Lars von Trier ist schon ein cleveres Kerlchen. Während sich beispielsweise sein langjähriger Wegbegleiter Udo Kier bei der Produktion seines ersten Spielfilms derzeit noch strikt an die Regeln des ‚Dogma 95‘-Reinheitsgebotes hält, macht der Meister selbst einfach genau da weiter, wo er vor „Idioten“ - seinem eigenen Film, der sich das damals noch publicityträchtige Dogma-Zertifikat an die Brust heften durfte - aufgehört hatte. Nämlich mit der Passionsgeschichte einer jungen Frau, die sich durch eine fast schon übermenschliche Opferbereitschaft auszeichnet.
Eine amerikanische Kleinstadt in den frühen sechziger Jahren. Die tschechische Immigrantin Selma Jezkova lebt mit ihrem Sohn Gene beim befreundeten Polizisten Bill und dessen Frau Linda zur Untermiete. Sie arbeitet in einer metallverarbeitenden Fabrik und spart jeden Cent, um Gene eine Augenoperation bezahlen zu können. Mutter und Sohn leiden nämlich beide an einer erblich bedingten Krankheit, die über kurz oder lang zur völligen Erblindung führt. Selmas Sehkraft ist schon sehr stark beeinträchtigt, doch sie hofft, Gene dieses Schicksal ersparen zu können und hat bereits über 2000 Dollar zur Seite geschafft. Ihren tristen Arbeitsalltag versüßt sich die Musical-begeisterte junge Frau, indem sie sich in Tagträume flüchtet, in denen die stampfenden Rhythmen der Maschinen die Grundlage für ausgedehnte Tanz- und Gesangsnummern bieten. Doch die Realität, in die sie früher oder später zurückkehren muß, meint es nicht gut mit ihr: Sie verliert nicht nur aufgrund ihrer Sehbehinderung den Job, sondern muß auch feststellen, daß ihr von finanziellen Nöten geplagter Vermieter ihre gesamten Ersparnisse gestohlen hat. Da weder Bill das Geld zurückgeben will, noch Selma bereit ist, ihr einziges Ziel aufzugeben, kommt es zur Katastrophe...
Auf den ersten Blick fällt es leicht, „Dancer in the Dark“ einfach als „Breaking the Waves“ mit Musical-Einlagen zu beschreiben, denn die Parallelen zwischen beiden Filmen sind zahlreich und enden keineswegs bei der überlangen Laufzeit und dem Gewinn einer Auszeichnung in Cannes (1996 gab's den großen Preis der Jury, in diesem Jahr sogar die Goldene Palme). Besonders die Hauptfiguren sind sehr ähnlich angelegt: Sowohl Bess (gespielt von der phänomenalen Emily Watson) als auch Selma (gespielt von der einzigartigen Björk) sind kränkelnde aber herzensgute Frauen, die trotz ihrer eher unscheinbaren Erscheinung und ihrer bescheidenen Lebensumstände wie Engel wirken, die durch die Hölle einer ihnen feindlich gesonnenen Umgebung gehen müssen, um einer geliebten Person helfen zu können. Daß beide Filme trotz einer derartigen Grundidee nicht einfach nur kitschig und pathetisch daherkommen, liegt nun wiederum an der filmischen Umsetzung, die man am ehesten als ‚Dogma-Light‘ bezeichnen könnte. Soll heißen: Auch bei „Dancer in the Dark“ dominiert eine unruhige Handkamera, die auch gerne mal ganz nahe an die Figuren rangeht, um jede kleinste Regung in den Gesichtern festzuhalten. Möglicherweise ist gerade dieser Amateurvideo-Look als wohl extremstes Gegenstück zur klassischen Hollywood-Ästhetik die derzeit effektivste Möglichkeit, große Gefühle zu vermitteln, ohne dabei hemmungslos manipulativ, berechnend und unaufrichtig zu wirken.
Für die deutlich flotter geschnittenen Musical-Einlagen mit Tanz und Gesang wurde die Handkamera dann zwar zur Seite gelegt, dennoch wirken auch diese Sequenzen erfrischend innovativ, da sie mit dem, was man aus den typischen Vertretern dieses Genres kennt, nur noch recht wenig zu tun haben. Dies fängt an bei den Songs, die auf die sonst angestrebte größtmögliche Eingängigkeit verzichten und eher auf diese ganz Björk-spezifische Art bei aller Schönheit stets leicht sperrig wirken. Der Emotionalität dieser Gesangseinlagen tut dies jedoch keinen Abbruch, schon allein die bewegenden Texte bewahren die gerade in diesem Kontext zunächst sehr ungewöhnlich und mutig erscheinenden Musik-Szenen vor jeglicher unfreiwilligen Komik. Da auch in diesen Sequenzen keine genretypische Hochglanz-Ästhetik zu vermelden ist, ergibt sich vielmehr ein faszinierender Kontrast zwischen Form und Inhalt, der kurioserweise durchaus einen Vergleich mit dem letzten erfolgreichen Kino-Musical zuläßt: In „South Park - Bigger, Longer & Uncut“ entstand ein Teil der Komik schließlich auch durch das Spannungsverhältnis, das zwischen den aufwendigen Arrangements der Songs und der gewohnt einfachen Animationstechnik sowie den wenig jugendfreien Texten bestand. Bei „Dancer in the Dark“ gibt es hingegen kaum was zu lachen, aber hier basiert die Wirkung der Musik-Szenen ebenfalls auf dem Gegensatz vom mitleiderregenden Schicksal der Protagonistin und ihrer Begeisterung für die heile Welt des klassischen Hollywood-Musicals.
Natürlich wäre dies alles nur die Hälfte wert ohne eine Hauptdarstellerin, die Selmas Naivität und Güte ebenso überzeugend darstellen kann wie ihr Potential für leidenschaftliche Eruptionen und ihre sture Kompromißlosigkeit. Mit Björk, die ja bereits beim Videoclip zu ihrem Song „It‘s Oh So Quiet“ ein wenig Musicalerfahrung sammeln konnte, dürfte Lars von Trier seine Idealbesetzung gefunden haben. Wie schon Emily Watson in „Breaking the Waves“ geht die isländische Sängerin, die ursprünglich nur die Musik zum Film beisteuern wollte und schließlich ebenfalls in Cannes ausgezeichnet wurde, voll in ihrer Rolle auf. Man reagiert als Zuschauer regelrecht bestürzt, wenn man mitansehen muß, wie Selma versucht, sich ihre rapide schwindende Sehkraft nicht anmerken zu lassen, und spätestens nach der nur schwer erträglichen Tötungsszene in der Mitte des Films wird man die während der Dreharbeiten durch die Presse gegangenen Nervenzusammenbrüche der Hauptdarstellerin am Set nur noch schwer als Promo-Gag abtun können, vom unglaublich intensiven Schluß ganz zu schweigen. „Dancer in the Dark“ bietet auf verschiedensten Ebenen mit Sicherheit Stoff für kontroverse Diskussionen, seiner emotionalen Wucht dürften sich jedoch nur die wenigsten entziehen können.
Neuen Kommentar hinzufügen