Stürmer und Dränger

von Rainer Leurs / 6. Juli 2009

VORSICHT! SPOILERWARNUNG!

Der folgende Text enthält Details über die Handlung von "Der Sturm".
Wer diesen Film noch nicht gesehen hat und sich nichts darüber verraten
lassen möchte, sollte sich in sein Schlafzimmer verkriechen,
das Licht ausschalten und nie wieder eine Zeitung in die Hand nehmen.   



16.05.2001 - Am Tage meines Todes, da werde ich ihn zu mir bitten. An mein muffiges Lager soll er kommen, ganz nah an mein fahles Gesicht, und dann werde ich ihm meine letzten Worte einhauchen. "Wie konntest Du mir das antun," werde ich grunzen, "damals, an jenem Sommerabend im Biergarten..."
Es sind diese Momente, an die man sich ewig erinnert. Schätze ich. Damals im Biergarten, unter traurigen Eichen, das war einer davon. Als ein Freund mir alle Details eines Films verriet, auf den ich Monate gewartet hatte. Als er mich schließlich gar in Kenntnis darüber setzte, daß die Hauptdarstellerin am Ende von einem Laster plattgefahren wird.
So war das. Damals, im Biergarten.

Nun, ich habe besagten Film bis heute nicht gesehen - und nach dem, was man hört, habe ich auch nicht viel verpaßt - aber was damals passierte, im Biergarten unter Eichen, war der klassische "Spoiler" und wird mich als Angstvision bis an mein Lebensende begleiten. Wie jeden anderen, der nichts großartigeres kennt, als sich in einem stockdunklen Saal mit Popcorn in der Hand eine gute Geschichte erzählen zu lassen, für die er vorher 15 Mark hingelegt hat.

Ärgerlich ist es, wenn in einer Filmkritik ein paar Details zu viel verraten werden, oder man zwischen den Zeilen den Verlauf der Handlung erahnen kann. Zum Glück sind die meisten Rezensenten eigentlich recht klar im Schädel und achten darauf, nichts vorwegzunehmen.
Eigentlich. Bisher. Aber dann kam "Der Sturm", und mit "Dem Sturm" wurde alles anders.

"EINE BESONDERE BITTE AN DIE KOLLEGEN VON DER PRESSE," heißt es im Begleitheft dieses Films bedeutungsschwanger, "Warner Bros. und die Filmemacher danken für Ihre Mitarbeit: Bitte verraten Sie Ihren Lesern, Zuschauern und Zuhörern nicht das Ende der Geschichte!" - Merkwürdig, oder? Liegt das nicht auf der Hand? War das nicht schon immer so? Wer verrät denn das Ende eines Films? Ist diese Bitte nicht so eigenartig, als würde man einem Bäcker sagen, er soll auch morgen nicht in den Brötchenteig pupsen?
Man kann nur über die Folgen dieser abnormen Bitte mutmaßen. Vielleicht ergab "minus" mal "minus" ja "plus", vielleicht war es auch nur ein kollektives Aufbegehren der Presse gegen diese Form der Entmündigung.
Wie dem auch sei. Die CINEMA, omnipräsente Institution und Göttin des Kinojournalismus, ließ mit einem Feature über den Blockbuster mit Clooney und Wahlberg nicht lange auf sich warten. Gewohnt souverän werden die Produktionsnotizen aus dem Presseheft abgefeiert, und ganzseitige Screenshots machen Appetit auf mehr. Und natürlich darf der Hinweis auf die "Wahre Geschichte" nicht fehlen, auf der die Handlung beruht. Von der Nußschale "Andrea Gail", die vom krassesten Sturm aller Zeiten angepustet wurde. Logo. Aber dann, Peng! "Der Oscar-Preisträger sollte Billy Tyne darstellen, jenen Hochseekapitän, der am 29.Oktober 1991 mit dem Fischtrawler Andrea Gail vor Amerikas Ostküste in einen Jahrhundertsturm geriet und dabei Schiffbruch erlitt. Tyne und seine fünfköpfige Besatzung ertranken." Leckofanni! Derart gut informiert wird die Spannung den Leser im Kinosaal förmlich aus dem Sessel reißen.
Ist aber auch klar, oder? Wenn die Handlung auf einer wahren Geschichte beruht, dann darf man auch alles verraten, ganz egal, ob man hierzulande jemals von einem Schiff (geschweige denn von einer Frau) namens "Andrea Gail" gehört hat.

Ein letzter Hoffnungsschimmer bleibt allerdings: Vielleicht haben die Zahnräder Hollywoods die Geschichte ja ein bißchen modifiziert - wer weiß, ob das Ende immer noch den Tatsachen entspricht. Auch hier erweist sich die CINEMA jedoch als hilfreich. Man will ja niemanden dumm sterben lassen, daher die Bemerkung "..., ungeachtet der Tatsache, daß die Geschichte kein Happy-End hat." WOW! Klasse! Könnt ihr mir bitte noch verraten, welches Gesicht George Clooney beim Ersaufen macht?
Können sie nicht. An dieser Stelle wurde es vielleicht selbst dem Cinema-Schreiber unheimlich, weswegen er auch kurzerhand auf die Nennung seines Namens verzichtete. Und sogar eine wirkliche Rezension des Streifens haben die Jungs von "Europas größter Filmzeitschrift" geschlabbert - vielleicht in der Hoffnung, der Schnitzer würde dann nicht weiter auffallen. Was für Weichkekse. Wenn schon, denn schon.

Aber wir als "the public" mit dem gewissen "right to know" brauchten ja nur zu warten, bis sich die Tagespresse auf den Effektknaller von Wolfgang Petersen stürzte. Dann blieben eigentlich wirklich keine Fragen mehr offen, die Wolken lichteten sich und machten den Blick frei auf jedes beschissene Detail eines großartigen Films. Den brauchte man sich danach wirklich kaum noch ansehen.

Den Vogel schoß in dieser Hinsicht die "Süddeutsche Zeitung" ab, Deutschlands großes linksliberales, quasi-intellektuelles Tagesblatt. H.G. Pflaum, das Fallobst der Feuilletonistenzunft, spuckte kräftig in die Hände und lieferte eine journalistisch saubere Review von epischer Breite. Den Kollegen immer einen Schritt voraus, dürfen natürlich die saftigen Szenen aus der zweiten Hälfte des Films nicht fehlen, schließlich muß die Öffentlichkeit informiert sein: "Wenn Murph über Bord geht, ist es sein Feind Sully, der als erster über die Reling hechtet, um den Kollegen zu retten; wozu sonst hätte der vorausgegangene Kleinkrieg der beiden dienen können?", prahlt Pflaum mit seiner überaus genialen Technik der Filmanalyse. "Petersen lässt ein Containerschiff im Sturm taumeln, bis die Fracht über Bord geht wie Zündholzschachteln; er führt ein Segler-Trio ein, das mit einer kleinen Yacht in Seenot gerät. Die heroischen Parajumpers im Helikopter der Air Force bergen sie in einer spektakulären Aktion, bevor sie selbst abstürzen und von den Helden der Küstenwache aus den tobenden Fluten gerettet werden," liest man fassungslos, während einem das Frühstücksbrötchen ob solcher Freizügigkeit in den Schoß fällt.

Doch damit nicht genug!! Pflaum ist mit seiner schonungslosen Abrechnung noch lange nicht am Ende, während er schon längst aus den Augen verliert, daß er nicht unbedingt den ganzen Film nacherzählen sollte. "Bis zum Hals im Wasser, eingeschlossen in der Brücke des kieloben sinkenden Schiffs, betreiben die letzten beiden Lebenden gepflegte Konversation über den Sinn ihres Unternehmens," wird hier über die offensichtlich groben Schwächen im Dialog gelästert. Man merkt es schon, unser engagierter Schreiberling der "Süddeutschen" beginnt, sich zu vergessen. Gleiches galt für tausende Leser, in denen mit jeder Zeile das Bedürfnis gewachsen sein dürfte, hinter dem Zeitungsboten herzurennen und ihm das Blatt mitsamt Filmkritik an den Hinterkopf zu schmeißen.

Doch einmal heißgelaufen, gibt es für H.G. Pflaum kein Halten mehr. "Eine grandiose Einstellung wird man wohl dennoch so schnell nicht vergessen, weil sich in ihr hinter all dem angestrengten physischen Aufwand endlich so etwas wie eine metaphysische Dimension zu öffnen scheint: Da treibt am Ende Bobby, klein wie eine Haselnuss, zwischen haushohen Wellen, und es ist, als hätte sich Edgar Allen Poes apokalyptischer Strudel des Malstroms aufgetan, um den verlorenen Menschen zu verschlingen," entlockt er dem Petersen-Stoff todesmutig seine philosophische Komponente und liefert brillanten Mumpitz aus der Sicht seines exponierten Redakteurs-Sessels.

Am Frühstückstisch fühlt man sich in solchen Momenten ein bißchen wie der arme Bobby. Zwischen mietshausgroßen Wellen, verloren im Orkan. Machtlos. Nach Luft schnappend. Der Zeitungsbote ist längst drei Straßenzüge weiter. Keine Chance, ihn mit dem "apokalyptischen Strudel des Malstroms" noch am Hinterkopf oder sonstwo zu treffen.

Am Tage meines Todes, da werde ich ihn zu mir bitten. Herr Pflaum, werde ich sagen, Herr Pflaum... Vielleicht leide ich dann an einer ansteckenden Krankheit und stecke ihn damit an.


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