Am Ende darf Esmas Tochter Sara doch noch mit auf die Klassenfahrt. Und doch ist nichts mehr so wie früher. Esmas Geheimnis ist keines mehr. Und das eigentlich schon seit der ersten Filmminute an. Aber wir, also der Zuschauer, wissen nicht, was die Frauen in dieser Selbsthilfegruppe therapieren, mit der der Film öffnet. Erst später wird dies klar, und nur umso schmerzlicher. Esma (Mirjana Karanovic) ist eine alleinerziehende Mutter, die mit ihrer Tochter (Luna Mijovic) in Sarajevo wohnt und arbeitet. Sie ist eine starke Frau. Sie arbeitet hart und nimmt sich sogar einen heimlichen Nebenjob, als Sara ihr mit der bevorstehenden Klassenfahrt ständig in den Ohren hängt. In der Schule erfährt Sara, dass Kinder, deren Väter vom Militär als Kriegsveteranen anerkannt sind, sehr viel weniger für die Fahrt zahlen müssen. Glücklich über diesen Umstand, will sie von ihrer Mutter die Bescheinigung vom Amt holen lassen, schließlich ist die äußerst selbstbewusste Sara auf nichts stolzer im Leben als auf ihren angeblich im Krieg gefallenen Vater. Hier beginnt Esmas Lügengerüst auseinander zu fallen, und die bedrückende, tragische Wahrheit kommt langsam ans Licht.
Dieser kleine bosnische Film hätte es wohl kaum auf unsere
Leinwände geschafft, wenn er auf der diesjährigen Berlinale
nicht überraschend den Hauptpreis des Goldenen Bären gewonnen
hätte. Jedenfalls ist ihm somit ein gewisses mediales Echo
sicher. Und das ist auch gut so. Das Spielfilmdebüt der bosnischen
Regisseurin Jasmila Zbanic ist ein prächtig inszeniertes Nachkriegsdrama
geworden. Sie versucht, die dunklen Kapitel der Vergangenheit ihrer
Heimat aufzudecken, so schmerzlich das vielleicht auch ist, und
hat es geschafft, mit "Grbavica - Esmas Geheimnis" einen
anrührenden, stillen und wunderschönen Film zu drehen.
Dabei
nimmt sie Abstand von den lauten, chaotischen und temperamentvollen
Ausschweifungen eines Emir Kusturica. Im Vordergrund bleibt die
Geschichte. Und es ist die Geschichte von Esma. Was für eine
Wucht ist da die hierzulande völlig unbekannte bosnische Schauspielerin
Mirjana Karanovic. Voller Hingabe verkörpert sie eine der interessantesten
Frauenfiguren der aktuellen Filmsaison. Sie beschert dem Film großartige
Momente voller Zuversicht, Trauer und vor allem Hoffnung. Schlicht
und einfach grandios.
Es ist schwer, über den Einfluss des Films auf die aktuelle
politische Lage im ehemaligen Jugoslawien zu diskutieren, ohne dabei
Esmas titelgebendes Geheimnis zu verraten. Das allerdings wäre
genauso beleidigend für das klug strukturierte Drehbuch von
Zbanic, wie es damals auch für Paul Haggins' "Million
Dollar Baby"-Skript gewesen wäre, den dramatischen
Wendepunkt von Maggie Fitzgeralds Leben zu verraten. In ganz Bosnien
wurde der Film nur von einem Kino in Sarajevo ins Programm genommen,
und schon einen Tag danach (nachdem der Verleiher, die Kinobesitzer
und Zbanic selber böse Medienschelte kassierten) wieder entfernt.
Das
ist falsch, sehr falsch. Denn damit zeigt Bosnien, dass es noch
nicht bereit ist, mit seiner jüngeren Vergangenheit konfrontiert
zu werden. Von Bewältigungsversuchen fehlt da wohl noch jede
Spur. Umso wichtiger ist es, dass "Esmas Geheimnis" im
Ausland auf eine große Akzeptanz stößt.
Es ist gut möglich, dass die vom Drehbuch oft ein wenig erzwungene Ernsthaftigkeit rein dramaturgisch gesehen nicht immer ganz auf geht. Doch Esmas Vergangenheit ist nicht das einzig Bemerkenswerte an diesem Film. Er ist außerdem ein subtiles Meisterwerk der Bildkomposition geworden. Oft reichen der Regisseurin einfache Bilder (wie wenn Esma mit ihren Einkaufstüten an zerschossenen Häuserfassaden entlang geht) um zu zeigen, dass die Folgen des brutalen Krieges noch immer tief in der Gesellschaft verwurzelt sind und an ihr nagen.
Vielleicht kommt "Esmas Geheimnis" etwas zu früh für die Menschen auf dem Balkan. Vielleicht sind sie noch nicht bereit, sich mit den dunklen Schatten ihrer jungen Vergangenheit auseinander zu setzen, also der Wahrheit ins Auge zu sehen. Aber wenn sie soweit sind, wird "Esmas Geheimnis" schon auf sie warten.
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