedliche Formate handelt, die beim Betrachten auch ganz unterschiedliche Reaktionen auslösen. Und in Nolans Auffassung ist die analoge Filmkunst der Wahrnehmung der Welt durch das menschliche Auge am ähnlichsten.

Angesprochen auf seine Batman-Trilogie sagte Nolan, dass er die drei Filme durch ihre jeweiligen Bösewichte in verschiedenen Filmgenres angesiedelt hätte: „Batman Begins“ ist ein Heldenfilm, „The Dark Knight“ ein Kriminalfilm und „The Dark Knight Rises“ ein Kriegsepos. Nolan gab auch offen zu, dass er für die Trilogie viel aus den Bond-Filmen geklaut hat.

Christopher Nolan ist ein geübter Erzähler, der ruhig und sympathisch wirkt und sich sehr genaue Gedanken zu seinem Werk gemacht hat. Nach zwei Stunden hatte man zwar wenig über ihn als Person, aber viel über seine Arbeit gelernt.

Im nächsten Teil dieses Spotlights geht es um iranische Schauspielerinnen, kurdische Peshmerga-Kämpferinnen und sehr viele Frauen auf dem Roten Teppich.

Frauen im Widerstand: Gegen die Zwangshochzeit, gegen den IS, gegen die Machokultur

„Nein, Mama, ich mache keinen Film. Nein, du wärst die erste, der ich davon erzählen würde, ich verspreche es dir!“ So telefoniert der iranische Filmemacher Jafar Panahi in seinem neuesten Werk im Wettbewerb in Cannes, „Three Faces“ im Auto mit seiner Mutter. Dem zu Hausarrest verurteilten Panahi ist es seit 2010 untersagt, 20 Jahre lang einen Film zu machen. Dies hält ihn aber nicht davon ab, durchgehend zu drehen, wenn auch in einem anderen Setting als zuvor, oft mit dem Telefon gefilmt und mit wenigen Helfern, um diese nicht in Schwierigkeiten zu bringen. In Cannes laufen seine Werke weiterhin: Schon 2011 wurde sein Film „This is not a film“ zum Beispiel auf einem USB-Stick in einem Kuchen vom Iran aus nach Frankreich geschmuggelt.

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Der wieder mit einer Filmkamera gedrehte „Three Faces“ ist ein sehr intimes Werk über drei Schauspielgenerationen: eine junge Aktrice noch vor der Schauspielschule, eine berühmte iranische Darstellerin und eine, die vor der Revolution sehr bekannt war, aber danach nie wieder Rollen bekam. Die junge Marziyeh (Marziyeh Rezaei) schickt der bekannten Schauspielerin Behnaz Jafari (Behnaz Jafari) ein Handyvideo auf das Telefon von Jafar Panahi. Sie hat versucht Jafari zu erreichen, weil sie an der Schauspielschule angenommen wurde, aber ihre Eltern im Bergdorf sie stattdessen verheiraten wollen. Sie weiß keinen Ausweg mehr. Dann nimmt sich das Mädchen einen Strick und erhängt sich an einem Ast. Jafari verlässt sofort ihr derzeitiges Filmset und macht sich mit Panahi im SUV auf den Weg, der Geschichte auf den Grund zu gehen. Sah der Ast, an dem der Strick hing, nicht zu dünn aus, um sich damit zu erhängen? Wurde das Video vielleicht geschnitten? Jafari sagt zu Panahi: „Wenn ich rausfinde, dass dies ein Schwindel ist, dann knöpfe ich mir das Mädchen vor – und dich auch! Ich habe vor einer Weile gehört, du würdest an einem Drehbuch über Selbstmord schreiben.“ Es sind solche Sätze, die das Publikum immer wieder auf die Meta-Ebene verweisen, so wie auch später im Film angesprochen wird, dass Panahi nicht ins Ausland reisen darf. Dies gibt seinen Werken schon seit Jahren eine dokumentarische Wirkung, auch wenn man weiß, dass es sich um fiktionale Inhalte handelt.

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Das Leben im Dorf, aus dem Marziyeh stammt, ist vom Glauben an die männliche Dominanz geprägt. Dort lebt auch eine alte Schauspielerin von vor der Revolution, mit der die Mädchen aber keinen Umgang haben dürfen, aus Angst der Männer, sie könne diese verderben. Ein Mann prahlt mit der Besamungsfähigkeit seines Zuchtbullen und will Panahi sogar ein Rinderhoden-Sandwich verkaufen für mehr Manneskraft. Der Aufenthaltsort der entfernten Vorhaut eines Sohnes ist von schicksalshafter Bedeutung und Frauen brauchen keine Berufe, sondern Ehemänner. Panahis eigene Probleme scheinen zu verblassen gegenüber den Schwierigkeiten, denen sich die Frauen hier ausgesetzt sehen. Sein Film zeigt berührend den Widerstand gegen diese Welt im Kleinen wie auch im Großen.


Der Wettbewerbsbeitrag der französischen Filmemacherin Eva Husson „Les Filles du Soleil“ (Girls of the Sun) ist hingegen ein eher konventionell gefilmtes Werk, wenn auch mit einem untypischen Blick auf den Kampf gegen den IS: Husson zeigt ein rein weibliches Bataillon von ehemaligen Gefangenen des IS. Der Film spielt in den Tagen, in denen das Bataillon seine Heimatstadt Corduene zurückerobern will. Der männliche General schickt sie fast allein in diesen Angriff, weil er keine Männer verlieren will. Für die IS-Kämpfer auf der anderen Seite ist es hingegen eine Schande, von einer Frau getötet zu werden. Das Bataillon wird angeführt von Bahar (Golshifteh Farahani), deren Lebensgeschichte man in Rückblicken gezeigt bekommt, wenn sie der Kriegsreporterin Mathilde (Emmanelle Bercot) davon erzählt. Bahar war Anwältin mit Mann und Kind, als die Stadt überfallen wurde. Die Männer wurden erschossen, die Frauen und Mädchen als Sexsklavinnen mitgenommen, ihre Söhne in „Löwenjungen-Schulen“ gebracht, wo sie im Töten ausgebildet werden sollen.

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Bahar sagt, die Frauen und Mädchen wurden den Männern schnell langweilig, alle zwei bis drei Wochen wurden sie weiterverkauft an den nächsten. Die Journalistin Mathilde hat ihr eigenes Bündel an Unglück zu tragen: Sie trägt eine Augenklappe, nachdem sie in Homs von Bombensplittern getroffen wurde, und sie hat drei Monate lang nicht mehr mit ihrer kleinen Tochter gesprochen, seit ihr Mann, ebenfalls ein Kriegsreporter, getötet wurde.

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Eva Husson setzt die Geschichte dieser Frauen mit großem Pathos um, es gibt viele Aufnahmen der traurig in die Ferne blickenden Bahar sowie einen eher überbordenden Einsatz von Musik, aber der Film nimmt einen trotzdem sehr mit. Die Gewalt gegenüber Frauen findet off-camera statt, wirkt damit aber umso mehr. Husson sagt, wenn Gewalt gegen Frauen in Filmen gezeigt wird, so sei diese oft voyeuristisch. Sie wollte es anders machen. Gleichzeitig wehrt sich die Regisseurin gegen die Einordnung ihres Werks als Frauenfilm, sondern will ihn stattdessen als Film aus der Perspektive einer Frau über Frauen verstanden wissen.

Auch an der Croisette wurde ein Denkmal für Frauen gesetzt: Vor der Premiere von „Les Filles du Soleil“ liefen genauso viele berühmte Frauen der Filmbranche gemeinsam über den roten Teppich, wie es in der gesamten Geschichte von Cannes Filme von Regisseurinnen im Hauptwettbewerb gab. Die Jury-Präsidentin Cate Blanchett, wie viele aus Protest in Schwarz gekleidet, war die zentrale Figur dieses Aufmarsches für gleiche Bezahlung und für ein Ende der sexuellen Belästigung von Frauen in der Branche. Auch Salma Hayek, Kristen Stewart, Helen Mirren und Patty Jenkins, die Macherin von „Wonder Woman“, waren unter den 82 Frauen auf dem Roten Teppich. Den 82 Filmemacherinnen in den Hauptwettbewerben aus 71 Jahren des Festivals stehen übrigens 1645 Männer gegenüber. Und gewonnen haben von ihnen nur zwei: Jane Campion mit dem Film „Das Piano“ im Jahr 1993, und 2015 bekam die französische Filmemacherin Agnès Varda eine Ehren-Palme für ihr Lebenswerk.

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Der nächste Teil dieses Spotlights handelt von einem argentinischen Papst, einem italienischen Heiligen und einem afroamerikanischen Ku-Klux-Klan-Mitglied.

Der Papst lächelt, ein Heiliger pflückt Tabak und ein Afroamerikaner wird Mitglied des Ku-Klux-Klans

In der intimen Dokumentation“Pope Francis – A Man of His Word“, die in Cannes als Sondervorstellung gezeigt wird, kommt der berühmte Autorenfilmer Wim Wenders („Paris, Texas“, „Pina“, „Buena Vista Social Club“) dem Papst so nahe wie es kaum jemand außerhalb seines Stabes sonst tut. Das Projekt wurde initiiert vom Vatikan und mit seiner vollen Kooperation durchgeführt und so ist es auch nicht verwunderlich, dass das Bild von Papst Franziskus hier ein rein positives ist, wunderbar musikalisch hinterlegt und fantastisch bebildert. Der Papst lebt, was er predigt, ist die zentrale Aussage des Films. Franziskus wird bei seinen Auslandsreisen gezeigt, bei einer Standpauke für die Kurie (der er geradeheraus sagt, dass sie, wenn sie nicht bereit ist, selbstkritisch zu sein, spirituellen Alzheimer bekommt) und direkt in die Kamera sehend und sprechend zuhause in den Vatikanischen Gärten.

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Er wäscht die Füße von Gefängnisinsassen und betet mit diesen, er kämpft für die Armen und für die seiner Meinung nach Ärmste von allen, die Mutter Erde. Der Papst zitiert Dostojewski und findet die Einbindung naturwissenschaftlicher Fakten im Gespräch über den Umweltschutz lebenswichtig. Immer wieder sieht das Publikum ihn den Menschen zuhören und ihnen auch immer die Hände geben, wo er kann. Schwester Eufemia aus Argentinien, die er einmal im Jahr 1969 traf, erkennt er in einer Menschenmenge sofort wieder und holt sie zu sich. Papst Franziskus spricht vor dem US-Kongress, vor den Vereinten Nationen, auf Lampedusa, nachdem ein Schiff mit unzähligen Flüchtlingen unterging, und auf den Philippinen im gelben Plastik-Regencape, wo gerade ein Taifun den Menschen alles nahm. Über den Islam und das Judentum sagt er: „Niemand kann bestreiten, dass wir alle die Kinder Abrahams sind, ob man es mag oder nicht!“ Jeden Morgen beginnt der Papst seinen Tag mit dem Rezitieren eines Saint-Thomas-More-Gebetes, „Prayer for Good Humour“, in dem um gute Verdauung, um das Lächeln und um einen Sinn für Humor gebeten wird.

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Leider erfährt man in „Pope Francis“ wenig über den Mann Jorge Mario Bergoglio, also die Zeit, bevor er Papst wurde. Auch sind die in schwarzweiß nachgestellten Szenen aus dem Leben des Franziskus von Assisi (dieser Papst ist der erste, der diesen Heiligennamen annahm) kitschig und lenken eher ab als zu erhellen. Trotzdem ist „Pope Francis – A Man of His Word“ sowohl für Katholiken als auch für Nicht-Katholiken sehenswert als Bildnis eines Mannes, der tatsächlich das lebt, was er anderen Leuten auch predigt: Armut, Demut und eben auch einen Sinn für Humor.


Ein weiterer hochgelobter Film in Cannes ist der Wettbewerbsbeitrag „Lazzaro Felice“ („Happy as Lazzaro“) der Italienerin Alice Rohrwacher. 2014 gewann die Filmemacherin für ihr Werk „The Wonders“ in Cannes schon den Großen Jury-Preis. Lazzaro (Adriano Tardiolo) lebt in einem abgelegenen armen Dorf in Italien, wo etwa 50 Personen unter ärmsten Bedingungen hausen wie noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts, auch wenn Walkmans und klobige Handys anzeigen, dass es eine andere Zeit ist. Die Menschen dort arbeiten als Farmpächter für die Marchesa Alfonsina de Luna (genannt die Viper), die ihnen vorenthalten hat, dass das Farmpächtertum schon im Jahre 1980 abgeschafft wurde. Lazzaro ist so gutmütig und hilfsbereit, dass er von den anderen ausgenutzt wird. Als der große Schwindel auffliegt, ziehen die Dorfbewohner in die Stadt, wo es ihnen jedoch auch nicht viel besser ergehen wird. „Lazzaro Felice“ sieht visuell aus wie ein neo-realistischer Film, ist aber laut der Regisseurin eine Fabel, und nicht ohne Grund heißt die Hauptfigur Lazarus wie der biblische Charakter. Das Werk ist berührend, die Geschichte liebevoll erzählt und vom Hauptdarsteller wunderschön gespielt. Und sogar die diversen Themen von Kapitalismuskritik und Kritik am Verhalten der Kirche bis zum Hoch auf den guten Menschen vereinigen sich hier zu einem stimmigen Werk.

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Ein ganz anderes Werk mit politischer Aussage ist „Blackkklansman“ von Spike Lee.  Spike Lee ist einer der Begründer des „New Black Cinema“ der 80er Jahre und machte viele afroamerikanische Schauspieler berühmt wie zum Beispiel Halle Berry, Denzel Washington, Samuel L. Jackson und Laurence Fishburne. Seine eigene Karriere begann in Cannes, als er hier den Pris de Jeunesse für seinen Master-Abschlussfilm „Joe‘s Bed-Stuy Barbershop: We Cut Heads“ (1982) bekam. Sein Kommilitone Ang Lee („Tiger and Dragon“, „Brokeback Mountain“) übernahm dabei die Regieassistenz, Oma finanzierte den Film und sein Vater machte die Filmmusik dazu. „Barbershop“ kostete 175.000 Dollar und spielte 8 Millionen Dollar ein und machte ihn über Nacht bekannt.

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Was einem bei „Blackkklansman“ zuerst umhaut ist die Wut Lees gegenüber der Rassendiskriminierung von Afroamerikanern in den USA, aber auch die unglaubliche Freude daran, diese auf einer wahren Geschichte basierende irrsinnige Erzählung verfilmen zu können. Ron Stallworth (John David Washington) ist der erste afroamerikanische Polizist im Colorado Springs Police Department. Er stellt telefonisch Kontakt zum Ku-Klux-Klan-Kapitel vor Ort her, um diesen zu infiltrieren, denn der Klan will zukünftig öffentlich seriöser und harmloser wirken, um an höhere politische Ämter zu kommen. Der Klan möchte Ron auch gerne aufnehmen, doch muss dieser nun aufgrund seiner Hautfarbe jemanden finden, den er an seiner Stelle hinschicken kann. So macht sich der Polizist Flip Zimmerman (Adam Driver), als Jude auch eine vom Klan verhasste Person, auf den Weg zu den Kapuzenträgern, die gerade ein Bombenattentat planen.

Lee weiß um die Wirkung des Kinos und bezieht sich nicht nur Werke wie „Vom Winde Verweht“ oder „Birth of a Nation“ in seinem Film, sondern weist auch mit dokumentarischem Material von heute darauf hin, dass die Situation sich seit 1979 (als der Film spielt) nicht groß verbessert hat, sondern auch heute noch genauso Rassendiskriminierung Menschenleben kostet. Lee schafft es, dass man sowohl viel lachen muss, als auch, dass einem das Lachen im Hals stecken bleibt. Darin erinnert "Blackklansman" an den fantastischen „Three Billboards Outside Ebbing, Missouri“.

Im nächsten Teil dieses Spotlights wird auf der „Solo“-Premierenparty getanzt, mit dem Bürgermeister und der Jury gespeist und nach dem herausragenden Wettbewerbsfilm einer Regisseurin geweint.
 

Tanzen auf glamourösen Parties, ein Mittagessen mit der Jury und viele Tränen bei einem libanesischen Film

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Die Filmfestspiele von Cannes sind nicht nur bekannt für ihre Filme, sondern auch für glamouröse Partys. Hier lernte Grace Kelly 1955 Fürst Rainier von Monaco kennen, Brigitte Bardot wurde hier bekannt und auf einer Soiree für Federico Fellinis "La Dolce Vita" stellten Tänzerinnen vor Ort die berühmte Szene im Trevi-Brunnen aus dem Film nach. Doch mittlerweile sind die richtig großen Partys weniger geworden und werden zudem oftmals optimiert für das Bilderteilen in den sozialen Medien. So war es auch dieses Jahr auf der riesigen Premierenparty von Ron Howards "Star Wars"-Spin-Off/Prequel "Solo" am Strand des 5-Sterne-Hotels Carlton. Rundherum gab es Fotokulissen als Hintergründe: Man konnte sich mit einer Chewbacca-Figur fotografieren, vor einer Millenium-Falcon-Pappwand ablichten und dann noch mit einer VR-Brille in das Star-Wars-Universum eintauchen. Ein spektakuläres Feuerwerk zur Filmmusik, fantastisches Essen und die coole französische DJane Maggy Smiss vervollständigten die Party und es wurde getanzt bis um 3 Uhr morgens. Stars gab es hier außer dem frankokanadischen Filmemacher Denis Villeneuve, der in der offiziellen Jury sitzt, allerdings nicht zu sehen, denn diese waren alle bei der gleichzeitigen Feier zu Ehren von John Travolta, wo auch 50 Cent auftrat. Das einzige, was der Weltöffentlichkeit von dieser Party in Erinnerung bleiben könnte, ist das eher an peinlich tanzende Familienväter erinnernde virale Tanzvideo von Travolta.

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Eine ganz andere große Veranstaltung findet jedes Jahr in Cannes für die aus aller Welt angereisten Journalisten statt: Der Bürgermeister lädt die Presse zum Lunch mit ihm und der offiziellen Jury auf das Kastell über der Stadt mit Blick auf die Croisette und das Festivalzentrum. Es gibt tolles Essen, eine fantastische Aussicht und einen Haufen Polizei, die vor der Absperrung steht hinter der die Jury getrennt von der Presse ihr Mittag einnimmt, danach aber auch gleich weiter muss. Cate Blanchett sieht aus der Nähe genauso wunderschön aus wie im Film, Kristen Stewart guckt schwer gelangweilt wie sonst auch immer (sie rollte bei der Eröffnung des Festivals sogar mit den Augen, als sie von Festivalpräsident Thierry Frémaux vorgestellt wurde) und die Sängerin Khadja Nin aus Burundi trägt wie immer einen eleganten Turban. Der Lunch ist auch ein Branchentreffen und so spricht man natürlich auch über die bisherigen Favoriten des Festivals.

Ein großer Favorit ist dieses Jahr der Film "Capharnaüm" ("Capernaum") der libanesischen Filmemacherin Nadine Labaki, der nach der Premiere eine ganze Viertelstunde lang stehende Ovationen erhielt. Die Filmpresse kam mit verweinten Augen aus dem Pressevorführungssaal, denn "Capharnaüm" trifft einen wie damals "Slumdog Millionaire" sehr hart in seiner Darstellung von Kinderarmut, Kinderarbeit und Kindesmisshandlung. Von manchen wird diese Gattung abfällig als "Armutsporno" bezeichnet, doch ist Labakis Blick nicht voyeuristisch, sondern anklagend und oftmals dokumentarisch wirkend.

Der 12-jährige Zain (Zain Alrafeea) steht in Handschellen vor einem Richter. Er wurde zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt, weil er einen Mann mit einem Messer angriff. Doch vor diesem speziellen Richter steht er, weil er seine Eltern verklagen will - dafür, dass sie ihm das Leben schenkten. Diese Rahmengeschichte klingt absurd, ist es auch, doch sie nimmt nur wenig Zeit im Film ein und es sind die in Rückblenden gezeigten Szenen, die zu dieser Verhandlung führen, die den meisten Raum bekommen und schließlich auch zeigen, warum Zain im Gefängnis und nun eben vor diesem Richter landete.

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Zain lebt in extremer Armut mit seinen mehr als sieben Geschwistern und Eltern in einem dauernd unter Wasser stehenden Miniapartment in Beirut. Der Vermieter und auch sein Chef - denn Zain muss arbeiten, statt zur Schule zu gehen - ist der Gemüsehändler Assaad, der ein Auge auf Zains Schwester Zahar geworfen hat. Zain versucht sie vor der frühen Verheiratung zu schützen, als sie zum ersten Mal ihre Tage bekommt, doch wird sie von der Familie trotzdem für ein paar Hühner an Assaad gegeben. Zahar ist zu diesem Zeitpunkt 11 Jahre alt.
Zain läuft von zu Hause weg und trifft in einem Vergnügungspark, in dem er Arbeit sucht, die äthiopische Einwanderin Rahil (Yordanos Shiferaw), die unter anderem als Klofrau arbeitet, wobei sie in einer Toilette ihren einjährigen Sohn Yonas versteckt (gespielt von dem Mädchen Boluwatife Treasure Bankole). Sie lebt in einer Slumhütte ohne Aufenthaltsgenehmigung und versucht genug Geld für einen neuen Personalausweis zusammenzubekommen, damit sie nicht ausgewiesen wird. Der Dokumentenfälscher und Menschenhändler sowie Schleuser Aspro (Alaa Chouchnieh) verlangt, dass sie ihm in sieben Tagen 1500 Dollar bringt, ansonsten wird er ihr das Baby wegnehmen und sie den Behörden verraten. Als Rahil eines Tages nicht mehr heimkommt, muss Zain sich und das Baby selbst ernähren.

"Capharnaüm" ist im Mittelteil kaum aushaltbar traurig, schafft es aber durch fantastische Kameraarbeit (oft auf Kindeshöhe gedreht, nah, dann wieder von Dronen aus von oben gefilmt), hervorragenden Schnitt und passende Filmmusik vom Mann der Regisseurin den Zuschauer auch in diesen Momenten nicht zu verlieren. Die Schauspieler wirken nicht nur glaubwürdig, sie haben solche Szenen selbst erlebt: Die Darstellerin der Äthiopierin wurde zum Beispiel während der Dreharbeiten ausgewiesen, da sie illegal im Land war, und der Junge stammt aus einer syrischen Flüchtlingsfamilie mit 12 Geschwistern und arbeitet, seit er 10 Jahre alt ist, statt zur Schule zu gehen. Die Regisseurin Nadine Labaki tritt im Film als die Anwältin des Jungen auf. Der Titel des Werks ist übrigens nicht dem biblischen Ort Kafarnaum geschuldet, sondern dem französischen Ausdruck für ein "großes Sammelsurium an Dingen". "Capharnaüm" wurde schon vor der Premiere von Sony gekauft, die sich für dieses Werk einen Oscar für den besten fremdsprachigen Film 2019 erhoffen.

Im letzten Teil dieses Spotlights wird von der Preisverleihung berichtet und von Terry Gilliams Abschlussfilm "The Man Who Killed Don Quixote", den der Regisseur schon vor einem Vierteljahrhundert begann

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Ein Film braucht ein Vierteljahrhundert, ein Familienporträt gewinnt die Goldene Palme und ein Festival muss in sich gehen

Terry Gilliams Abschlussfilm der 71. Filmfestspiele von Cannes, "The Man who Killed Don Quixote" war freudig erwartet worden, handelt es sich doch um ein Werk, dass seinen langen Weg zur Premiere vor einem Vierteljahrhundert begann und dessen erstes Bild mit dem Text beginnt: "25 years in the making ... and in the unmaking of....", worüber jeder lachen musste. Doch leider ist das Werk nicht mehr als ein abstruses Sammelsurium an Ideen, in welchem Adam Driver als erfolgreicher Filmemacher in Spanien einen großen Film dreht, dabei auf seinen Abschlussfilm von der Filmhochschule namens "The Man Who Killed Don Quixote" stößt und sich dann aufmacht, seine damaligen Schauspieler im Nachbardorf vom Drehgelände wiederzusehen. Der dortige Schuhmacher, sein damaliger Hauptdarsteller, glaubt wirklich Don Quixote zu sein und so findet sich der Filmemacher plötzlich auf einem Eselsrücken als Quixotes Sidekick Sancho Panza wieder. Es gibt eine Szene, in der er von einem Nebendarsteller zu hören bekommt: "Keep up with the Plot!" ("Verfolge die Handlung!") und er antwortet: "There is a plot?". Und dies trifft leider auch auf Terry Gilliams Film zu. Es wird ein bisschen die Filmindustrie kritisiert, nebenher über russische Oligarchen hergezogen, alles ist überzogen, dabei aber konfus und vieles wirkt zusammengewürfelt. Nur das Ende stimmt einen wieder versöhnlich, findet "The Man Who Killed Don Quixote" erstaunlicherweise doch zu einem passenden Schluss.

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Doch an wen gingen die Preise des Wettbewerbs? Würde es eine zweite Regisseurin nach Jane Campion zu einer Goldenen Palme im Wettbewerb schaffen? Die Gerüchteküchte brodelte und dann wurde doch alles anders. Der überaus sympathische japanische Filmemacher Kore-Eda Hirokazu gewann mit "Manbiki Kazoku" ("Shoplifters") den Hauptpreis der 71. Internationalen Filmfestspiele, die "Goldene Palme". Schon seit dem Jahr 2001 kommt der Japaner nach Cannes, als sein dritter Film "Distance" hier im Wettbewerb lief. Doch bisher war sein einziger Preis bei diesen Filmfestspielen der Jury-Preis für "Like Father, like Son" im Jahr 2013.

"Shoplifters" handelt von den Ladendieben Osamu und seinem Sohn, die ein vierjähriges Mädchen im der Kälte treffen und sich entscheiden, dieses mit nach Hause zu nehmen. Die Mutter daheim ist erst mal dagegen, noch einen weiteres Maul stopfen zu müssen, doch entscheidet sie sich um, als sie Zigarettenbrandmale auf den Armen des Mädchens sieht. Die sehr untypische Familie schreckt nicht vor Kleinkriminalität auch der Kinder zurück, alles ist etwas chaotisch und sogar der wilde Garten der Familie widersetzt sich der um sie herum herrschenden japanischen Ordnung. Kore-Eda Hirokazu definiert mit "Shoplifters" den Familienbegriff neu und schafft es, das Publikum besonders in der letzten halben Stunde völlig in seinen Bann zu ziehen. Der japanische Filmemacher gab in seiner Dankesrede zu, dass ihm gerade die Knie zittern. Bei jedem Besuch in Cannes fühle er Hoffnung dafür, dass auch Feinde durch das Medium Flim zueinander finden können. Blanchett erklärte nach der Preisvergabe den Journalisten, von denen viele erwartet hatten, dass die Goldene Palme dieses Jahr aufgrund der Stimmung nach Harvey Weinstein und #MeToo an eine Frau gehen würde, dass sie und der Rest der Jury sich geschworen hätten, politische Erwägungen aus der Auswahl für die Preise herauszuhalten, sondern die Filme als reines Kunstwerk zu sehen.

Am Ende gewann also keine Frau den Hauptpreis und auch der große afroamerikanische Beitrag zum Wettbewerb, Spike Lees "Blackkklansman", der in den Stunden vor der Preisvergabe in der Gerüchteküche des Festivals als sicherer Gewinner gegolten hatte, schaffte es nur bis zum zweiten Platz des Festivals, dem "Grand Prix". Lee sagte nach seinem Dank ans Team zum Publikum: "Ich sollte wissen, was in den USA gerade abgeht, aber ich weiß es nicht. Meine Vision der Welt? Dass wir alle Filme lieben!"

Der "Jury Prize" (sozusagen der Dritte Platz) ging an Nadine Labaki für "Capharnaüm" (siehe oben). Sie widmete den Preis ihren Schauspielern, die sich ihr mit ihrer jeweiligen Lebensgeschichte anvertrauten, sowie ihrem Land, dem Libanon. Trotz allem, was man am Libanon kritisieren könne, wie sie sagt, habe ihr Land die größte Anzahl an Flüchtlingen weltweit aufgenommen.

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Den "Preis für den besten Darsteller" erhielt Marcello Fonte für seine Darstellung im Werk "Dogman" von Matteo Garrone. Fonte spielt darin einen kleinen Hundefriseur, der sich dem örtlichen Alphatier sogar schon in seiner ganzen Körpersprache unterwirft.

Den "Preis für den besten Regisseur" bekam der polnische Filmemacher Pawel Pawlikowski für "Zimna Wojna" ("Cold War"), der darauf hinwies, dass es schon eine lange Zeit her ist, dass in Cannes ein polnischer Film einen Preis erhielt. "Wir brauchen gute Nachrichten aus Polen" setzt er hinzu. Er widmete seinen Preis dem vor einem Jahr gestorbenen polnischen Schriftsteller und Dramaturgen Janusz Głowacki, der alles verkörpere, was Pawlikowski anstrebt: Freundlichkeit und Courage. "Wir müssen in Polen kämpfen, um diesen Geist am Leben zu erhalten!" schloss der polnische Filmemacher seine Rede.

Den "Preis für das beste Drehbuch" erhielten zwei Wettbewerbsfilme zusammen: Jafar Panahis "Se Rokh" ("Three Faces") und Alice Rohrbachers "Lazzaro Felice" ("Happy as Lazzaro"). Schon zu Beginn der Preisverleihung hatte die Jury-Präsidentin Cate Blanchett noch einmal darauf hingewiesen, dass zwei Filmemacher (Panahi und Serebrennikov) nicht nach Cannes reisen durften, sondern in ihren Heimatländern Iran und Russland unter Hausarrest stehen. Die Dankesrede hielt daher Panahis Tochter und dankte an seiner statt dem Festival. Alice Rohrwacher freute sich ebenfalls riesig und dankte auf Italienisch sehr vielen Personen, woraufhin sie vom Moderator gebeten wurde, dies noch einmal auf Französisch zu wiederholen, denn man habe nichts verstanden. Im Pressevorführungssaal führte dies zu viel Schmunzeln, da wie schon die Eröffnung auch die Preisverleihung fast durchgehend auf Französisch stattfand. Cate Blanchett durfte immerhin die Preise auf Englisch verkünden.

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Um den "Preis für die beste Darstellerin" zu verkünden, betrat Asia Argento die Bühne und ein Raunen ging durchs Publikum. Sie trat ans Mikrofon und sprach direkt ins Publikum: "1997 wurde ich von Harvey Weinstein vergewaltigt. Hier in Cannes. Ich war 21 Jahre alt. Dieses Festival war sein Jagdrevier. Ich möchte eine Vorhersage treffen: Harvey Weinstein wird hier nie wieder willkommen sein. Er wird in Schande leben, ausgeschlossen von der Filmgemeinschaft, die ihn einst umarmte und seinen Taten deckte. Und sogar heute Abend sitzen zwischen euch die, die noch zur Rechenschaft gezogen werden müssen für ihren Umgang mit Frauen. Für ihr Verhalten, das nicht in die Filmindustrie gehört, das in keine Branche gehört und auch an keinen Arbeitsplatz. Ihr wisst, wer ihr seid", sagte sie und schaut im Publikum herum, "Aber, was noch wichtiger ist: Wir wissen, wer ihr seid! Und wir werden euch nicht mehr damit davonkommen lassen."

Dieser Moment war das Authentischste, was man in Cannes zu Weinstein und #MeToo hören konnte, und im Saal wurde daraufhin gejubelt, aber auch umhergeschaut. Doch die Show musste auch hiernach weitergehen und so lächelte Cate Blanchett und fuhr fort mit "Der "Preis für die beste Darstellerin geht an Samal Yeslyamova für den Film 'Ayka'." Dieses Werk des kasachischen Regisseurs Sergey Dvortsevoy dreht sich um eine Mutter, die gerade ein Kind zur Welt gebracht hat, aber keinen Job und keine Wohnung, dafür aber eine Menge Schulden besitzt. Im Film hat sie das Baby in der Klinik zurückgelassen, kämpft auf den Straßen Moskaus mit postnatalen Blutungen, vom Milcheinschuss entzündeten Brüsten und versucht alles, um einen Job zu bekommen. Yeslyamova ist so aufgeregt, dass sie auf der Bühne kaum ein Wort herausbringt. Sie stottert schließlich schüchtern zu Boden blickend: "Dies ist ein unvergesslicher Moment in der Geschichte meines Lebens. Danke."

Auch die Jury wusste wie viele Kritiker anscheinend nicht so recht, was sie mit Jean-Luc Godards Film "Le Livre D'Image" ("Image Book") anstellen sollte, den man kaum anhand üblicher Kategorien einordnen kann, und bat die Festivalleitung daher darum, dass sie eine "Special Palme D'Or", also eine Sonder-Palme, vergeben dürfen an die französische Filmregie-Legende. Trotz neun Nominierungen im Wettbewerb im Laufe der Jahre war es Godard nämlich nie gelungen, eine Goldene Palme zu bekommen. Nun gab es also eine ganz spezielle Goldene Palme für sein Werk. War die Pressekonferenz schon absurd, als sich Journalisten für Fragen nacheinander über ein Handy beugen mussten, auf dem Godard per Facetime zu sehen war (er hatte es nicht für nötig befunden, nach Cannes zu kommen), so gab es auch hier einen skurrilen Moment, als Cate Blanchett für das offizielle Preisübergabefoto am Ende einfach den Preis vor einem riesigen Porträtfoto von Jean-Luc Godard in die Höhe reckte.

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Die "Goldene Kamera" für den besten ersten Film eines Regisseurs wurde an das Werk "Girl" des Belgiers Lukas Dhont vergeben, der in der Nebenreihe "Un Certain Regard" gezeigt wurde. "Girl" hatte zuvor schon die sektionsübergreifende "Queer Palm" erhalten und auch der Hauptdarsteller Victor Polster war bei "Un Certain Regard" mit dem geschlechtsneutralen Preis für die "Beste Darstellung" ausgezeichnet worden. Der 16-jährige Polster spielt eine 15-Jährige, die gerne Ballerina werden möchte, was sich aber als sehr schwierig erweist, weil sie als Junge geboren wurde. Viele hatten sich vor Ort gewünscht, dass "Girl" auch den Hauptpreis von "Un Certain Regard" gewinnt, doch ging dieser stattdessen an das ebenfalls hervorragende Werk "Gräns" (“Border”) des im Iran geborenen, aber in Dänemark lebenden Filmemachers Ali Abbasi. Es geht um eine schwedische Zollbeamtin, die Schmuggelwaren aufgrund ihrer besonderen Körpermerkmale besser erschnüffeln kann als alle um sie herum. "Border" liegt irgendwo zwischen Horror, skandinavischem Film Noir und Sozialdrama, viel mehr will man nicht sagen, um nicht zu viel vom Film zu verraten.


Die Frauen hatten es am Ende auch 2018 nicht leicht in Cannes. Die Quote an Regisseurinnen im Wettbewerb war wieder klein, wieder gewann ein Mann die Goldene Palme, der einzige große Protest war ein fotogener Auftritt von 82 Damen auf dem Roten Teppich und obwohl Harvey Weinstein nicht mehr hier ist, so klagte Asia Argento doch an, dass es auch genug andere hier gibt, deren Verhalten gegenüber Frauen nicht toleriert werden sollte. Jury-Mitglied Kristen Stewart protestierte übrigens auf ganz eigene Weise gegen den überaus strengen Dresscode des Festivals: Bei der Premiere von "Blackkklansman" zog sie ihre hohen Louboutins auf dem Roten Teppich spontan aus und rannte barfuß die 24 berühmtesten Stufen des Festivalpalastes hoch. Der Dresscode schreibt Frauen nämlich Schuhe mit Absätzen vor. Die "Absatz-Regelung" führte schon in der Vergangenheit zu absurden Szenen, wenn Damen im Abendkleid mit Flipflops zum Roten Teppich marschierten, diese kurz in die Handtasche warfen, um dann in "Killer Heels" den Teppich zu betreten und diese dann nach ihrem Verschwinden im Festivalpalast wieder gegen Flipflops einzutauschen. 

Und was war mit dem Glamour? Das Jahr der großen Auseinandersetzung mit Netflix erwies sich auch als das Jahr mit der geringsten Stardichte in Cannes. Vor allen Dingen waren es die großen Stars aus Hollywood, die man in diesem Jahr vermisste. Es war nur da, wessen Film hier gerade lief.  Für "Solo" war zum Beispiel Emilia Clarke ("Game of Thrones") hier und John Travolta für "Gotti", ansonsten suchten besonders die Life-Style-Reporter verzweifelt nach großen Namen, die jedem Leser bekannt sind. 


Der Festivalpräsident Thierry Frémaux hatte auf der ersten Pressekonferenz direkt vor dem Festivalstart schon angekündigt, dass es nächstes Jahr eine neue "Netflix-Episode" geben würde. Man kann nur hoffen, dass sich das Board der Filmfestspiele hier mit Netflix einigt, denn Netflix produziert  Filme, die in Cannes einen Platz bekommen sollten. Das würde auch wieder mehr Hollywood-Stars herbringen und den Glamourfaktor erhöhen. Der Wille, das französische Kino vor Netflix zu schützen, indem vom Board Sonderregeln extra wegen des Streamingdienstes eingeführt wurden, sollte nicht dazu führen, dass eine andere französische Institution wie die Internationalen Filmfestspiele von Cannes darunter leiden. Film ist Kino, aber Film ist eben auch mehr als Kino, Film ist auch der Glamour drumherum und auch das Erleben von großartigen Werken zuhause auf dem Monitor.

Netflix macht derweil ungerührt weiter sein Geschäft und kaufte in Cannes gleich die gesamten amerikanischen Rechte für "Lazzaro Felice" und "Girl". Damit gewinnen ein Film einer Regisseurin und ein Film über Transgender-Themen ein riesiges Publikum auch abseits von Programmkinos, und damit wahrscheinlich sogar mehr Zuschauer als der Gewinner der diesjährigen Goldenen Palme. Ob es einem gefällt oder nicht - so sieht vermutlich die Zukunft des Arthouse-Kinos aus. 


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