Im Londoner Stadtteil Soho breitet sich zur Zeit ein Geheimtipp wie ein Lauffeuer aus: Irina Palm. Und auch der Sexshop-Besitzer Mikky (Miki Manojlovic) reibt sich die Hände. Die Männer stehen bei ihm im Club Schlange, um sich von der 'besten rechten Hand Londons' einen runterholen zu lassen. Nur Mikky weiß, dass sich hinter dem Pseudonym Irina Palm in Wirklichkeit die 50-jährige Maggie (Marianne Faithfull) verbirgt, die diesen zugegebenermaßen nicht ganz üblichen Job aus einer Not heraus annahm: Ihr Enkelsohn ist schwer krank. Eine passende Behandlung gibt es nur in Australien, Maggies Sohn und seine Frau können sich aber die kostspielige Überführung nicht leisten, und auch sonst sind die beiden unfähig einen ordentlichen Job an Land zu ziehen. Und so macht sich Oma Maggie auf die Suche und wird bei Mikky fündig.
Wer an dieser Stelle schon mit den Augen rollt, weil der Plot eine viel zu große Menge an Melodram enthält, dem kann man auch nicht wirklich widersprechen. Die schwere Krankheit des Enkelkindes als Plotmotor ist sicherlich weder aufregend noch neu. Keine Frage: Das Drama rund um "Irina Palm" steht auf einem ziemlich kitschigen Fundament. Doch ist der belgische Regisseur Sam Garbarski, der schon mit seinem Film "Der Tango der Rashevskis" einen kleinen Publikumserfolg verbuchen konnte, viel zu klug um seine Geschichte diesem konstruierten Anfang zu opfern. Was während der nun kommenden wunderbaren 103 Kinominuten passiert, lässt sich wohl nur mit dem Wort "märchenhaft" passend beschreiben.
Garbarski erzählt eine sehr traurige Geschichte einer Frau, die in ihrem Alter nochmal die Last einer ganzen Familie auf ihre schmalen Schultern nimmt. Eine Frau, die einen für sie sicherlich erniedrigenden Beruf annimmt, um dann etwas verwundert festzustellen, dass die Beschäftigung eine beträchtliche Lücke in ihrem bisherigen Leben füllt.
Maggie ist seit kurzem Witwe - was ihr auch den Titel "wichsende Witwe" einbringt. Ihr trister Alltag spielt sich meistens in einer Reihenhaussiedlung in einem Vorort von London ab. Hier kauft sie in dem viel zu kleinen Laden ihre Lebensmittel ein und spielt mit ihren versnobten Freundinnen Bridge. Als Mikky sie jedoch in seinem Club einstellt, richtet sich Maggie schnell ein und auch Mikky lässt sich schnell von ihrem Charisma beeindrucken. Wenn die beiden zu Beginn doch sehr unterschiedlichen Menschen aufeinander treffen, dann passiert etwas auf der Leinwand, was wohl das letzte Mal zwischen Bill Murray und Scarlett Johansson in Sophia Coppolas "Lost in Translation" geschah. Die langsame und fast schon verschämte Annäherung zweier, die eigentlich nicht zueinander passen, hat so viel Reiz und Charme, dass es eine wahre Freude ist.
Dass dies auch so funktioniert, ist den brillanten Darstellern zu verdanken. Marianne Faithfull ist eine Ausnahmeerscheinung. Ihr aufregender Lebenslauf bietet an sich schon genug Stoff für eine ganze Filmreihe. Die eigentliche Popikone der 60er Jahre tritt immer mal wieder als Schauspielerin in Erscheinung. Neulich war sie erst als österreichische Herrscherin Maria Theresa in Sofia Coppolas Kostümfilm "Marie Antoinette" zu sehen. Spielte Faithfull dort nur eine kleine Nebenrolle, gehört "Irina Palm" voll und ganz ihr.
Doch auch Marianne Faithfull könnte nicht brillieren, wenn ihr nicht ein passender männlicher Gegenpart entgegenstellt werden würde. Und der serbische Schauspieler Miki Manojlovic ist vielleicht sogar die wahre Entdeckung des Films. Seine ewige Gelassenheit, seine lakonisch-lässigen Bewegungen und sein tief trauriger Dackelblick machen ihn zu einem europäischen Pendant von Bill Murray.
Diese Personenkonstellation führt natürlich dazu, dass das erste Treffen von Mikky und Maggie jeden Zuschauer in seinen Bann ziehen und verzaubern sollte. Und wenn Mikky sehr gehässig fragt, ob Maggie denn überhaupt das Wort "Fuck" aussprechen könne, ist das im doppelten Sinne komisch, denn Marianne Faithfull war der erste Mensch, der dieses Wort in einem Kinofilm benutzt hat (damals, 1967, als Josie in Michael Winners "I'll Never Forget What's'isname").
Man muss diesen Film schon fast allein für die exorbitante Leistung von Marianne Faithfull lieben, und dafür, dass Sam Garbarski es schafft eine Frau zu zeigen, die an dieser Aufgabe nicht zerbricht, sondern zu neuer Blüte heranwächst. Wenn Maggie vor ihren spröden und verklemmten Freundinnen ihren Job nicht mehr verheimlichen kann, dann richtet sie sich in dieser Szene kerzengerade auf und sagt dann voller Stolz und Anmut: "Ich hole Männern einen runter. Ich bin Irina Palm!" An dieser Stelle möchte man spontan applaudieren.
Ja, man muss diesen Film auch dafür lieben, dass der Film nicht wieder eines von den im Kino so gängigen Zuhälter-Sind-Alles-Mafioso-Klischees bedient und Mikky auch in seinem beruflichen Umfeld gefühlvoll und vor allem aufmerksam zeigt. Wahrscheinlich sind Sexshop-Besitzer auch im wahren Leben sensibler, als man es auf den ersten Blick annimmt.
Auf der Berlinale war "Irina Palm" eine wahre Gnade für den staubtrockenen Wettbewerb und mutierte in atemberaubender Geschwindigkeit zum wahren Publikumsliebling. Man kann nur hoffen, dass jetzt auch der normale Kinogänger sich von Maggies Charme verzaubern lässt und dass dieses traumhafte Filmmärchen ein großes Publikum findet.
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