Die Welt hat ihren größten, besten und wichtigsten Filmkritiker verloren. Roger Ebert hat über Jahrzehnte den Blick von Millionen von Menschen auf die Filme, die sie sahen, beeinflusst. Und ich bin glücklich sagen zu können, dass ich einer von ihnen bin.
Roger Ebert wurde zu einer Präsenz in meinem Leben Mitte der 90er Jahre, als das Internet noch ein ziemlich exotischer Ort war und der neueste technologische Trend zur massenhaften Informationsvermittlung für Jedermann in Lexika auf CD-ROM bestand. Ich ließ mir damals von meinen Eltern zu Weihnachten eine amerikanische Filmlexikon-CD schenken, die neben dem US-Standardwerk „Leonard Maltin’s Movie Guide“ auch die gesammelten Rezensionen eines gewissen Roger Ebert enthielt, Filmkritiker bei der Tageszeitung Chicago Sun-Times. Ich begann Eberts Texte zu lesen. Und das Universum meiner Film-Wahrnehmung war nicht mehr dasselbe.
Kurz gesagt: Ich verdanke es Roger Ebert, dass aus meiner Teenie-Schwärmerei fürs Kino eine lebenslange Liebe wurde. Ich glaube nicht, dass ich heute hier sitzen und einen Nachruf für Filmszene.de schreiben würde, ich glaube nicht mal, dass es diese Website in dieser Form überhaupt geben würde, ohne Roger Ebert. Nicht nur, weil Ebert mich dazu inspirierte, meinen filmischen Horizont zu erweitern weit hinaus über das gängige, mainstreamige und tagesaktuelle Futter, das in den vorderen Videotheken-Regalen bereitstand. Sondern auch und vor allem, weil Ebert mir zeigte, dass es eine Filmkritik geben kann zwischen seelenlosen Zehn-Zeilen-Kurzzusammenfassungen und dem abgehobenen, verschwurbelten Feuilleton-Geblubber, in dem selbstverliebte Intellektuelle eigentlich nur noch für sich selbst schrieben und das überhaupt nichts mehr zu tun hatte mit dem magischen, emotionalen Erlebnis, das Kino sein kann.
Roger Ebert schrieb Filmkritiken, wie ich sie selbst gern schreiben wollte. Alles, was in den letzten 14 Jahren auf dieser Website hier passiert ist, ist letztlich aus dem Drang heraus entstanden, Roger Ebert nachzueifern. Und wenn es ab und an passiert, dass ein Leser auf einen unserer Texte mit Dankesworten reagiert, wie sehr ihn ein Film beeindruckt hat, den er ohne unsere begeisterte Empfehlung nie bemerkt und gesehen hätte, dann konnten wir diese Mission wenigstens ein Stück weit erfüllen.
Es ihm gleichzutun, ist ohnehin unmöglich. Selbst für die fleißigsten und profiliertesten Vertreter des Filmkritik-Metiers. Ebert war seit 46 Jahren der Chef-Filmkritiker der Sun-Times und besprach jedes Jahr über 200 Filme. Er war der erste Filmkritiker überhaupt, der für seine Arbeit mit dem Pullitzer-Preis ausgezeichnet wurde (im Jahr 1975). Er machte ernsthafte und leidenschaftlich debattierte Filmkritik auch im Fernsehen salonfähig, indem er die lebhaften Duelle, die er sich mit seinem Kollegen Gene Siskel vom Chicago Tribune lieferte, in ein TV-Format übertrug. „Siskel & Ebert at the Movies“ schrieb amerikanische Fernsehgeschichte und schuf mit der visuellen Bewertung von Filmen per „Daumen hoch, Daumen runter“ ein Markenzeichen, das sich bis in deutsche Fernsehzeitschriften fort trug.
Ebert führte die Sendung auch nach Gene Siskels viel zu frühem Tod im Jahr 1999 weiter, und als sie 2008 endgültig eingestellt wurde, rief der unermüdliche Ebert bald darauf mit „At the Movies“ eine neue Filmkritik-Sendung ins Leben – ein Projekt, das indes damit zu kämpfen hatte, dass sein prägendes Gesicht es nicht mehr mit seiner eigenen Stimme unterstützen konnte.
Anfang der 2000er Jahre war Ebert an Schild- und Speicheldrüsenkrebs erkrankt, und seine tückische Leidensgeschichte führte schließlich dazu, dass ihm 2006 der Unterkiefer und ein Teil der Zunge entfernt werden mussten (ein großartiges, ergreifendes Portrait über Ebert und wie die Krankheit sein Leben veränderte findet sich hier: http://www.esquire.com/features/roger-ebert-0310). Seitdem konnte Ebert keine feste Nahrung mehr zu sich nehmen, und er konnte auch nicht mehr sprechen. Doch was den Lebenswillen vieler anderer Menschen gebrochen hätte, führte bei Ebert nur zu noch höherer Produktivität. Was er jetzt nicht mehr sagen konnte, das schrieb er eben zusätzlich auch noch auf.
In den letzten Jahren, in denen das Jammern über den Niedergang des Print-Journalismus immer lauter wurde und immer mehr große US-Zeitungen ihre langjährigen, etablierten Filmkritiker entließen, war Ebert eine prägende optimistische Stimme, der in seinem Blog (ebenso wie seine gesamten Filmkritiken zu finden unter rogerebert.suntimes.com) immer wieder prophezeite, dass die Zukunft der Filmkritik längst begonnen habe und eben nicht im Print- sondern im Online-Bereich liege, angeführt von einer Armee unabhängiger, leidenschaftlicher Filmfanatiker mit ihren Websites und Blogs.
Eberts eigener Output nahm derweil schier unglaubliche Dimensionen an. Er schrieb so viel, dass man mit dem Lesen nicht mehr hinterher kam, publizierte neben seiner alltäglichen Arbeit als Rezensent der Sun-Times noch 17 Bücher, schrieb extensive Blog-Beiträge, führte Kolumnen, veranstaltete ein eigenes, jährliches Filmfestival und las nebenher anscheinend noch die komplette Arbeit aller maßgeblichen Kollegen und von zig aufstrebenden Online-Kritikern. Im letzten Jahr verfasste er 306 Filmrezensionen, so viele wie nie zuvor. Seine letzte, tagesaktuelle Rezension erschien eine Woche vor seinem Tod. Noch vor drei Tagen kündigte Ebert eine neue Kickstarter-Kampagne an, um die inzwischen abgesetzte TV-Show „At the Movies“ zu neuem Leben zu erwecken. Es gab absolut nichts, was diesen Mann davon abhalten konnte, weiter Filme zu sehen und darüber zu schreiben. Er frönte seiner größten Leidenschaft buchstäblich bis zu seinem letzten Tag.
Roger Ebert liebte das Kino in all seinen Facetten. Es gab für ihn keinen hochnäsigen Arthouse-Dünkel. Bester Beweis dafür ist wohl, dass der einzige realisierte Film, an dem er je selbst mitwirkte, eine Zusammenarbeit mit dem legendären B- und Busen-Filmer Russ Meyer war, für dessen „Beyond the Valley of the Dolls“ Ebert das Drehbuch schrieb. Er lebte seine Liebe zum Kino mit bedingungsloser Leidenschaft, und indem er sie so umfangreich und ausgiebig teilte, erweckte er dieselbe Liebe in uns. So ist es an diesem traurigen Tag ein kleiner Trost zu wissen, dass Roger Ebert seinen eigenen, bescheidenen Ansprüchen an ein erfülltes Leben gerecht wurde. Wie er in seiner Autobiographie schrieb:
“I believe that if, at the end, according to our abilities, we have done something to make others a little happier, and something to make ourselves a little happier, that is about the best we can do. To make others less happy is a crime. To make ourselves unhappy is where all crime starts. We must try to contribute joy to the world. That is true no matter what our problems, our health, our circumstances. We must try. I didn't always know this and am happy I lived long enough to find it out.”
Ich für meinen Teil kann sagen: Roger, du hast mich glücklicher gemacht, indem du mir die schönsten Ecken in der wundervollen Welt des Films gezeigt hast. Und dafür werde ich dir ewig dankbar sein.
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